Schlachten waren stets blutig, aber bei Landkämpfen blieb stets mehr zum Wegräumen über. Selten kümmerten sich die Sieger im Weltraum um herumfliegenden Schrott, sondern überließen diese Arbeit den Schmugglern und Wertstoffsammlern. Und niemand fragte, was mit den Leichen geschah.
Auf dem Land dagegen plünderten die Sieger. So auch jetzt. Nantwin beanspruchte einen schönen Bogen aus irgendeinem exotischen Holz für sich, den er sicherlich nie spannen würde, sowie ein Paar fester, guter Stiefel und das, was er an Münzen fand. Er überlegte eben, ob er auch einen schönen Mantel aus dickem Stoff an sich nehmen sollte, als sich hinter ihm jemand räusperte.
„Verzeiht mir, General.“ Er verneigte sich und fuhr dann fort: „Einer der Gefangenen sagt, dass Euch sein Name zusteht.“
„Und wer würde so etwas freiwillig sagen?“, entgegnete Nantwin mürrisch. Freilich lag es nicht an dem Mann, sondern an der Wunde, die ihn schmerzte.
Der Soldat schwieg.
„Traut nie dem, was ein Gegner sagt. Selbst wenn Ihr Euch in Sicherheit wähnt.“
Dennoch ging er mit ihm, auch wenn es nur darum ging, diesen Narren zu belehren und der Verpflichtung nachzukommen, sich über eine gute Bewachung und Verpflegung der Gefangenen zu vergewissern.
Die Wiese, auf dem man die Gefangenen versammelt hatte, war gut bewacht. Elektrisch geladene Lichtschranken verhinderten, dass sie flohen und einige Soldaten schauten regelmäßig nach dem Rechten.
Ein Offizier entdeckte sie, eilte auf sie zu und bedeutete dem Soldaten wegzutreten.
Auch er verneigte sich.
„Verzeiht mir, General, doch diese Angelegenheit erschien mir wichtig, deshalb ließ ich Euch rufen.“
„In Ordnung“, entgegnete Nantwin, während sie zu den Lichtschranken gingen. Ihm war Übereifer stets lieber als Faulheit. „Berichtet mir erst über die Gefangenen.“
Der junge Mann nickte und ließ Tabellen als Hologramme in der Luft erscheinen, die er rasch erklärte: „ Wir haben 739 Sorastug gefangen genommen, davon sind 42 Piloten, 589 Soldaten, 15 Offiziere, 30 sonstiges Flugpersonal und 56 gehören dem Sanitätsdienst an. Zusätzlich gibt es eine kleinere Gruppe von Rahosi: 76 Mann. Ihre Aufgaben und Positionen konnten wir bisher noch nicht herausfiltern, doch scheinen viele verantwortlich für die Navigation zu sein.“
„Wie sieht es mit Verletzten aus?“ Der Offizier ließ eine neue Tabelle erscheinen und deutete darauf. Nantwin bedeutete ihm zu schweigen und studierte sie selbst.
„Sobald unsere eigenen Verwundeten versorgt sind, sollen sich die Sanitäter um die Gefangenen kümmern.“ Die Soratsug waren häufig bereit, selbst einfache Soldaten auszutauschen, weshalb es unnötig war, Leben nicht zu schützen.
„Jetzt führt mich zu dem Mann, von dem Ihr gesprochen hat“, befahl Nantwin, als sie an den Überresten eines Mannes vorbeikamen, der versucht hatte, die Lichtschranke gewaltsam zu überwinden.
Scheinbar ziellos ging der Offizier am Rand des Feldes entlang. „Die sehen alle gleich aus“, entschuldigte er sich. Aber schließlich deutete er auf einen Rahosi, der umgeben von anderen Mitgliedern seines Volkes in einer Ecke lag.
„Wartet hier.“ Der Befehl war ausdrücklich gewesen, dennoch protestierte er: „Seid Ihr sicher, dass…“ Nach einem vernichtenden Blick verstummte der Mann. Nantwin hob seine rechte Hand nahe an die Lichtschranke, damit sein Computerchip vom Sicherheitssystem erkannt wurde und er sicher hineintreten konnte.
Die Rahosi, zu denen er trat, bemerkten ihn. Schweigend, ohne die geringste Regung traten sie von dem Liegenden zurück und gingen davon. War dies ihre Art Abschied zu nehmen? Schweigend, weil sie fürchteten, sonst etwas über ihre Gefühle zu verraten? Aber schon bald war dieser Gedanke fort, verwischt unter dem Anblick des Augenblicks.
„Layiel“, flüsterte er und blieb stehen, vergaß, dass sein Gegenüber nie so wirklich so geheißen hatte.
„Leser“, verbesserte er sich.
Sechs Jahre. Eine verdammt lange Zeit, wie ihm jetzt auffiel.
Er kniete zu Boden und sah dem Rahosi ins Gesicht. Ein Lächeln, von dem Nantwin nicht einschätzen konnte, ob es von Schmerz oder Freude herrührte, zeigte sich auf seinem Gesicht.
„Dass wir uns hier wieder sehen müssen…“ Er brach ab und verzog das Gesicht.
Sein Gegenüber schwieg.
„Du bist zum General ernannt worden“, bemerkte Layiel und die Ruhe und Gleichmäßigkeit, mit welcher er das sagte, beruhigte Nantwin.
„Richtig“, bestätigte er, „Nach der Schlacht über Rataya.“
„Oh“, meinte der Liegende, „Ich habe von diesem Gemetzel gehört. So viele Tote.“
„Auf beiden Seiten“, fügte der General leise hinzu, aber sein Gesprächspartner schien den Einwand nicht zu bemerken.
„Das ist doch Irrsinn“, stöhnte er soeben, „Als Ihr mich damals verschont habt, glaubte ich, dass die Welt sich geändert habe. Doch seht uns an. Noch immer kämpfen wir in einem Krieg, dessen Sinn uns niemand erklären kann, sterben für Befehlshaber, die wir noch nie gesehen haben und verlassen unsere Heimat für Gewinn, der uns doch nie die verlorene Zeit zurückgeben kann.“
„Wenn Ihr Euch noch so gewählt ausdrücken könnt“, meinte Nantwin und konnte nicht verhindern, dass sich ein Lächeln auf sein Gesicht stahl, „kann es Euch gar nicht so schlecht gehen.“ Es schien, als ob sie ihr Gespräch nur für eine kurze Pause unterbrochen hatten und nicht sechs Jahre dazwischen lagen, so selbstverständlich sprachen und gingen sie miteinander um.
„Seit Euch da mal nicht so sicher“, knurrte der Rahosi. Erschreckt bemerkte Nantwin, wie blass sein Gesicht war und wie viel Blut seinen Umhang durchtränkte.
„Benötigt Ihr einen Heiler?“, fragte er, ohne darüber nachzudenken, was seine Untergebenen davon halten würden.
„Nein“, entgegnete Layiel und schloss für einen Moment die Augen, bevor er sie wieder öffnete und Nantwin direkt ins Gesicht sah. „Nur einen Gefallen.“
Das Lächeln schwand aus dem Gesicht des Generals. Gefallen, die Verwundete äußerten, waren selten ein gutes Omen.
Dennoch nickte er, auch wenn er nicht wusste warum. Eigentlich sollte Layiel nicht mehr als ein Gegner für ihn sein, dessen Gefangennahme den Schmach, dass er Nantwin einst gerettet hatte, von ihm nahm. Aber zugleich empfand er Mitgefühl für den Sterbenden und Akzeptanz für die Persönlichkeit, die er besaß.
„Ich kann mein Buch nicht mehr halten“, erklärte er, „Könnt Ihr es auf der letzten Seite aufschlagen und mir das letzte Wort vorlesen?“ Obwohl es wie eine Bitte formuliert war, trug er den Ton eines Befehls. Seltsamerweise machte es Nantwin, der sich sonst so dagegen sträubte, nichts aus. Er hob das Buch aus dem Schlamm auf und wollte es soeben aufschlagen, als ihm etwas einfiel.
„Aber sagtet Ihr nicht, dass wenn die letzte Seite aufgeschlagen wird, Euer Leben endet?“, vergewissert er sich.
„Häufig ist es so“, erklärte Layiel ernst, „Wenn das Wissen zu groß ist, als dass wir es verkraften könnten. Aber manchmal birgt die Erkenntnis auch solche Kraft, dass weitere Seiten des Buches entstehen und der Leser weiterlebt.“
„In Ordnung“, stimmte Nantwin zu. Wenn Layiel bereit war, das Risiko einzugehen, sollte es ihm gleich sein. Sollte. Aber so war es nicht.
Er schlug das Buch auf und blätterte bis zur vorletzten Seite. Mit einem weiteren Blick vergewisserte er sich des Einverständnisses von Layiel, dann blätterte er auf die letzte Seite. Nichts veränderte sich. Kein überirdisches Strahlen, kein krankhaftes Zucken. Aber vermutlich, dachte er, als er das Lächeln des Verwundeten bemerkte, machte das auch nichts. Wirkung hatte es bereits dadurch, dass es Leute gab, die daran glaubten.
Sein Blick tastete sich nach unten, als sich Layiels Hand auf seinen Arm legte. Sein Griff wäre fest gewesen, wenn seine Hand nicht so zittern würde.
Der Rahosi holte Luft.
„Eins noch. Wenn Ihr den Namen gelesen habt, tötet mich und erobert den Namen zurück, den ich einem Offizier namens Layiel gestohlen habe.“ Die letzten Worte murmelte er nur noch. „Auch wenn dieser Glaube absolut hirnrissig ist.“
Nantwin zögerte.
„Worauf wartet Ihr? Dreizehn Jahre habt Ihr mich gejagt, damit die Seele Layiels Frieden findet und mich mit seinem Namen benannt, weil das eure Tradition verlangt. Tut es.“
Der General nickte zog seinen Dolch aus hojaskonischen Stahl und legte ihn neben das Buch auf seinem Schoß.
Er nahm das Buch wieder hoch, um weiter zu lesen, da räusperte sich Layiel erneut.
„Sollten wir nicht einmal anfangen, uns zu duzen?“, fragte er überraschend, „Es käme mir angesichts der Situation angemessen vor.“
„Natürlich“, entgegnete Nantwin nach einer kurzen Pause. Warum war seine Stimme nur so belegt?
„Lasst es uns hinter uns bringen, Leser“, forderte er schließlich und hob das Buch erneut hoch.
Dieses Mal kam keine Unterbrechung.
Seine Augen huschten über die rostrote Schrift, die sich unregelmäßig auf dem dicken Papier abzeichneten. Da. Erneut blickte er zu dem Rahosi, dessen Augen hinter den langen, hochgebogenen Wimpern geschlossen waren. Sein Brustkorb hob sich jedoch weiterhin regelmäßig.
Als Nantwin nun den wahren Namen Lesers las, den dieser noch nicht kannte, zitterten seine Stimme und die Hände, die den Dolch hielten, mit dem er gleich einen Namen zurückerobern wollte.
Erneut las er die Silben, als könne er nicht verstehen, was dort stünde.
Endlich sprach er ihn aus:„Layiel.“
Der Dolch fiel zu Boden.
Ein Lächeln.
Stille.
Ein Wort, das er dieses Mal mit Überzeugung aussprach.
Hayachar.
Freund.