Stell dir vor, du existiert länger als irgendetwas.
Stell dir vor, du lebst in vollständiger Einsamkeit und es wird sich nie etwas daran ändern.
Stell dir vor, du wirst am meisten gefürchtet.
Und nun stell dir vor, du entscheidest über Leben und Sterben.
Herzlich Willkommen in meinem Dasein, denn ich bin der Tod!
Das ist der Moment, indem ich mit meinem wallenden dunklen Gewand durch eine schwarze Wolke trete und gebieterisch meine Sense schwinge.
Leider muss ich diese Illusion zerstören und zwar JETZT. Denn ich bin weder groß noch furchteinflössend. Ich deute nicht mit einem knöchernen Finger umher und schon gar laufe ich nicht mit einer Sense in der Hand herum.
Mein Aussehen ist nicht genau definierbar. Warum fragst du dich vielleicht. Dafür gibt es eine ganz einfache Erklärung.
Kommt man in den Genuss eines Treffens mit mir, erscheine ich als jemand, der dir die Angst nimmt. Wenn du also rosafarbene Plüschhäschen magst, sitze ich als sprechendes Plüschhäschen vor dir. Aber hey, ich bin umgänglich und versuche dir alles zu erklären.
Ab und an lasse ich mich sogar auf einen Deal um dein Leben ein, abhängig von unserem Gespräch und deiner Überzeugungskraft.
Ich sehe das ganze als eine Berufung. Etwas das mir in die Wiege gelegt wurde. Aber ich muss gestehen, es macht nicht immer Spaß. Wenn ich den Weg meiner Karriere zurückblicke, gab es Momente, die selbst mir nachgingen. Teilweise bis heute noch.
Manchmal möchte man nicht die letzte Instanz sein, die solche Entscheidungen trifft. Aber irgendjemand muss das schließlich machen, oder?
Ich spürte das Kribbeln in meinen Fingern und wusste, dass ich irgendwo meine Arbeit verrichten musste. Also schloss ich meine Augen und ließ mich fallen.
Ich öffnete die Augen in einem Rettungswagen. Vor mir lag ein junges Mädchen auf der Trage, um sie herum wild agierende Sanitäter. Sie kämpften um das Leben dieses Mädchens.
„3er Spatel und einen 6,5er Tubus!“, rief der Notarzt, während er versuchte, seine junge Patientin zu beatmen.
Geräte piepten und ich machte einen Schritt zur Hintertür und beobachtete das Treiben.
Das Mädchen lag weiterhin reglos auf der Trage und ich warf einen prüfenden Blick auf den Monitor neben ihr. Ihr Herzrhythmus wurde immer langsamer bis er in eine Linie überging, die von einem langgezogenen Piepen begleitet wurde. Was war nur passiert, dass wir an diesem Punkt angelangt waren?
„Einer muss das Drücken anfangen!“, die Stimme des Notarztes wurde eindringlicher und eine Sanitäterin begann mit der Herzdruckmassage.
Die Seitentür öffnete sich und ein weiterer Mensch in Uniform wurde ersichtlich. Ich verschränkte meine Arme und lehnte mich gegen die Wand neben mir. Geduldig versuchte ich die Situation zu ordnen und mir einen Überblick zu verschaffen.
Hinter ihm stand eine ältere Frau mit grauen Haaren. Sie rieb sich unaufhörlich über die Arme und biss sich nervös auf die Lippen. Ihre Augen waren glasig und rot umrandet. Sie hatte Angst.
„Sophie, 14 Jahre alt. Die Großmutter meinte, sie hatte wohl alle Blisterpackungen leer gemacht. Sieht nach Mischintox aus!“, der Mann an der Tür sprach in den kleinen Behandlungsraum im Rettungswagen und studierte schnell die Medikamentenliste, die er von der Großmutter erhalten hatte.
„Sie hatte öfter Suizidgedanken gehabt, deshalb war sie doch in Behandlung. Ihr ging es besser! Ich dachte, alles wird jetzt wieder gut! “, die Stimme der Großmutter klang dünn und unsicher. Sie gab sich ganz eindeutig die Schuld an dieser Situation.
Ich schnippte mit dem Finger und die Zeit wurde langsamer. Wie in Zeitlupe lief das Geschehen hinter mir ab und ich sah wieder zu dem jungen zierlichen Mädchen direkt vor mir. Es dauerte nicht lange, da erhob sich eine etwas durchsichtigere Version von Sophie und sah sich verwirrt um. Ihr Blick blieb an mir hängen und ich konnte fast sehen, wie es in ihrem Kopf zu arbeiten begann.
„Wo bin ich?“, irritiert sah sie mich an.
„Ich nenne es liebevoll Zwischenwelt, Sophie.“
„Woher kennen Sie meinen Namen?“.
„Ich bin schon etwas hier und beobachte das Treiben.“, ich lächelte ihr freundlich zu und setzte mich auf das Fußteil der Trage, während ich mit einer Geste in den Raum deutete.
„Muss ich sterben?“.
„Ist es nicht das, was du wolltest?“, fragend sah ich sie an und wartete geduldig auf eine Antwort.
Suizid war immer eine spezielle Sache. Für manche Menschen war es eine Art Hilfeschrei, für andere eine Art endlich Frieden zu finden. Was der Grund auch immer war, für Angehörige blieb es stets eine beschissene Situation.
Ich versuchte immer erst die Beweggründe herauszubekommen, bevor wir eine gemeinsame Entscheidung trafen.
„Ich … ich weiß es nicht. Es ist alles zu viel und ich bin so müde. So unsagbar müde.“, Sophie sah mich aus ihren hellblauen Augen an und ich verstand, was sie meinte.
„Deine Großmutter macht sich große Sorgen.“, ich nickte zu der immer noch offenen Seitentür und der weinenden alten Dame. Sie hielt sich die Hand vor dem Mund und ihr Gesicht war schmerzverzerrt.
Sophie drehte sich um und seufzte leise.
„Meine Mutter wollte mich nie haben, aber meine Großmutter hat sich immer um mich gekümmert. Das Ganze ist so schwer für mich. Aber sie gibt mir Halt. Sie ist immer da, wenn ich sie brauche. Ich will einfach keine Last sein. Dauernd ist sie unterwegs und hat Stress, wegen den Therapiekosten. Sie sollte doch eigentlich nur ihre Rente genießen, stattdessen hat sie eine Enkelin, die ihr Sorgen macht. Gestern habe ich sie weinen gesehen, vor dem Fernseher. Sie hat die Rechnungen bekommen vom letzten Krankenhausaufenthalt.“.
„Aber meinst du das hier ist eine gute Lösung gewesen?“, mein Blick ruhte weiterhin auf Sophie. Nach all den Jahrhunderten waren diese Gespräche immer individuell gewesen und egal wie oft sie noch kommen mochten, es waren immer Beweggründe, die man selbst meist schwer nachvollziehen konnte. Aber es machte eben auch nicht für Außenstehende Sinn, sondern nur im Kopf dieser einen Person.
„Ich weiß es nicht.“, Sophie sah mich verzweifelt an. Die Situation überforderte sie vollständig, wen auch nicht.
„Deiner Großmutter scheint sehr viel an dir zu liegen, meinst du nicht?“.
„Ja aber-!“, sie stockte mitten im Satz und sah auf ihre Finger.
„Ich kann es nicht nachempfinden, Sophie. Nicht mal im Geringsten. Aber sie scheint sehr liebevoll und fürsorglich zu sein. Natürlich stresst es, all diese Besuche und Sorgen um Kosten für Therapien. Aber ich denke sie handelt mit viel Herzblut für diese Sache.“, ich gab dem jungen Mädchen eine kurze Pause und schlug meine Beine übereinander.
„Also du hast erneut die Wahl, Sophie. Wenn du hierbleiben willst, gebe ich dir die Chance dazu. Wenn du immer noch das Gefühl hast, du schaffst es nicht, ist es okay. Die Entscheidung liegt bei dir.“
Sophie sah mich lange Zeit nachdenklich an und stand auf. Ihre durchsichtige Hülle bewegte sich zur Seitentür in Richtung ihrer Großmutter. Vorsichtig strich sie dieser über die Wange und gab ihr einen Kuss.
„Meinst du ich kann es schaffen? Ich habe das Gefühl, es ist einfach wie in einem Strudel, aus dem ich nicht entkomme.“.
„Meine ehrliche Antwort lautet: Ich weiß es nicht. Gerne würde ich dir sagen alles wird wieder super, aber ich weiß es nicht. Die Entscheidung liegt bei dir. Aber ich denke du kannst es schaffen.“.
Wir blieben noch eine Weile in der Zwischenwelt, bis Sophie sich von ihrer Großmutter abwandte und wieder zu mir sah.
„Ich habe mich entschieden. Es wäre nicht fair aufzugeben, wenn meine Großmutter für uns beide kämpft. Ich weiß nicht, ob ich es hinbekommen werde, aber ich möchte es wenigstens probieren.“, sie legte sich wieder auf die Trage und schloss die Augen.
Ich atmete tief durch und schnippte ein zweites Mal mit meinem Finger und die Zeit lief wieder in Normaltempo um mich herum ab.
„Einmal Supra … weiter Drücken!“, die Stimmung im Rettungswagen war angespannt.
Einsätze mit jungen Patienten nahmen viele emotional mit. Es war ein Kampf um ein Leben, dass noch viele schöne Momente genießen sollte.
„Noch eine Minute, dann ist wieder Supra dran! Spürst du einen zentralen Puls?“, feine Schweißperlen bildeten sich auf der Stirn des gesamten Teams. Die Nerven waren zum Zerreißen gespannt.
„Warte … ja JA ich spüre einen in der Leiste! Er ist schwach, aber definitiv da!“, die Stimme des Sanitäters klang professionell nüchtern und doch konnte ich die Erleichterung deutlich heraushören.
Kurz darauf, war auch wieder das typische piepsige Signal der Herzfrequenz zu hören.
Sie hatte sich entschieden zu leben.