4 Stunden zuvor
Yorick Karlson war ein beliebter, freundlicher Mann mittleren Alters. Er engagierte sich in den ortsansässigen Jugendgruppen und trug somit seinen Teil für eine angenehme Dorfgemeinschaft bei. Yorick war ein Mensch, der stets gut gelaunt anzutreffen war und sich nie beschwerte. Seine Freunde würden ihn als teilweise fast schon gutmütig bezeichnen.
Man hätte es ahnen müssen, würden Antworten lauten. Die Schuldsuche wäre groß gewesen. Und dennoch - keiner von ihnen hatte mit den Geschehnissen an diesem Tag gerechnet.
„Hey Moritz. Wie geht’s dir, kleiner Mann?“, Yorick legte eine Hand auf den blau gestrichenen Zaun vor sich und stellte mit der anderen seine Ledertasche auf den feuchten Boden ab.
„Oh Herr Karlson! Sehr gut. Schauen Sie mal! Ich sammele heute Blätter. Wir basteln damit morgen nämlich in der Schule ein Geschenk für unsere Eltern! Aber das ist ein Geheimnis!“.
Der kleine Junge lief konzentriert zum Zaun und streckte die bunten Blätter in seiner Hand nach oben. Seine Augen leuchteten bereits vor lauter Vorfreude auf das morgige Basteln. Yorick nickte zustimmend und überlegte kurz.
„Weißt du wo es besonders schöne Blätter gibt? Im Wald am See. Wenn du Lust hast, begleite ich dich dorthin. Da gibt es wirklich sehr viele bunte Blätter. Damit wird das Geschenk der Hammer!“, er lächelte Moritz ermutigend zu und wartete auf ihn.
„Was ist das für ein Blatt?“, Moritz streckte ein grün-orange leicht verwelktes Blatt in Yoricks Gesicht und wartete geduldig auf eine Antwort.
„Mhm … siehst du hier? Diese Blattform könnte auf eine Eiche hindeuten.“. Beide betrachteten das kleine Blatt aufmerksam und inspizierten es von allen Seiten.
Yorick sah auf und blickte in ein grübelndes Gesicht. Ein längst vergessener Schmerz machte sich in seinem Magen bemerkbar und er versuchte wegzusehen. Doch es ging nicht.
Er war wie gefesselt vom Anblick des kleinen Jungen. Die großen Augen. Der nachdenkliche Blick mit der Zunge zwischen den Lippen. Die wilden braunen Locken auf dem Kopf.
Der Schmerz in seinem Bauch breitete sich aus und übermannte seinen gesamten Körper mit einer Wucht, die er nie in Worte hätte fassen können. Sie raubte ihm den Atem und er keuchte auf, während er sich an die Brust griff. Er hatte so gehofft, die Vergangenheit für immer ruhen lassen zu können, doch nun traf es ihn mit voller Wucht. Er konnte nicht mehr atmen.
Yorick versuchte sich im Hier und Jetzt zu halten. Er versuchte sich zu beruhigen und schloss die Augen. 10 … 9 … 8 … 7 … 6 … 5 … noch einmal tief durchatmen … 4 … 3 … 2 … 1.
Er öffnete seine Augen und sah in das besorgte Gesicht des kleinen Jungen.
„Levi …!“, in seinen Augen begannen sich Tränen zu sammeln, als er den Jungen ansah. Die eiskalte Enge um sein Herz lockerte sich mit einem Mal und er streckte seine Hand aus.
Der Schmerz ließ nach und alles war wie früher.