Leone Savelli hasste es, vor Tau und Tag aus dem Schlaf gerissen zu werden. Als die Alarmglocke erklang, dachte er zuerst, er sei im Feldlager und sie würden von feindlichen Truppen angegriffen. Er rappelte sich hoch, den kalten Griff seines Schwertes in der Hand und sah, dass er sich auf dem Heuboden ihrer Unterkunft in Verona befand, während sich seine gleichermaßen verwirrten Kameraden neben ihm fluchend aus ihren Decken schälten.
Von der Luke her erklang eine sanfte Stimme, die Leone als die Belladonnas erkannte und die auf Griechisch zu ihnen sprach.
»Meine Herren. Der Capitano lässt um Entschuldigung bitten für die Störung Ihrer Nachtruhe. Ihre Anwesenheit wird im Hof verlangt, gerüstet und abmarschbereit in fünfzehn Minuten. Ferner wurde ich gebeten, auszurichten, dass jeder, der nicht pünktlich eintrifft, in Zukunft auf sich selbst gestellt ist.«
Keiner der Männer verspätete sich. Doch die Qualität der Stille, mit der sie ihrem Anführer entgegensahen, war ätzend wie Brandkalk.
Santiago Diaz war zwei Tage fort gewesen und er sah aus, als habe er in dieser Zeit nicht eine Minute geschlafen. Seine Kleidung, schwarz und kostbar, wirkte zerknittert, sein sonnengebräuntes Gesicht zeigte eine aschgraue Tönung. Doch in seinem goldbraunen Auge stand ein mutwilliges Funkeln. Er zog ein in Leder eingeschlagenes Päckchen aus seiner Satteltasche und warf es Leone zu. »Lies vor«, sagte er liebenswürdig.
Leone löste die Hülle und entrollte eine auf lateinisch verfasste Urkunde. Er überflog die Worte und hob dann den Kopf. »Großer Gott, Capitano, was ist das?«
Santiago sah ihn nur wortlos an. Leone vertiefte sich eilig wieder in den Text und begann mit seinem Vortrag.
»Wir übergeben als Eigen den uns früher zu Eigentum gehörenden Besitz im Valle del Tasso durch dieses Schriftstück mit allen Rechten ... cum omnibus(*FN* Die Pertinenzformel (die Angabe aller zum Besitz gehörenden Elemente) war fester Bestandteil einer mittelalterlichen Urkunde*FN*) eidem praedio iuste et legaliter pertinentibus mobilibus ... die diesem Besitz nach Recht und Gesetz zugehören, beweglichen und unbeweglichen Dingen, Flächen, Gebäuden, Äckern, bebautem und unbebautem Land, Wiesen, Weiden und gemeinsamen Weideflächen, Jagden, Gewässern und Wasserläufen, Fischgründen, Mühlen, erschlossenen und unerschlossenen Gebieten, Zutritts- und Wegerechten, Forderungen und Außenständen und allem übrigen, was man auf beliebige Weise als Zubehör anführen kann, derart, dass der ehrenwerte Messèr Santiago Diaz von nun an die freie Verfügungsgewalt über diesen Besitz haben soll und dazu Erbrecht, Vergabe-, Verkaufs- und Tauschrecht oder was auch immer ihm für seinen Vorteil zu tun beliebt ...«
Niemand regte sich.
»Ich wiederhole meine Frage«, ließ sich Leone vernehmen. »Was ist das?«
»Das«, sagte Santiago im gleichen liebenswürdigen Ton, »ist die Besitzurkunde für das neue Hauptquartier unserer Truppe.«
»Und – wird man uns mit Pfeilen und Schwertern empfangen, wenn wir versuchen, es in Besitz zu nehmen?«
»Mitnichten.« Santiago legte Belladonna, dessen richtiger Name Darius Katsaros lautete, die Hand auf den Arm. »Unser Freund hier hat dafür gesorgt, dass wir eine ordentlich bezeugte und gesiegelte Urkunde bekommen. Wirklich, Leone, du hättest sehen sollen, mit welch vollendeter Eleganz er den Florentiner Bankier gemimt hat.«
»Mich interessiert viel mehr, wer der bedauernswerte Wicht ist, den ihr dabei übers Ohr gehauen habt«, sagte Leone.
»Ich fürchte, ich muss dich enttäuschen«, erwiderte Santiago mit trügerischer Milde. »Es war ein ehrliches Geschäft.«
Von Leone kam ein explosiver Laut. »Erzähl das deiner Großmutter, falls du eine hast«, gab er zurück. »Mit wie vielen Gegnern bekommen wir es zu tun?«
Das unheilverkündende Funkeln wurde plötzlich zur Flamme. »Du, mein Lieber, bekommst es gleich mit einem Gegner zu tun. Nämlich mit mir.«
Er und Leone starrten sich an. Dann fügte Santiago hinzu, und die Sanftheit war vollständig aus seiner Stimme verschwunden: »Ich habe meine Versprechen gehalten. Ich habe euch mit erstklassigen Waffen ausgerüstet. Eure Bäuche sind voll und keiner kann behaupten, er hätte sich unter meiner Führung jemals den Hintern abfrieren müssen. Jetzt habe ich euch ein festes Dach über dem Kopf verschafft, was bedeutet, dass wir es auch im nächsten Winter warm und behaglich haben werden. Frag deine Kameraden, ob sie der Meinung sind, sich darüber beklagen zu müssen.«
Daraufhin setzte Santiago sein Pferd in Bewegung und die Männer zeigten Leone, wie nutzlos es war, sich mit dem Capitano über die Angelegenheit zu streiten, indem sie ihre Rösser wortlos hinter ihrem Anführer einreihten.
Mit grimmig verzogenen Lippen trieb Leone sein Pferd an. Im Grunde konnte er Santiago nichts vorwerfen. Er hatte Wort gehalten, und sich in den Monaten, seit er begonnen hatte seine hoch qualifizierte Kompanie auszubilden, nicht geschont. Er hatte gute Männer angeworben, von denen nicht wenige dem Capitano ebenso ihr Leben verdankten, wie er selbst, hatte sachkundig die besten Waffenmeister ausfindig gemacht, die die Rekruten zu dem formten, was nach Santiagos Willen einmal die beste Söldnertruppe des Landes werden sollte. Nun hatte er auch sein jüngstes Versprechen eingelöst und ihnen ein festes Quartier beschafft.
Doch etwas an dieser Sache war nicht richtig. Da war ein Unterton in Santiagos Stimme gewesen, der ihm die Eingeweide zusammenzog. Leone wusste nicht, ob mit einer unmittelbaren Gefahr zu rechnen war, doch der überstürzte Aufbruch im Morgengrauen schien darauf hinzudeuten, dass Santiago Komplikationen erwartete. Er warf Belladonna einen schnellen Blick zu. Der Venezianer saß mit seiner üblichen Unbekümmertheit im Sattel. Aber wenn Leone in den vergangenen Monaten eines geschärft hatte, so war es sein Instinkt für feine Nuancen. Belladonna war ebenso wachsam wie ihr Anführer.