Was wäre, wenn … Arthrax stirbt, nachdem er Elred rettet?
Fortsetzung von „Das Land der steinernen Klaue“, Kapitel 9.
Als du Schritte hörst, reißt du dich aus der entsetzten Starre. Eine Gruppe Orks marschiert auf der Mauer entlang hinab zum Graben. Vielleicht sind es die gleichen Orks, den ihr gerade erst entkommen seid.
Da du die Rüstung ausziehen musstest, besteht diesmal keine Chance, dass sie dich für einen Ork halten. Du reißt dich zusammen, eilst zu den niedrigen Sandsteingebäuden vor der Mauer und duckst dich hinter eines davon.
Die Schritte der Orks donnern auf die Erde, ihre Rüstungen klappern, Leder knarzt. Du hörst sie grunzen und grollen.
„Das könn‘ sie nich‘ überlebt haben“, knurrt einer schließlich vernehmlich.
„Das is‘ egal, wir müssen sie finden. Holt die Piken, Jungs. Wir brauchen die Leichen.“
Dir wird schlecht bei der Vorstellung, dass die Orks Arthrax‘ Leiche nach oben bringen. Doch vor allem bedeutet es, dass dir nicht viel Zeit bleibt. Wenn sie deine Leiche nicht finden, wissen sie, dass du noch lebst!
Und was für ein Leben es ist … Du solltest gar nicht hier sein! Arthrax hat euch vor den Orks gerettet, doch als einzigen Dank hast du ihn im Stich gelassen. Jetzt bist du wehrlos wie ein Baby. In deinem Bemühen, aus dem Wasser zu entkommen, hast du nicht nur die Rüstung verloren, sondern auch die meisten Pfeile. In deinem Köcher ist nur noch ein einziges Geschoss. Deine Jagdmesser sind fort, dein Bogen nach dem unfreiwilligen Bad verzogen. Scheiße, wie weit sollst du mit einem einzigen Pfeil kommen?
Den Schöpferstein zu holen ist so keine Option mehr. Wie sollst du ihn alleine befreien? Du musst zurück zur Taverne und deine Gefährten informieren. Brenna wird dir vermutlich den Kopf abreißen, weil du ihren Bruder nicht gerettet hast.
Wird sie dir überhaupt glauben, dass es ein Unfall war? Es war kein Geheimnis, dass ihr beide euch nicht ausstehen konntet. Doch in den letzten Stunden hat Arthrax dir bewiesen, dass er mehr als ein Rassist war. Er war auch intelligent und treu und … Ach, verdammt. Jetzt, wo er weg ist, stellst du fest, dass du den Idioten doch vermisst.
Es gibt nur wenige Gebäude vor den Mauern. Du verbringst den Tag damit, dich weiter und weiter von den suchenden Orks zu schleichen, die mit langen Stöcken, deren Enden Metallspitzen mit Widerhaken haben, im Graben herumstochern. Während die Sonne erbarmungslos herabbrennt und lärmende Orkgruppen von und zur Grenze marschieren, kauerst du im Schatten eines hoffentlich verlassenen Gebäudes. Das Dach ist löchrig, der Boden mit Sand bedeckt, doch trotzdem könnten die Orks dieses Haus noch benutzen. Du traust ihnen alles zu.
Du wartest auf die Nacht, um zu fliehen. Hoffentlich ist es dann noch nicht zu spät!
„Wir ham was!“, brüllt ein Ork nicht halb so weit entfernt, wie es dir lieb wäre. Du legst instinktiv den Pfeil auf die Sehne deines bereits gespannten Bogens. Haben sie dich bemerkt? Können sie dich riechen?
Dann hörst du Ächzen. „Holt ihn raus!“
Dein Magen verkrampft sich, als du das laute Plätschern aus dem Graben vernimmst. Sie haben Arthrax gefunden! Obwohl du es sicher bereuen wirst, huschst du zum Fenster der verfallenen Hütte.
Die Orks sind kaum einen Steinwurf entfernt. Sie stehen an einem Seitenarm des Grabens, der zwischen die Hütten hinaus führt. Die Häuser zu beiden Seiten scheinen Wassermühlen und Färbereien zu sein, die auf die Flüssigkeit angewiesen sind. Es gibt kein Versteck an diesem Ort, das nicht am Graben liegt.
Nun kannst du zusehen, wie die Orks etwas Schweres aus dem Wasser ziehen. Zunächst mit den Piken, dann waten die ersten hinab und packen den Haufen aus Metall und Leder.
Auf dem Metallhaufen siehst du schließlich Arthrax‘ Kopf, bleich, aufgedunsen und bläulich. Kraftlos rollt er über die Schultern der Orkrüstung. Dir dreht sich der Magen um, als die Kreaturen der Wüste deinen Freund an Land ziehen.
Die Orks umringen Arthrax, reißen ihm die Rüstung ab und lassen ihn dann nackt im Sand liegen. Mit den Piken durchstoßen sie seinen Brustkorb, als hätte er noch nicht genug gelitten. Sie stellen sicher, dass er wirklich tot ist.
„Wo is‘ der andere?“ Irgendwann taucht ein weiterer, größerer Ork auf und betrachtet den Toten grimmig. „Wissen wir, wem die Rüstung gehört hat? Die haben sie von unseren Leuten!“
„An der Grenze gab’s Unruhe“, antwortet ein anderer Ork. „Wir haben Leichen gefunden.“
„Dann sucht den zweiten Eindringling, los!“
„Wir sin‘ aber fast durch mit’m Graben. Er is‘ nicht da.“
Der Ork-Anführer senkt die Stimme zu einem bedrohlichen Knurren, das du in deinem Versteck allerdings immer noch hören kannst. „Habt ihr schon mal überlegt, dass er vielleicht entkommen konnte?“
Die läuft ein Schauer über den Rücken, als die Orks sich in der kleinen Siedlung vor der Mauer umsehen. Mit einem Mal sind ihre Blicke suchend und lauernd. Du wirfst dich aus dem Fenster, ehe sie dich noch bemerken.
Selbst ihnen muss klar sein, dass du nicht weit gekommen sein kannst. In der offenen Wüste gibt es keine Fluchtmöglichkeit. Nur die Nacht könnte dir Deckung bieten.
Du siehst zum Fenster. Inzwischen ist die Dämmerung immerhin zu erahnen, ein oranger Schimmer am Horizont. Doch du musst noch einige Stunden durchhalten.
„Wenner noch lebt“, grollt der Ork-Anführer, „dann kanner uns sagen, was sie hier wollten. Bringt ihn mir lebend!“
Verdammt. Der Anführer ist echt etwas klüger als der durchschnittliche Ork. Du bist dir sicher, dass du eine Orkfolter nicht durchhalten kannst. Sie werden alles aus dir rausquetschen können. Dass ihr den Stein gesucht habt. Wer ihr seid und wo sich eure Freunde befinden. Welchen Auftrag ihr habt.
Dann bist du nicht mehr nur für Arthrax‘ Tod verantwortlich, sondern ziehst auch Brenna, Allyster und Aji mit dir ins Verderben.
Angespannt siehst du auf deinen einzigen Pfeil, der vor deinem Blick verschwimmt. Die Tränen hast du gar nicht gespürt, bis zu diesem Moment. Aber du kannst nur daran denken, dass du Arthrax im Stich gelassen hast. Du bist ein Versager! Ohne den Menschen wärst du gar nicht hier, doch du hast seine Hilfe damit belohnt, dass du ihn ertrinken gelassen hast.
Ob er in seinen letzten Momenten an dich gedacht hat? Ob er hoffte, dich zu sehen, während das Wasser in seinen Lungen brannte? Ob er stumm um deine Hilfe flehte, hilflos unter der Wasseroberfläche gefangen?
Schritte knirschen im körnigen Sand um die Hütte. Die Orks haben damit begonnen, die Gebäude abzusuchen. Du versuchst, einen klaren Gedanken zu fassen. Sollst du fliehen? Zu Fuß hast du keine Chance gegen die Orks, erst recht nicht in deinem momentanen Zustand. Du bist immer noch geschwächt, nachdem du fast ertrunken bist. Deine Hände zittern, obwohl es draußen erdrückend warm ist.
Vermutlich ist es einfacher, im Haus zu bleiben. Darauf zu hoffen, dass die Orks unsystematisch vorgehen und dich nicht finden, bevor die Nacht hereinbricht. Und falls sie dich doch finden, kannst du dich hier besser verteidigen.
Du merkst jedoch, dass du keinen Mut fassen kannst. Statt dich für einen Kampf zu wappnen, fühlst du dich von Angst und Müdigkeit überwältigt. Der Pfeil fühlt sich fremd in deinen Fingern an.
Eisige Kälte überrollt dich, als dir noch einmal bewusst wird, dass Arthrax fort ist. Tot. Für immer. Du wirst dich nie wieder mit ihm streiten können. Nie wieder kannst du dich darauf verlassen, dass seine Kriegsaxt dir den Rücken freihält.
Du wusstest zwar immer, dass die Sterblichen irgendwann gehen werden, vorbereitet warst du deshalb noch lange nicht.
Die Luft riecht irgendwie schal und dein Herz ist schwer. Was … was hast du bloß getan?
Ein Schatten huscht vor dem Fenster vorbei. Die Orks sind bereits hier! Du spannst den Bogen und hoffst, dass du mit dem einzigen Schuss irgendetwas ausrichten kannst. Vielleicht kommt ja nur ein Ork herein, du kannst ihn ausschalten und dann seine Rüstung stehlen …
Du bist so sehr mit deinen Fantasien beschäftigt, dass du kaum reagieren kannst, als die Orks wirklich hereintreten. Es sind gleich drei und sie sind im ersten Moment ebenso geschockt wie du.
Du lässt die Sehne los, der Pfeil springt nach vorne – und fällt dir vor die Füße. Dein Bogen hat versagt! Offenbar ist ihm das Bad nicht gut bekommen.
„Scheiße“, murmelst du.
„Boss!“, brüllt einer der beiden hinteren Orks. „Wir haben ein Spitzohr!“
Der vordere Ork und der dritte im Bunde kommen auf dich zu. Sie zücken schartige, breite Säbelklingen.
Mit einem schnellen Satz springst du vor und packst deinen letzten Pfeil. Er hat die Orks vielleicht nicht erreicht, aber er kann dich immer noch retten.
„Nein!“, brüllen die Orks, als sie deine Absicht erkennen.
Du rammst dir die Pfeilspitze in die Handgelenke. Sie mögen dich kriegen, aber deine Informationen kriegen sie nicht!