Was wäre, wenn … Brenna, Allyster und Aji ausgesetzt werden?
Fortsetzung von „Die stillen Geheimnisse der Mondsee“, Kapitel 10.
Langsam siehst du dich auf der Insel um. Einige Palmen haben den Erdflecken in der Mitte erobert und bieten spärlichen Schatten. Ringsum rollen die Wellen auf makellosen, weißen Sand. Das Meer ist hellblau, der Himmel geradezu traumhaft leer und weit. Es könnte der perfekte Ort sein, wenn es nur ein Schiff oder etwas ähnliches gäbe, was euch hier fortbringen könnte.
Doch Karjas Piratenschiff wird am Horizont immer kleiner. Erschöpft lässt du dich in den Sand sinken.
Brenna hat es vergeigt. Was auch immer sie der Piratin erzählt hat, sie hat ihr nicht geglaubt. Durch Ajis Tarnung hat sie auch hindurchgesehen. Jetzt sitzt ihr hier fest, kaum Vorräte, ohne Fluchtmöglichkeit, und werdet wohl bald ein unrühmliches Ende finden. Wie lange es dauert, bis das Salzwasser verlockend aussieht? Karja meinte zwar, dass diese Insel häufig angefahren wird, aber du bist nicht sicher, wie sehr du ihr da vertrauen kannst. Es gibt hier keinen Hafen, keine Infrastruktur, nur einige karge Felsen.
Die Hitze des Tages tut deinen alten Knochen zwar gut, aber sie wird euch früher oder später verdursten lassen.
„Können wir nicht irgendwas machen?“, fragt Aji hinter dir. Er spricht vermutlich mit Brenna, also machst du dir nicht die Mühe, dich umzudrehen. „Die Palmen fällen und ein Floß bauen? Oder ein Signalfeuer machen?“
„Einen Versuch ist es vielleicht wert“, entgegnet die Kriegerin.
Du springst auf. Nicht mal auf einer einsamen Insel hat man seine Ruhe! „Lasst die Bäume stehen!“, fährst du Brenna an. „Wir werden ihren Schatten brauchen, verdammt. Wer soll denn hier den Rauch eines Feuers sehen, hm?“
„Dann … ein Floß?“
„Und wo willst du mit deinem Floß hin? Hast du eine Ahnung, wo das nächste Festland liegt?“ Genervt schüttelst du den Kopf. „Gestohlene Waffen! Hättest du dir keine bessere Geschichte einfallen lassen können?“
„Ach? Welche hattest du denn auf Lager?“, fragt sie herausfordernd.
„Nun, zunächst einmal hätte es eine simplere Geschichte getan, nicht so etwas kompliziertes.“
„Zum Beispiel?“ Brenna verschränkt die Augen.
Das weißt du auch nicht, aber das musst du ihr ja nicht auf die Nase binden. „Und dann auch noch Arthrax zu erwähnen! Damit sie genau wissen, dass noch mehr Leute zu unserer Gruppe gehören? So was ist gefährlich, Brenna.“
„Sag mir, dass du es besser gemacht hättest!“, faucht sie. „Na los, Allyster! Was hättest du ihr erzählt?“
Du gerätst ins Schwitzen. Was diesmal nicht an der warmen Sonne liegt. Verzweifelt überlegst du, wie du Zeit gewinnen kannst. „Zunächst einmal hätte ich mir was überlegt, was viel näher an der Wahrheit …“
„Allyster? Brenna?“
Du atmest auf. Aji kommt zu deiner Rettung!
„Seht mal!“
Du drehst dich zum Meer und blinzelst überrascht. Am Horizont – auf der anderen Seite der Insel – sind Segel aufgetaucht. Ein Schiff kommt auf euch zu!
„Ha! Karja glaubt mir doch!“
„Sei nicht dumm, Brenna. Das Schiff kommt aus einer ganz anderen Richtung.“
„Sie ist eben eine Kurve gefahren.“
„So schnell kann sie die Strecke nicht geschafft haben. Vor allem, da der Wind ungünstig steht!“
Ihr lauft zum Wasser, springt und winkt, bis das Schiff zu euch kommt. Es ist ein großer Dreimaster mit vollen Segeln und mehreren schwarzen Flaggen. Karja war schon nicht subtil damit, dass sie eine Piratin ist, aber dieses Schiff trägt die Jolly Roger wie eine Trophäe.
Etwas nervös wartet ihr, als das Schiff sich seitlich zu euch richtet, den Anker senkt und ein Boot aussendet, in dem drei Personen zu euch rudern. Zwei Matrosen in eher zerlumpter Kleidung bedienen die Ruder. Der Kapitän trägt einen schwarzen, kurzen Mantel, einen auffälligen Hut mit großer Feder und feine Stiefel, die er sich ungeniert nass macht, als er im flachen Wasser abspringt. Lässig zieht er einen Revolver, als er auf euch zukommt. Ein echtes Schießeisen – das ist eine Waffe, die ihr nicht provozieren solltet.
„Also gut“, brummt der Mann in gelangweiltem Ton. „Habt ihr Gold oder andere Wertsachen?“
Du schluckst. „Nicht … wirklich.“
„Wisst ihr, wo sich viel Gold oder andere Wertsachen befinden?“
Jetzt grinst du. „Definitiv.“
Brenna und Aji sehen dich besorgt von den Seiten an, aber sie sind klug genug, die Klappen zu halten.
„Das klingt schon besser“, stellt der Pirat fest. Er hat lange, gelockte, schwarze Haare und einen auffälligen Goldzahn. „Wo?“
„Auf einem Schiff, das erst vor Kurzem hier weggesegelt ist“, sagst du entschlossen. „Aber wohin genau, das sagen wir erst, wenn wir an Bord sind.“
Der Pirat nickt. „Eure alte Crew, die euch zurückgelassen hat?“
Ihr nickt alle drei. Brenna und Aji haben deinen Plan begriffen.
„Der Käpt’n wollt‘ nicht teilen“, brummt Brenna. „Jedenfalls nicht mit allen.“
„Nun, damit das klar ist, ich biete euch auch nicht viel mehr als euer Leben. Ihr dürft mitfahren und wenn wir wirklich Beute machen, bringen wir euch zum nächsten größeren Hafen. Ihr kriegt ein bisschen was, um euch dort durchzuschlagen, aber das hängt ganz davon ab, wie groß die Beute ist. Zuerst sind ich und meine Jungs dran. Und wenn es nicht genug Gold ist, geht ihr über die Planke.“
Raue Gesetze herrschen in diesem Land. Aber ihr seid ein ganz ähnliches Leben gewohnt.
„Keine Sorge, das ist mehr als genug Gold. Das Schiff hat so viel Tiefgang, dass ihr es schnell einholen werdet!“
Der Kapitän nickt und winkt euch dann zum Boot, das die beiden Matrosen auf den Wellen an Ort und Stelle zu halten versuchen. „Ich bin Kapitän Lacron, falls ihr die Flagge noch nicht erkannt habt. Legt euch in die Riemen. Ich hoffe, ihr versprecht nicht zu viel.“
°°°
„Das soll es sein?“ Eher skeptisch betrachtet Kapitän Lacron Karjas Segler durch sein Fernrohr.
„Es mag unscheinbar aussehen“, schmierst du ihm Honig um das Maul, „doch so wird man seltener überfallen. Unauffälligkeit hat ihren Vorteil.“
„Hm-hm.“ Der Kapitän schiebt das Fernrohr wieder zusammen. „Wir werden sehen, ob ihr die Wahrheit sprecht.“
Glücklicherweise lässt er euch nicht einsperren oder etwas in der Art. Während das größere Schiff rasch aufholt, kümmert sich niemand mehr um euch. Die Mannschaft macht sich gefechtsbereit.
„Allyster?“ Brenna tritt neben dich. „Ich hoffe, du hast einen guten Plan. Sonst drehe ich dir eigenhändig den Hals um!“
„Genau!“ Aji sieht sich nervös um, bevor er mit gesenkter Stimme sagt: „Was, wenn der Kapitän … nicht zufrieden ist?“ Bedeutsam wackelt er mit den Brauen. Klar – Karjas Schiff hat keine Ladung.
„Lasst das mal meine Sorge sein. Brenna, bist du kampfbereit?“
„Schon …“, erwidert sie zögerlich.
Inzwischen ist das Knarzen der Segel lauter geworden. Das Schiff, das euch mitgenommen hat, schwenkt neben Karjas ein. Die Männer laden die Kanonen.
„Es kommt mir nur nicht richtig vor … Karja hat es ja nicht persönlich gemeint.“
Du grinst breit. „Wir meinen es auch nicht persönlich. Aber Kapitän Lacron war nun mal unsere beste Möglichkeit, wieder aufzuholen!“
Damit schleuderst du einen glühenden Feuerball in die Ankerwinde von Lacrons Schiffes. Die schwere Kette bricht rasselnd aus ihrer Fassung und rauscht über das Deck. Einige Seemänner rennen erschrocken zur Seite, um nicht von der Befestigung für den tonnenschweren Anker mitgerissen zu werden.
Brenna lacht auf, als sie deinen Plan erkennt. Als der Anker am Boden Halt findet und sich das Schiff mit gespannten Segeln aufbäumt, knarzend und stöhnend von den Mächten aus Anker und Segeln, die an ihm zerren, rennt ihr zur Reling und springt über Bord, ehe Lacron den Befehl geben kann, euch festzuhalten. Kanonen krachen über euren Köpfen. So schnell wie möglich schwimmt ihr zu Karjas Schiff hinüber, das aus der Bahn der Kugeln segelt und dann ein Seil herabwirft.
Du musst Aji am Nacken packen, der immer noch nicht gut schwimmen kann. Dann seid ihr im Schatten der seepockenbesetzten Bordwand und werdet von der Mannschaft hinaufgezogen. An Deck werft ihr Karja einen Sack voll Gold vor die Füße, den Aji im Chaos bei Lacron eingesteckt hatte.
Breitbeinig baut sich die Kapitänin vor euch auf. „Was soll das sein? Eine Entschuldigung dafür, dass ihr einen Piratenfürsten auf mich angesetzt habt?“
„Eine Entschuldigung für die Lüge.“ Du wringst deine Roben aus. „Der Kapitän war nur ein Mittel zum Zweck.“
Karja schmunzelt, scheinbar wider Willen. „Na gut … ich bin bereit, euch zuzuhören. Ihr habt ja offenbar doch einen guten Grund, hier zu sein. Aber diesmal sollte eure Lüge wenigstens nicht meine Intelligenz beleidigen.“
Du atmest tief durch. Ob die Kapitänin euch helfen wird, wenn sie die Wahrheit kennt? Ihr habt keine andere Wahl, als es diesmal so zu versuchen. Entschlossen begegnest du ihrem Blick und beginnst, von eurer Suche nach den Schöpfersteinen zu erzählen.