Was wäre, wenn … Arthrax und Elred zu Mumien werden?
Fortsetzung von „Gefahr in den Ruinen von Aak“, Kapitel 27.
Du bist überrascht, dass du die Augen noch öffnen kannst. Langsam versuchst du, etwas zu erkennen. Es ist dunkel, dafür stehen die Ereignisse vorher noch deutlich vor deinen Augen.
Die dürre, bandagierte Kreatur im Sarkophag. Der Kampf, dann Dunkelheit.
Wieso lebst du noch? Du warst ziemlich sicher, dass dein Ende gekommen ist, aber nun hast du Kopfschmerzen und fühlst dich bereit, dir die Seele aus dem Leib zu kotzen!
Endlich kannst du den Boden erkennen, sandfarbenes Gestein mit Rissen und Kratzern. Du liegst darauf, in einem kahlen Raum, den du wiedererkennst. Der Ort mit dem Sarkophag. Sonderlich weit bist du nicht gekommen, aber du weißt auch nicht, wie viel Zeit vergangen ist.
Es ist nichts zu hören als das leise Rascheln deiner Bewegungen. Offenbar ist die Kreatur wieder fort. Und die Wissenden oder Wissenssammler haben euch nicht gefunden.
„Elred?“, flüsterst du. „Hey, Elred, bist du da?“
Ein leises Stöhnen antwortet dir. „Arthrax?“
„Elred!“
„Ist das die Hölle?“
Na, immerhin der Elf ist wieder ganz der Alte! „Sehr witzig.“ Du setzt dich auf – dann wird dir klar, dass Elreds Frage keine versteckte Beleidigung deiner Person war.
Deine Haut ist bedeckt mit beigen, rauen Stoffstreifen. Sie sind alt, steif und brüchig, bei jeder Bewegung rieselt bräunlicher Staub vom Rand.
„Was ist das?“ Du versuchst, die Streifen abzuwischen, aber auch deine Hände sind komplett umwickelt. Jeder Finger ist sorgsam mit schmalen Streifen umhüllt worden, in die dir unverständliche Symbole eingeritzt sind. Obwohl es so alt und marode wirkt, bietet das Material viel Widerstand. Du findest keinen Ansatz, um mit den Fingern darunter zu kommen.
Auch dein Gesicht ist so eingewickelt, nur deine Augen sind frei. Die Streifen erstrecken sich auch unter deiner Kleidung, die nun deutlich zerfetzter wirkt, als du sie in Erinnerung hast.
Als du dich umsiehst, entdeckst du eine ähnliche Kreatur wie jene, die euch angegriffen hat. Hastig kommst du auf die Beine, aber die Mumie beachtet dich kaum. Sie sitzt auf der Erde, an der Wand der Kammer, und starrt auf ihre Hände.
Du suchst nach deiner Waffe, aber die Axt ist fort. Gut, darum musst du dich später kümmern! Du hebst die Fäuste, trittst auf die Mumie zu …
„Arthrax!“
Erschrocken blinzelst du. Die Mumie spricht! Und sie klingt wie … „Elred?!“
„Ja! Was dachtest du denn?“
Du gestikulierst zu dem sitzenden Elfen. „Hast du dich mal angesehen?“
„Hast du dich mal angesehen?“
Du siehst auf deine Hände. Dein kompletter Körper ist bandagiert. Und wenn es stimmt, dass auch dein Kopf so eingepackt ist, bietest du einen ganz ähnlichen Anblick. „Oh.“
„Idiot.“ Kopfschüttelnd steht dein Mumienkumpel auf. „Hast du eine Idee, was passiert ist?“
Er muss echt verzweifelt sein, wenn er dich um Rat fragt. „Dieses … Ding hat uns getötet und jetzt sind wir wie es?“
„Du hast zu viele Märchen gehört“, brummt Elred.
„Hast du eine bessere Erklärung?“
„Das Ding hat uns nicht getötet. Aber vielleicht dachte das irgendjemand, der uns so verpackt hat.“ Elred sieht sich um und entdeckt eure Waffen zwischen einigen Tonvasen in der Ecke der Steinkammer. Er zieht seinen Bogen hervor und reicht dir die Axt. „Vielleicht ist es auch irgendein verrücktes Ritual. Mir egal. Aber wir sind fit, wir können unsere eigenen Entscheidungen treffen … also lass uns den Stein suchen und abhauen!“
Du nickst. Das wäre wohl die beste Option. Welcher günstige Wink des Schicksals auch euer Leben gerettet hat, ihr solltet ihn besser nutzen. Und nicht warten, bis ihr hier entdeckt werdet.
Ihr tretet zu der Wand, die die inzwischen wieder geschlossene Tür bildet. Als ihr euch dieser nähert, fährt der Stein auseinander. Nervös springt ihr zurück und zieht eure Waffen, aber niemand steht auf der anderen Seite. Ihr müsst irgendeinen Mechanismus ausgelöst haben. Also geht ihr auf den Gang und seht euch um.
„Immerhin hat das Ganze einen Vorteil“, murmelt Elred. „Wir sehen aus wie Wissenssammler.“
„Glaubst du, dass sie so entstehen?“
„Nicht wirklich. Es dürfen ja nur Wissende in diesen Teil der Stadt. Ich vermute, irgendjemand hat uns so verkleidet. Jemand, der uns helfen will.“
„Bist du sicher, dass das nur eine Verkleidung ist?“ Unsicher zupfst du an den lederartigen Bändern, die deine Haut bedecken.
„Was soll es sonst sein?“, fragt Elred genervt. „Fühlst du dich vielleicht tot?“
Kein Bisschen. Du schüttelst den Kopf.
„Irgendjemand wollte uns helfen oder vielleicht einfach nur Chaos stiften. Das können wir noch herausfinden, wenn wir hier raus sind.“ Der vermummte Elf sieht dich durch die Lücken in seinen Bandagen entschlossen an. „Erst einmal kommen wir hier raus und suchen den Schöpferstein!“
°°°
Ihr durchsucht das Gewirr aus Gängen und Rätseltüren weiter. Es gibt einige Fallen, aber sie reagieren nicht mehr auf euch. Die Stoffstreifen schützen euch und bewirken auch, dass sich die Türen einfach vor euch öffnen.
So stellt ihr rasch fest, dass hier unten nichts liegt. Ihr kehrt an die Oberfläche zurück, wo inzwischen tiefste Nacht herrscht. Das merkwürdige Ritual ist abgeschlossen. Ihr betretet nun den unterirdischen Tempel, den ihr zuvor nicht durchsuchen wolltet. Flache Stufen führen euch in eine große, wesenleere Halle mit einer erhöhten Fläche an ihrem Ende. Einige Fackeln hängen in Halterungen an den Säulen und spenden unstetes Licht.
„Hier ist auch nichts!“, stellt Elred erbost fest.
„Lass uns wenigstens gucken, ob sie hier irgendwelche Roben haben. Wir werden die Verkleidung brauchen.“
Der Elf seufzt, nickt aber. Mit den Bandagen seht ihr den Wissenssammlern zwar recht ähnlich, aber ihr habt keine Kleidung. Eure Sachen hängen in Fetzen, seitdem ihr erwacht seid.
Ihr nähert euch der Bühne, was der einzige Ort ist, wo sich etwas befinden kann. Als ihr hinauftretet, klackt etwas, dann fährt eine Art Stab mit Stacheln aus der Decke, an dem verschiedene Ketten und Anhänger baumeln.
„Was zum …?“ Elred starrt das Ding an. Du ebenfalls. Es sieht aus wie das obere Stück einer Fichte, nur ohne Rinde. Die Äste wurden eine knappe Handbreit vom Stamm abgesägt und bieten jetzt die Aufhängung für die Ketten. Eine davon fällt dir sofort ins Auge, denn daran hängt ein auffälliger, mattgrüner Stein.
„Ist das …?“ Du trittst näher und nimmst den Stein in die Hand, der in deinem Griff schwach aufleuchtet.
„Der Schöpferstein.“ Elred klingt geradezu enttäuscht. „Natürlich war er hier!“
Du musst grinsen, auch wenn die Bandagen dabei spannen und die Bewegung unangenehm steif machen. „Wir haben ihn!“ Jetzt müsst ihr nur noch zurück …
Elred zuckt zusammen und beginnt, sich abzutasten. „Scheiße … Scheiße!“
„Was?“ Du steckst den Stein aus Aak ein.
„Das Tigerauge ist weg!“
„Weg?!“, wiederholst du verständnislos. „Soll das heißen, du hast einen magischen Schöpferstein verloren?“
„Ich … ich glaube, den hat uns jemand abgenommen. Als wir bewusstlos waren. Das ist jedenfalls alles, was mir einfällt.“
„Oder wir suchen die Schatzkammer noch einmal ab. Vielleicht hast du ihn fallen gelassen.“
„Ich lasse doch einen Schöpferstein nicht fallen!“
„Scheinbar ja doch!“
Du hast keinen Ort, um den Stein zu verwahren, denn deine Taschen sind völlig zerfetzt. Ob das noch an dem Kampf mit dem merkwürdigen Wesen lag? Halb dachtest du, dass du dir die Kreatur nur eingebildet hattest. Immerhin habt ihr keine Wunden. Und ein solches Wesen kann es ja auch gar nicht geben! Aber irgendetwas hat deine Kleidung komplett zerrissen. Dann sind die Bandagen vielleicht irgendein Heilzauber, der eure Körper wiederhergestellt hat …
Ihr kehrt zur Schatzkammer zurück, doch auf dem Weg und dort findet ihr keinen Schöpferstein. Er ist auch nicht in eine Ecke der Kammer gerutscht.
„Ich kann es nicht fassen, dass du ihn verloren hast!“
Elred funkelt dich zornig an.
„Bist du sicher, dass du ihn bei dir hattest, als wir hier reingekommen sind?“
„Arthrax … ich bin vierzig Jahre älter als du!“, braust der Elf auf. „Ich verliere so einen wichtigen Stein nicht einfach! Wer auch immer uns geholfen hat, hat ihn vielleicht eingesteckt. Wer weiß, ob diese Leute uns überhaupt freundlich gesinnt sind! Vielleicht wollten sie uns damit erpressen oder so.“
„Und du gibst ihnen dein Stein einfach!“
„Mir reicht’s!“ Der Elf marschiert zur Tür. „Gehen wir nach Hause.“
°°°
Elred spricht so wenig wie möglich mit dir. Andererseits ist er auch immer nur einige wohlgeplante Beleidigungen davon entfernt, in die Luft zu gehen. Momentan müsst ihr euch allerdings konzentrieren. Zunächst müsst ihr aus der inneren Stadt entkommen, die den Wissenden vorbehalten ist. Die Tore sind wieder verschlossen. Schließlich entdeckt ihr ein paar abgelegte Roben in einem Wachhäuschen bei den Toren, das nicht besetzt ist. Ihr findet auch ein Seil, mit dessen Hilfe ihr an einer unbeobachteten Stelle über die Mauer klettert.
Die äußeren Stadtringe sind geradezu geisterhaft leer. Offenbar sind die Wissenssammler bereits wieder aufgebrochen, um zu tun, was ihre Natur ist: Wissen zu sammeln. Das macht es für euch leicht, aus dem Gewirr der Ruinen zu entkommen.
Wer auch immer euch geholfen hat, setzt sich aber auch nicht mit euch in Verbindung. Ihr erhaltet keine Nachricht von den Unbekannten, die euch geholfen haben. Keine Nachricht vom verlorenen Schöpferstein, keinen Hinweis auf den Grund, warum ihr die merkwürdigen Bandagen tragt. Sie lassen sich auch Tage später nicht lösen. Eure Pferde findet ihr nicht wieder, sodass ihr die Strecke nach Kalynor kurzerhand zu Fuß lauft. Jede Nacht versuchst du, die Bandagen zu lockern. Vielleicht befindet sich die Erklärung ja sogar darunter … Doch deine mühevolle Arbeit offenbart nur Schicht um Schicht weiterer Bandagen.
Zu dem Zeitpunkt, als ihr Kalynors Außengrenze erreicht, hast du dich fingerdick in deinen Arm gegraben, ohne etwas anderes als widerstandsfähiges Pergament zu finden. Was auch immer mit euch passiert ist, es muss dafür gesorgt haben, dass du extrem abgenommen hast. Langsam beschäftigt dich diese Frage immer mehr, doch zum Glück werdet ihr bald in der Taverne sein. Allyster kann sicherlich erklären, was passiert ist.
Im Sumpfland angekommen, verlasst ihr die Straßen erst einmal. Ihr seht nun einmal wie Monster aus. Auf eurer Suche nach einem einsamen Bauernhof, wo ihr unbemerkt etwas normale Kleidung stehlen könnt, dringt ihr tiefer und tiefer in eure Heimat ein. Damit wächst die Gefahr, von Soldaten entdeckt zu werden, die euch verständlicherweise für Eindringlinge halten müssten.
Doch ihr findet auch keinen Hof. Schließlich zerschneidet ihr die letzten Reste eurer kaputten Kleidung und der Rucksäcke, um einen Mantel aus den Stücken zu nähen. Einer von euch kann sich damit in eine Siedlung begeben.
Ihr seid fast bei der Taverne, also kann sie genauso gut das Ziel eurer Mission sein. Wenn eure Freunde bereits dort sind, macht es das auf jeden Fall einfacher.
Du streifst den behelfsmäßigen Mantel über. Gemeinsam mit Elred machst du dich auf den Weg zum Waldrand. Nur noch einiger Felder sollten euch dann von der kleinen Siedlung um die Taverne trennen.
Allerdings seht ihr nichts als leere Stoppelfelder, deren Halme sich traurig im Herbstwind beugen.
„Sollten wir nicht die Gebäude sehen können?“, fragst du verdutzt.
„Eigentlich schon …“ Elred zückt den Bogen und geht ein paar Schritte vor. Während er sich geduckt über das Feld bewegt, spannt er die Sehne ein und legt einen Pfeil auf.
Du folgst ihm angespannt. Elred ist nicht getarnt. Jetzt sollte also kein Wanderer vorbeikommen!
Ihr nähert euch der Kreuzung, wo die Taverne stand. Doch es ist nur das steinerne Fundament geblieben. Ein matschiger Pfad verrät die Straße, zu deren Seiten sich Gräber erstrecken.
„Was ist hier passiert?“, fragst du entgeistert.
„Krieg“, antwortet Elred leise. „Wir sind zu spät.“
Ihr durchsucht die Ruinen der Siedlung. Nur wenige hölzerne Pfeiler ragen in den düsteren Himmel. Die Häuser wurden abgebrannt, der Stein der Fundamente teilweise geschmolzen.
„Ich kenne nur eine Waffe, die so etwas kann“, sagt Elred leise. „Drachenfeuer.“
„Dann haben sie uns angegriffen.“ Dir läuft ein Schauer über den Rücken.
„Wir müssen nach Sonnengrund“, stellt der Elf fest. „Und zwar schnell!“
°°°
Also reist ihr weiter nach Norden. Auf eurem Weg trefft ihr keine Menschen mehr, ihr findet überhaupt kein Zeichen von Leben. Nur manchmal stoßt ihr auf die skelettierten Leichen auf Schlachtfeldern, die niemals leergeräumt wurden. Die Toten sind sowohl Menschen als auch Jenseitswesen wie Orks oder Dunkelelfen. Offenbar blieb niemand am Leben, der die Toten bestatten konnte.
All das ist nicht erst ein paar Wochen her. Ihr wart mindestens ein Jahr fort! Langsam glaubst du, dass die Kreatur in Aak euch doch getötet hat und dies eure Hölle ist. Doch vielleicht dauerte eure Heilung auch nur so lange. Das Tigerauge wurde euch weggenommen und was immer eure mysteriösen Retter vorhatten, sie wurden davon abgehalten.
Kalynor wurde zerstört. Ihr findet nur noch Dörfer, die bis auf die Grundfesten niedergebrannt wurden. Auch im Sonnenland, dem Herzen von Kalynor, bietet sich kein anderes Bild. Der Winter lässt das Land dunkel und karg werden, offenbart die wild wuchernden Unkräuter auf den Feldern, die Gerippe verbrannter Kirchen und Höfe.
Nichts rührt sich. Selbst eure Hauptstadt ist fort. Der Dornenwald der Elfen ist gerodet worden. Während euch die Vorräte langsam ausgehen, suchst du weiter nach der Wahrheit unter deinen Verbänden.
Irgendwann, endlich, brichst du durch die merkwürdige Hülle. Du atmest auf, voller Hoffnung, dass du nun endlich wieder deine Haut sehen kannst. Doch aus der Lücke in der dicken Verbandsschicht, einem Röhrchen in der Dicke eines Fingers, rieselt braungrauer Sand.
Keine Haut. Kein Fleisch. Keine Knochen. Dein Arm klappt um, als du die Verbände auftrennst. Er ist hohl. Es befindet sich kein Körper unter den Schichten.
Während du Panik aufsteigen spürst, betrachtet Elred deinen Armstumpf mit ruhigem Blick.
„Ich hatte es befürchtet, Arthrax. Wir sind tot. Schon sehr lange. Ich weiß nicht, welche Magie uns zurückgebracht hat, aber sie kam zu spät. Ein Jahr ist vergangen, vielleicht sogar mehrere Jahre. Kalynor ist fort.“
Sand rieselt unablässig aus deinem Arm. Du verstehst. Ihr seid eine ebensolche Kreatur wie jene, die euch angegriffen hatte. Es ist genau wie in den unheimlichen Märchen. Die Opfer der untoten Kreaturen werden selbst zu Monstern.
„Wir müssen das doch irgendwie umkehren können!“ Hilfesuchend siehst du Elred an.
„Ein Magier hätte uns vielleicht heilen können. Aber sieh dich um. Ich glaube nicht, dass noch jemand lebt.“
Du merkst, wie mit dem Sand auch die Kraft aus deinem Körper weicht. Du sinkst in den schlammigen Grund des Reiches, das einmal Kalynor war.
Es war alles umsonst. Ihr habt verloren!
Wenn du jetzt zurückdenkst, dann war schon Aak damals zu verlassen. Die Ruinenstadt war leer, ausgestorben. Es fiel nicht auf, weil sie schon immer verfallen war, aber nun wird dir klar, dass wohl auch die Wissenssammler fort sind. Ein weiteres Opfer dieses Krieges. Der einzige Ort außer Kalynor, den ihr nun noch Zuhause hättet nennen können, weil euer neues Leben dort begonnen hat – ebenso ausgelöscht wie alles weitere.
Elred lässt sich neben dir in den Schlamm sinken. Euch bleibt nichts anderes übrig, als euch zu den Toten zu gesellen. Es ist schon längst an der Zeit.