Ein durchdringendes Knurren riss Théo aus seinem unruhigen Schlaf, sodass er blinzelnd die Augen aufschlug. Erste Sonnenstrahlen mogelten sich bereits durch die dünnen Vorhänge vor seinen Fenstern und tauchten so sein Zimmer in schummriges Licht. Einige Vögel zwitscherten und begrüßten den frühen Sonntagmorgen.
Nachdem der gerade noch so real wirkende Traum langsam verblasste, entdeckte er Oscar, der an seinen Füßen kauerte. Der ein wenig dickliche rot-braune Kater gab das laute Knurren, das ihn aufgeschreckt hatte, von sich und starrte feindselig durch den kleinen Spalt zwischen Tür und Türrahmen, hinaus in den dunklen Flur.
Théo lehnte eben jene Tür jede Nacht nur an, weil er es mochte, wenn Oscar sich zu ihm legte, leise schnurrte und seine Beine wärmte, indem er sich mal wieder an diese kuschelte.
Noch nie hatte das Tier ihn allerdings mitten in der Nacht geweckt und so spähte auch er in den finsteren Flur.
Eine weibliche Stimme drang leise zu ihnen vor und Oscar legte die Ohren an - das Knurren wurde nur noch vehementer. Überrascht zog Théo die Augenbrauen hoch - was hatte Oscar denn nur?
Es war nicht ungewöhnlich für seine Mutter, dass diese Dank ihres milde gesagt etwas kränkelndem Schlafrhythmuses nachts wach wurde und hungrig zum Kühlschrank schlich. Nicht selten hatte ihr Fluchen Théo schon geweckt, wenn sie mal wieder über etwas gestolpert war, wie zum Beispiel über Oscars Lieblingsspielzeug - ein ziemlich großes Stoff-Küken - oder die kleine Türschwelle zwischen Wohnzimmer und Küche.
Sobald Théo sich bewegte, um der Angst des Tieres auf den Grund zu gehen, sprang der Kater auf und huschte durch die Tür. Seufzend zog Théo sich ein Shirt und die Jogginghose über, die über seinem Schreibtischstuhl hing und folgte Oscar, der ihn bereits an der Treppe erwartete und aus seinen grünlich gelben Augen, die den Schein seiner Handy-Taschenlampe reflektierten, zu ihm hinauf sah.
"Na dann, lass uns bei Maman vorbeischauen, wenn du dich dann besser fühlst", murmelte Théo an den Kater gewandt und schlurfte die Treppe hinab - Oscar folgte ihm auf dem Fuße.
Überrascht blieb Théo jedoch wieder stehen, als er die offene Haustür erblickte und lauschte. Nichts als die Rufe der Vögel war zu vernehmen und so streckte er den Kopf durch die Tür und suchte den Garten nach seiner Mutter ab - nichts. Da auch ihre Schuhe noch immer an Ort und Stelle standen, schloss er die Tür wieder, vielleicht hatte Maman einfach vergessen, sie zu schließen. Mit mulmigem Gefühl in der Magengegend wanderte er weiter Richtung Küche.
Wieder hörte er jemanden fluchen, deutlicher diesmal und doch wollte die Stimme nicht so recht zu seiner Mutter passen....
Bevor Théo so recht seine Schlüsse daraus ziehen konnte, erstarrte er im Türrahmen des Wohnzimmers. Er spürte, wie Oscar sich an seinen Beinen vorbeidrückte, doch sein Blick haftete weiterhin an der jungen Frau, die auf ihrem Sofa stand und versuchte, eine fremde Katze vom daneben stehenden Schrank zu pflücken.
Das erneut von Oscar stammende Knurren ließ auch eben jene fremde Frau erstarren, die gerade die Katze zu fassen bekommen hatte. Sie drehte ihren Kopf in Théos Richtung und so trafen sich ihre Blicke.
Für einen Moment starrten die blauen Augen, die Théo erstaunlich klar erkennen konnte, verdutzt in seine, dann passierte etwas, was er im ersten Moment als nicht real abstempelte.
Der Körper der jungen Frau wandelte sich in kürzester Zeit in den einer Raubkatze, die das fremde Kätzchen, das plötzlich ziemlich klein wirkte, ins Maul nahm. Die Raubkatze war mit einem Satz von der Couch gesprungen und hielt nun direkt auf ihn zu - instinktiv duckte Théo sich und schützte seinen Kopf mit seinen Armen.
Doch wie zuvor Oscar drückte sich auch die Raubkatze nur an ihm vorbei und eilte Richtung Haustür, vor der sie rutschend zum Stehen kam. Théo beobachtete - immer noch in seiner kauernden Position - wie das Tier geschockt die Tür musterte und dann ängstlich zu ihm zurück sah. Nach einem Moment des Schocks begann der Körper sich erneut zu wandeln und die junge Frau versuchte nun mit bebenden Händen das Türschloss zu öffnen. Immer wieder blickte sie dabei zu ihm zurück, als hätte sie Angst vor ihm.
"Wer... bist du?", hörte Théo sich leise sagen und die Katzenfrau verkrampfte sich.
"Ich darf nicht mit dir reden, Mathéo, tut mir leid", erwiderte sie hastig und schlug sich dann die Hand vor den Mund.
"Du kennst meinen Namen?", brach es nun aus Théo heraus und sein Gegenüber schien sich immer unwohler zu fühlen. Ihr Blick huschte umher und sie hatte ihre Schultern ein wenig hochgezogen.
"Ja, damals hat Louise...-" Diesmal brach sie ab, bevor sie ihren Gedanken beenden konnte.
Théo taten sich immer mehr verwirrende Fragen auf.
"Was hat meine Mutter getan? Woher kennst du sie überhaupt?" Die junge Frau schwieg nun jedoch und wich seinem Blick aus.
"Und was machst du überhaupt hier?" Théo starrte sie an, in ihm kämpfte die Verwirrung gegen den Gedanken an, dass er vielleicht Angst vor ihr haben sollte, doch irgendwie wirkte sie beinahe bemitleidenswert, wie sie dort stand und angespannt nach einem Ausweg suchte. Wieso eigentlich tat sie sich so schwer mit ihrem Türschloss? Es war eigentlich in keiner Weise außergewöhnlich...
"Schhhh...! Wenn Louise mich hier sieht, dann..." Der Gedanke schien sie noch mehr zu verängstigen und so warf sie ihm einen flehenden Blick zu.
"Bitte, lass mich einfach raus. Dann können wir auch reden." Die junge Frau tat ihm nun endgültig Leid und so kam er vorsichtig näher - sie wich zurück - und öffnete erst das Schloss und dann die Tür. Erleichtert huschte sie hindurch, ihre Katze fest im Arm und wartete entgegen Théos Befürchtungen tatsächlich auf ihn.
Unschlüssig standen sie sich nun gegenüber.
"Was soll's", seufzte die junge Frau. "Folge mir einfach, hauptsache wir müssen nicht länger hier bleiben." Sie wollte schon vorangehen, doch dann drehte sie sich noch einmal um.
"Oh, entschuldige, ich bin übrigens Lina." Sie schenkte ihm ein nervöses Lächeln. "Ich bin wohl ein wenig aus der Übung, was den Kontakt mit non-magi-, nein, Menschen angeht..."
Bevor Théo weitere Fragen stellen konnte, hatte Lina sich schon in Bewegung gesetzt und eilte voran. Er blickte noch einmal zum Haus zurück und folgte ihr dann.
Zu seinem Erstaunen - nun, vielleicht hätte es ihn nicht überraschen sollen - führte Lina ihn durch das Feld, an dass ihr Grundstück angrenzte und dann weiter in den dahinter liegenden Wald. Er beobachtete sie fasziniert dabei, wie sie sich so behände und selbstverständlich durch das Unterholz schlängelte, als wäre es ihre zweite Heimat.
"Wohin gehen wir?" Lina blickte zu ihm zurück und lächelte ihn vorsichtig an. Trotz des schummrigen Lichts leuchteten ihre Augen immer noch unnatürlich.
"Zu mir nach Hause." Überrascht legte sich Théos Stirn in Falten.
"Du lebst im Walld? Allein?" Nun mäßigte Lina ihr Tempo etwas, sodass er zu ihr aufschließen konnte und so stapften sie Seite an Seite durch den Wald.
"Nein, naja...", begann sie. "Ein paar Tiere leben bei mir, ich erforsche sie." Sein Blick fiel wieder auf das Kätzchen, dem es in Linas Armen mittlerweile ganz gut zu gefallen schien.
"Sind es Katzen?" Die junge Frau schmunzelte, doch sie versuchte es vor ihm zu verbergen.
"Nein, Elise ist die Einzige."
Nachdenklich betrachtete er Lina von der Seite. Die braunen Haare waren in einen zweckmäßigen Dutt gezwungen worden und sie trug Jeans und T-Shirt. Es ließ sie seltsam normal wirken und doch waren da immer noch ihre geschmeidigen Bewegungen, die nicht so recht zu ihrer schmalen Statur passen wollten.
Sie schien aus irgendeinem Grund seine Familie zu kennen und doch wich sie seinen Fragen immer noch aus. Was versuchte sie also vor ihm zu verbergen?
Mit einem "So" lenkte Lina seine Aufmerksamkeit auf ein gedrungenes Haus, dass sich im Grün zu verstecken versuchte. Es fügte sich in den Wald ein, als wäre es kein Fremdkörper und Théo staunte nicht schlecht, als er bemerkte, dass einer der Bäume doch tatsächlich aus dem Dach des Gebäudes ragte.
"Hier wohnst du?", fragte er mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Skepsis. Lina schritt einfach durch die offen stehende Haustür und wartete, bis Théo ihr folgte. Sobald er ihr Zuhause betreten hatte und sich umsehen wollte, schob sie ihn auf eine Treppe zu und er versteifte sich. Lina nahm davon jedoch keine Notitz und drängte ihn weiter, sodass er nicht weiter nach dem suchen konnte, was sich dort gerade bewegt hatte.
Die hölzernen Treppenstufen sahen alt aus und waren ziemlich unregelmäßig, sodass es schwierig war, darauf zu laufen. Nachdem Théo also die seltsame Treppe erklommen hatte, fand er sich in einem ausgebautem Dachboden wieder, der ihm den Atem raubte.
In die Dachschrägen waren mehrere Fenster eingebaut worden, die den kleinen Raum mit Tageslicht fluteten. Wenn man durch sie hindurch sah, blickte man in die grünen Baumkronen und einige Blätter hingen so dicht, dass man auf ihnen den frischen Morgentau erkennen konnte.
"Das ist unglaublich...", murmelte er und drehte sich zu Lina um, die ihn neugierig beobachtete.
Immernoch hatte sie die Katze auf dem Arm, doch die sah plötzlich ganz anders aus. Théo war sich eigentlich ziemlich sicher gewesen, dass sie vorher nicht schwarz und vor allem nicht so mager gewesen war. Als das Tier ihm den Kopf zuwandte, schrak er vor den riesigen blauen Augen zurück, die ihn skeptisch musterten.
"Keine Angst, das ist immer noch Elise", redete Lina leise auf ihn ein und streichelte das Wesen am Kopf, als sei das nichts ungewöhnliches.
"Sie ist ein Matagot, sie beschützt mich und die anderen. Nur hier zeigt sie ihre wahre Gestalt." Théo wusste weder so recht, was er darüber denken sollte, noch was er sagen sollte, doch das schien Lina nicht zu stören.
"Sie ist total vernarrt in euren Kater und läuft mir ständig weg", berichtete sie genervt, doch ihr Mundwinkel zuckte nichts desto trotz.
"Dann darf ich sie immer wie heute von irgendwo einfangen, aber ins Haus geschafft hatte sie es bisher noch nie." Sie setzte das Tier ab, dass sich träge umsah, als würde es überlegen, was es jetzt am besten tun sollte. Lina hingegen ging nun auf das gemachte Bett in der Mitte des Raumes zu und sammelte die dutzenden losen Zettel ein, die dort verstreut lagen. Auch auf dem Schreibtisch sah es nicht besser aus und selbst an den Wänden hingen einige Blätter - sogar einige skizzenhafte Zeichnungen.
So sahen Forschungen also aus.
"Weißt du... also damals, da hat Louise..." Lina saß auf ihrem Schreibtischstuhl und blickte angespannt zu ihm auf.
"Meine Mutter hat was?", versuchte Théo sie vorsichtig zum Weiterreden zu ermuntern.
"Deine Stiefmutter", korrigierte Lina nun und er hob die Augenbrauen.
"Ihr wohntet damals erst seit Kurzem hier und meine Mutter war Ärztin und als dann das mit deinem Vater passierte, da brachte Louise ihn zu uns." Théo starrte sie an. Nach dem Autounfall seines Vaters wurde er ins Krankenhaus gebracht, aber sicherlich nicht zu Linas Eltern.
Sie schien seine Skepsis zu sehen, denn sie fuhr fort zu erklären.
"Es gibt noch mehr Wesen wie Elise, auch gefährlichere - also, wenn man nicht weiß, wie man mit ihnen umgehen muss." Seine Augen huschten zu den Skizzen zurück, die er bisher für reine Fantasiegebilde gehalten hatte und er schluckte.
"Das mit Clement war ein Unfall. Louise wollte ihm ihre Welt zeigen und hat ihn in einen magischen Zoo mitgenommen." Théo stutzte bei diesem Wort.
"Magisch...?" Lina jedoch schien ihn gar nicht zu hören und stattdessen ganz in ihre Geschichte vertieft zu sein.
"Wie das Schicksal so wollte, brach genau an diesem Tag ein junges Graphorn auf unerklärliche Weise durch die Schutzzauber und... nunja, verletzte während seiner Flucht Clement." Théo stolperte Richtung Bett und ließ sich darauf fallen. Er wusste nicht, was er von Linas Worten halten sollte. Es klang so absurd, aber immerhin saß sie als lebendes Beispiel vor ihm, dass es noch mehr gab, als die meisten Menschen wussten.
Sollte es wirklich wahr sein, dass sein Vater überhaupt nicht bei einem Autounfall sein Bein verlor und die vielen Narben davongetragen hatte?
"Hey..." Lina stand plötzlich vor ihm und legte ihm ihre Hand auf die Schulter.
"Tut mir leid, ich hätte das wohl einfühlsamer ausdrücken sollen..." Sie suchte nach seinem Blick und so sah er in ihre großen, blauen Augen, die ihn mitfühlend ansahen.
"Meine Mutter tat was sie konnte, aber sein Bein war nicht zu retten", fuhr sie bedauernd fort.
"Weißt du noch mehr darüber? Was genau passiert ist? Oder wo? Oder...", fragte er mit dünner Stimme, doch sie schüttelte ihren Kopf.
"Ich war damals noch zu klein, als dass meine Mutter mir das anvertraut hätte."
Lina ließ ihm ein paar Minuten, um das gehörte zu verarbeiten, doch auch die reichten noch nicht, um mit dieser neuen Wahrheit klar zu kommen.
"Deshalb hat Louise sich entschlossen, ihre Welt vor dir geheim zu halten. Weil sie ihr beinahe ihren Mann genommen hat." Gänsehaut bildete sich auf Théos Armen, als die verschwommenen Erinnerungen zurückkamen, in denen sein Papa im Rollstuhl gesessen hatte.
"Wieso sprichst du von ihrer Welt? Woher kannte meine Mutter all das?"
Lina setzte sich neben ihn und schluckte. Ihre Hand wanderte zu ihrer Hüfte und schob ihr Shirt ein Stück hoch. Théo fragte sich schon, was um Himmels Willen sie da tat, als er dort etwas bemerkte. Lina zog einen hölzernen Stab aus einer ledernen Halterung.
"Louise ist wie ich, wie meine Mutter. Wir sind... Hexen." Théo blinzelte mehrfach. Dann sprang sein Blick zwischen dem Stab und Lina hin und her. Das war doch wohl nicht ihr Ernst, oder?
"Ahja", war alles, was er darauf erwidern konnte und doch wurde ihm mulmig, als sie das dünne Ding in ihre rechte Hand nahm. Sie murmelte etwas und machte eine schwingende Handbewegung. Théos Blick suchte nach dem, auf das ihr Stab zeigte und hielt die Luft an.
Eines der Blätter aus dem Durcheinander ihres Schreibtisches schwebte in der Luft und faltete sich nun wie von Geisterhand zu etwas, dass einer Maus ziemlich ähnlich war.
Diese huschte nun raschelnd über den Schreibtisch und kam mit einem leisen Plumps auf dem Fußboden auf.
Mit einem Satz war Elise dem ehemaligen Blatt hinterher gesprungen und verfolgte es nun durch die Tür Richtung Treppe.
Nun spürte er Linas Blick auf sich und sein Körper kippte einfach nach hinten, ließ sich von der Schwerkraft mitziehen, sodass er nun durch eines der Fenster ins Blätterdach aufblickte. Wieso hatte er von all dem nichts gewusst? Wenn seine Mutter tatsächlich so war, wie Lina und der Unfall gar nichts mit einem schlafenden Fahrer an einer Kreuzung zu tun hatte - wie konnte er das all die Jahre über nicht bemerken?
Im Nachhinein erinnerte er sich an so viele kleine Sachen, die ihn eigentlich hätten nachdenklich machen müssen, doch er hatte sie einfach akzeptiert und für ganz normal gehalten.
Louises Lieblingsvase zum Beispiel wechselte ab und an Farbe und Muster - sie hatte ihm erklärt, das läge an der Sonne. Die kleine Pinguinfigur, die immer im Bad stand, als er noch kleiner war, erzählte einem den Wetterbericht in einer lustigen, quitschigen Stimme, wenn man sie danach fragte.
"Mathéo?" Er drehte seinen Kopf zur Seite und begegnete Linas Blick.
"Bitte, nenn mich Théo." Sie nickte nur und musterte ihn besorgt.
"Soll ich dich wieder nach Hause bringen?" Théo entrang sich ein Seufzen, das er eigentlich hatte unterdrücken wollen.
"Nein. Ich möchte wissen, was sie mir die ganze Zeit verheimlicht haben." Bei seinem verbitterten Tonfall zuckte Lina zusammen und legte ihm dann sacht ihre Hand auf den Arm.
"Sie wollten dich nur beschützen. Sie haben Angst um dich." Théo setzte sich auf und verschränkte die Arme - aus den Augenwinkeln nahm er wahr, wie Lina ihre Hand hastig wegzog.
"Sie hätten mit mir reden sollen, ich bin kein Kind mehr." Darauf hatte nun auch Lina nichts mehr einzuwenden und so saßen sie eine Weile stumm nebeneinander.
Théo war so aufgewühlt, er bemerkte gar nicht, wie Linas Blick auf ihm ruhte. In ihm mischten sich Enttäuschung, Wut und eine Prise Überforderung zu einem chaotischen Gefühlscocktail zusammen.
"Komm mit, ich zeige dir etwas." Lina bot ihm mit einem scheuen Lächeln ihre Hand an.
Das erinnerte Théo daran, dass er seine Gefühle nicht an ihr auslassen sollte, da sie einerseits überhaupt nichts dafür konnte, dass seine Eltern nicht ehrlich zu ihm waren und andererseits sichtlich unsicher war im Umgang mit Menschen.
Also ließ er sich aufhelfen und von Lina die Treppe herunterziehen. Er stolperte beinahe die ungleichmäßigen Stufen hinunter, so eilig hatte sie es und er musste lächeln.
Erst als sie das Ende der Treppe erreicht hatten, wurden Linas Schritte etwas langsamer und sie führte ihn in das Zimmer, von dem sie ihn beim Eintreten noch fieberhaft fern halten wollte. An der linken Seite befand sich eine gewaltige Werkbank, auf der unzählige Gegenstände lagen. Théo entdeckte dort unterschiedliche Lupen, Pinzetten, eine Art Nagelpfeile, einen Handschuh und von der Decke hing ein Schlüsslbund an einer langen Schnur.
Einge der Schubfächer standen offen und wie auch auf dem Dachboden befanden sich auch hier unzählige Zettel - es war ihm ein Rätsel, wie Lina sich in diesem Chaos zurechtfinden konnte. Auf all dem Chaos thronte ein Buch, das seine Neugier weckte. Théo trat näher heran und las: 'Phantastische Tierwesen und wo sie zu finden sind - Newt Scamander'. Merkwürdiger Titel...
Neben dem Schreibtisch bemerkte er eine weiche Decke, in deren Mitte sich eine Kuhle geformt hatte, in der sich einige Haare gesammelt hatten - er sah zu Lina hinüber, die ihm jedoch ihren Rücken zugewandt hatte und vor einer Art Gehege stand, die er eigentlich nur von Kaninchen kannte.
In diesem Gehege hier erblickte er jedoch zwei plüschige Bälle - der Kleinere in einem klalligen Pink bis Violett, der Größere in schlichtem Cremefarben.
Théo blinzelte überrascht, als sich der hellere bewegte und eine lange, rosafarbene Zunge zum Vorschein kam, die sich um einen dunklen Fussel schlang und den in dem kleinen Geschöpf verschwinden ließ. Fasziniert hockte er sich vor das kleine Wesen und erblickte dessen winzige, schwarze Knopfaugen.
"Das ist Enzo, mein Knuddelmuff", Lina zeigte auf den größeren, der Théo gerade neugierig anstarrte, "und das ist Clara, ein Minimuff." Damit deutete sie auf den Pinken, der sich noch immer nicht bewegt hatte. Vielleicht schlief er?
"Sie ernähren sich von Dreck und Müll und ich versuche herauszufinden, wovon es abhängt, was sie gerne fressen oder was sie lieber liegen lassen und ob man es irgendwie beeinflussen kann." Ungläubig musterte er die kleinen Wesen. Enzos Zunge suchte schon wieder nach einem Leckerbissen und fand diesmal einen Faden, den er genüsslich in sich verschwinden ließ.
Lina trat neben ihn, öffnete die Klappe des Geheges und griff nach dem hellen Flauschball.
"Willst du ihn mal halten?", bot sie ihm an und er streckte neugierig seine Hände aus. Als Lina den Kleinen auf seine Handfläche setzte, spürte er die vier kleinen Füßchen kalt auf seiner Haut. Mit der anderen Hand streichelte Théo vorsichtig über das weiche Fell und stellte fest, dass der Körper regelrecht winzig sein musste, unter all dem Flausch. Wieder ging Enzos Zunge suchend auf Wanderschaft und hatte eine Haarsträhne gefunden, bevor Théo es verhindern konnte. Im Bemühen, seine Beute zu verputzen, zupfte Enzo immer energischer an der Strähne und Théo begann zu lachen - Lina stimmte mit ein.
Mit einem Finger kraulte sie den Knuddelmuff da, wo eigentlich sein Kinn sein müsste und sogleich fing das kleine Tier zu Brummen und zu Vibrieren an und die lange Zunge ließ von Théos Haaren ab. Konnte das Ding eigentlich noch knuffiger werden...?
"Da hinten sitzt Jade, ein Fwuuper." Sie zeigte auf eine der Raumecken, in der eine Stange von der Decke hing, auf der ein prächtiger Vogel, mit strahlend grünem Gefieder saß. Jade legte seinen Kopf schief, als er merkte, dass er gemustert wurde und zwitscherte hinreißend.
"Fwuuper stammen ürsprünglich aus Afrika, aber Jade wird komischerweise kränklich, wenn er zu viel Sonne abbekommt. Deshalb muss er tagsüber drinnen bleiben."
Lina ging zu Jade und strich ihm über den Kopf. Der Vogel, dessen Körperform Théo an einen umgekehrten Wassertropfen erinnerte, drückte sich liebevoll der Berührung entgegen.
"Und was erforscht du an ihm?", fragte Théo und schloss mit Enzo in der Hand zu Lina auf.
"Seinen Gesang", war alles, was sie antwortete und er musterte das schöne Tier neugierig. Was war an seinem Gesang so außergewöhnlich?
"Draußen sind noch ein paar andere, aber die kann ich dir nur von weitem zeigen." Lina ging voran und öffnete ihm eine Tür, die nach draußen zu führen schien.
"Was ist mit Enzo?" Er deutete auf die Kugel, die schon wieder an ihm zupfte - diesmal an den kleinen Härchen auf seinem Arm.
"Er scheint dich zu mögen, nimm ihn ruhig mit." Licht flackerte auf und erhellte den Raum, in den Lina ihn nun geführt hatte. Er wirkte wie eine Abstellkammer mit Gartengeräten, nur dass diese eher unüblichen Geräte wohl eher für Linas unübliche Haustiere gedacht zu sein schienen.
Durch eine weitere Tür gelangten sie nun nach draußen auf eine Lichtung mit unterschiedlich großen Gehegen zwischen denen ausgetretene Trampelpfade entlangführten. In einem der vorderen Gehegen erblickte Théo sogleich eine dunkle Raubkatze, die auf einem Stein lag und die Sonne genoss, doch die glühend gelben Augen hatten ihn längst erfasst. Das gräulich-braune Fell schien dünn und lag am muskulösen Körper an, sodass er selbst die stachelartigen Auswüchse erkennen könnte, die vor allem seine Halsgegend und die Flanken des Tieres bedeckte.
"Setz dich einfach", Lina deutete auf einen großen, abgerundeten Stein in der Nähe der Hauswand, von dem aus er einen guten Blick auf alles haben würde.
"Der Nundu ist einer meiner Pflegefälle. Das Zaubereimininsterium hat ihn mir anvertraut, nachdem er aus 'nicht artgerechter' Haltung befreit wurde." Es war Lina klar anzusehen, dass sie mit dieser Einschätzung nicht übereinstimmte und sie fuhr auch sogleich fort.
"Es hat Wochen gedauert, bis er mich überhaupt in meiner Tiergestalt an sich herangelassen hat und dann habe ich die Narben gesehen. Das war mehr als nicht artgerecht." Die Verbitterung in ihrer Stimme zeigte Théo deutlich, wie wichtig ihr diese Wesen waren und wie sehr sie mit ihnen mitfühlte.
"Langsam sollte ich allen ihr Frühstück bringen, ich hoffe das stört dich nicht." Lina sah fragend zu ihm und er schüttelte lächelnd seinen Kopf, sodass sie im nächsten Moment schon im Haus verschwunden war. Wie sie ihm angeboten hatte, setzte Théo sich auf den Stein, setzte Enzo auf seinem Schoß ab und lehnte sich gegen die Hauswand.
Noch immer spürte er den wachsamen Blick des Nundu, dem er seine Skepsis gegenüber Menschen jedoch nicht verübeln konnte.
Im Gehege neben dem des Nundu entdeckte er kein Wesen, doch weiter hinten in einigen Metern Entfernung, in einem wesentlich kleinerem Gatter erkannte er gerade so noch ein gräuliches Wesen mit kurzen Beinchen, die in tapsige Entenfüßen übergingen und mit langem Hals. Es war sofort in eine hölzerne Hütte gehuscht, doch auch in der Dunkelheit konnte er vage zwei große blaue Augen erkennen.
Lina war mittlerweile wieder aufgetaucht und trug nun zwei große Eimer umher. Den ersten Eimer entleerte sie in das Gehege des Nundus, der sogleich lautlos und geschmeidig von seinem Sonnenplatz sprang und sich über das Frischfleisch hermachte.
Zu Théos Erstaunen näherte sich Lina nun auch behutsam dem leeren Gehege und streckte ihre Hand mitsamt eines Fleischstücks durch die Stäbe. Théo vergaß zu atmen, als etwas vom Fleisch abbiss und dieses bald schon ganz verschwunden war.
"Du kannst es nicht sehen, oder?", wandte sich Lina an ihn und tätschelte nun das unsichtbaren Tier. Sein Blick reichte ihr wie es schien als Antwort.
"Nur diejenigen, die jemanden haben sterben sehen, können Thestrale sehen. Es sind schwarze, geflügelte Pferde", erklärte sie ihm niedergeschlagen. Er fragte sich, an wen sie gerade dachte. Wer war vor ihren Augen gestorben? Fragen wollte er jedoch nicht, um alte Wunden nicht unnötig wieder auf zu reißen.
Stumm ging Lina nun zum letzten Gehege weiter, in dem sich das scheue Wesen befand, dass sich immer noch vor ihm versteckte. Die junge Frau hockte sich vor die Stäbe, und schien etwas zu streuen, das jedoch lediglich in Zeitlupe gen Boden segelte.
Zuerst steckte der kleine, graue Kerl nur seinen Kopf aus seinem Versteck und fixierte die kleinen Futterbrocken mit seinen großen Augen, dann watschelte es auf seinen vier Entenfüßen auf Lina zu und schnappte nach dem beinahe schwebendem Futter. Amüsiert schüttelte Lina ihren Kopf und kam zum Haus zurück. Sie sellte die beiden Eimer an der Wand ab und kam dann zu ihm.
Théo haderte eine Weile mit sich, ob er Lina wirklich fragen sollte, aber dann gewann sein Verlangen zu zeichnen.
"Lina?" Sie sah ihn fragend an.
"Hast du ein Stück Papier und einen Stift für mich?" Ein wenig verwirrt nickte sie und verschwand im Haus, schon wenig später kam sie jedoch zurück, setzte sich neben ihn und reichte Théo ein Blatt und einen Kugelschreiber. Dankbar lächelte er Lina an und richtete dann seinen Blick auf den Nundu, der schon wieder wachsam auf der Anhöhe lag.
Mit vorsichtigen Bewegungen bannte er die groben Umrisse des Nundu auf das Blatt und spürte sofort Linas neugierigen Blick.
"Wohnst du hier ganz allein?", wandte sich Théo nun an sie, um von seiner Zeichnung abzulenken.
"Ja. Meine Eltern haben mir dieses Haus zu meinem achtzehnten Geburtstag geschenkt - ich war überglücklich." Er musterte sie vorsichtig von der Seite und stellte fest, dass ein verträumtes Lächeln auf ihren Lippen lag.
"Fühlst du dich nicht einsam, so ganz allein im Wald?" Jetzt schmunzelte sie und schüttelte ihren Kopf.
"Für einen Animagus, der sich in seiner Tiergestalt am wohlsten fühlt, ist das genau das Richtige."
Die Halspartie der Raubkatze stellte sich als schwierig heraus, genauso wie die kleinen Stacheln an seinen Flanken, doch davon ließ Théo sich nicht abschrecken. Es sollte nicht perfekt werden, er wollte nur eine kleine Erinnerung an Lina und ihre Wesen.
"Was ist ein Animagus?", fragte er nun weiter und begann das kleine graue Wesen mit seinen Entenfüßen neben den Nundu zu zeichnen, sodass dieser den Kleinen nicht sehen konnte - er würde ihn sonst bestimmt zu gerne verspeisen.
"Animagi sind Zauberer oder Hexen, die eine Tiergestalt annehmen können, so wie ich." Théo setzte seinen Kugelschreiber ab.
"Kannst du...? Darf ich sie nochmal sehen? Deine Tiergestalt?" Überrascht trafen Linas blaue Augen auf seinen Blick. Verlegen lächelnd schlug sie dann die Augen nieder.
"Das möchtest du wirklich...?", hinterfragte sie leise und er antwortete mit einem ebenso leisem "Ja". Diesmal dauerte es erheblich länger, bis Linas Körper sich gewandelt hatte und er konnte beobachten, wie sich ihre Glieder verformten und das Fell wuchs.
Dann lag neben ihm eine Raubkatze mit braun-grauem Fell, das kleine schwarze Punkte besaß. Der rundliche Kopf war von längeren Haaren umrahmt, die so weich aussahen, dass sie zum Berühren einluden und um die Augen besaß das Tier eine hübsche Zeichnung. Die kleinen schwarzen Puschel an seinen Ohren verrieten nun auch Théo, der sich mit Raubkatzen nicht sonderlich auskannte, dass Linas Tiergestalt ein Luchs war.
Zögerlich streckte er nun eine Hand nach ihrem weichen Fell aus, doch eine Bewegung ließ ihn erschrocken innehalten. Als er jedoch erkannte, dass es Linas kurzer Schwanz war, der aufgeregt über den Boden fegte, ließ er seine Finger doch über ihr weiches Fell gleiten. Genießerisch schloss die Katze unter seiner Berührung die Augen und er verlor seine Scheu vor dem Tier.
Er bemerkte schnell, dass sie besonders gern an ihrem Kinn gekrault werden wollte und ließ sich auch von ihrem eher grollenden Schnurren nicht einschüchtern.
Stattdessen schlich sich ein Lächeln auf seine Lippen, als er Lina so sah, wie sie sich genießerisch von ihm streicheln ließ. Die Anspannung und das bisschen Unsicherheit, dass in ihrer menschlichen Gestalt nie so richtig von ihr abgefallen war, waren nun verschwunden. Lina fühlte sich in ihrer Tiergestalt wirklich wohler.
Nach einigen Minuten des Kuschelns widmete sich Théo wieder seiner Zeichnung und versuchte seine plötzliche Freude nicht so deutlich zu zeigen, als der Luchs kriechend näher kam und ganz vorsichtig seinen Kopf in Théos Schoß ablegte. Dabei stupste die Schnauze des Tieres den schlafenden Enzo an, der blinzelnd den Luchs bemerkte und sich - als wäre dieser nicht um einiges größer als er - an Linas Schnauze kuschelte.
Diesen faszinierenden Anblick musste er unbedingt festhalten und so versuchte er die beiden möglichst originalgetreu neben den Nundu zu zeichnen, auch wenn er sich nicht sicher war, ob das im relaen Leben eine so gute Idee sein würde.
Die Zeit verging in ruhiger Harmonie. Lina döste auf seinem Schoß, Enzo schlief mal wieder tief und fest und Théo erweckte nach und nach Linas Tierwesen auf seinem Blatt zum Leben, selbst Jade hatte er nicht vergessen, auch wenn er ihn nun aus seinem Gedächtnis zeichnen musste.
Dann, Théo wusste nicht, wie lange sie nun schon so dasaßen, erinnerte ihn sein Handy mit einem Vibrieren daran, dass es auch noch ein Leben außerhalb von Linas surrealem Waldhaus gab.
Seine Eltern machten sich bereits Sorgen und fragten, wo er war.
Lina schien etwas bemerkt zu haben, denn ein blaues Auge fixierte nun sein Handy und ein träges Schnauben entfuhr ihr. Wie von selbst strich seine Hand über ihren Kopf und sie drückte sich ihm entgegen.
Spürbar widerwillig stand Lina nun auf und stupste ihn an - ein sicheres Zeichen, dass er nun auch aufstehen musste. Sein trauriges Seufzen unterdrückend nahm er Enzo in die Hand und folgte dem Luchs ins innere des Hauses. So brachten sie den Knuddelmuff in sein Gehege zurück und verließen das Haus, steuerten schweigend den Rückweg an.
Théo störte es nicht, dass Lina immer noch in Luchsgestalt neben ihm hertrottete, im Gegenteil. Sie schien viel unbeschwerter und ging viel zutraulicher mit ihm um, als sie es in ihrer menschlichen Gestalt tat.
Am Waldrand verlangsamten sich die Schritte des Luchses neben ihm und Lina setzte sich, den Blick auf Théos Zuhause gerichtet. Die blauen Augen sahen niegergeschlagen zu ihm auf.
Théo hockte sich also vor das Tier und schlang seine Arme um den weichen Körper, Lina drückte sich brummend gegen ihn.
"Ich komme wieder", murmelte er in das warme Fell und fiel gleich darauf lachend nach hinten, als eine raue Zunge über seine Wange fuhr.
"Ja, ich mag dich auch", erwiderte er grinsend und spürte dann, wie ihm die Röte in die Wangen kroch, als er sich bewusst wurde, was er da eigentlich gerade gesagt hatte.
Lina schien das nicht zu stören, im Gegenteil. Ihre Ohren stellten sich überrascht auf und dann drückte sie ihren Kopf gegen seine Brust. Damit drängte sie ihn allerdings gleichzeitig weiter Richtung Feld und machte ihm bewusst, dass sie nicht ewig hier bleiben konnten.
Seufzend richtete er sich also auf, kraulte Lina ein letztes Mal hinterm Ohr und trottete dann auf das Feld zu, dass er eher widerwillig durchquerte. Vor seiner Haustür sah er noch einmal zum Wald zurück und entdeckte zwei blaue Augen, die ihm aus dem Unterholz entgegenstrahlten. Mit einem Lächeln öffnete er die Tür und betrat sein Zuhause.
Er musste mit seinen Eltern reden, sie mit dieser anderen Welt konfrontierten, die Lina ihm gezeigt hatte. Und er musste umbedingt erfahren, was genau damals mit seinem Papa passiert war.
Als er ins Wohnzimmer kam, erblickte er jedoch nicht seine Eltern, sondern lediglich Oscar, der ausgestreckt auf der Couch lag und ihn aus großen Augen ansah, ganz so, als wüsste er, was alles passiert war. Théo musste schmunzeln und fragte sich, ob Oscar bei seinen Ausflügen in Garten und Feld nicht auch ab und an in den Wald schlich, um eine ganz bestimmte Katze zu treffen, die ja so vernarrt in ihn zu sein schien.
Bald würde Théo wohl mit ihm in den Wald schleichen...