Jetzt saßen sie beide da, auf dem Schotterboden, mit dem Rücken an die weiß verputzte Außenmauer des Sportheims gelehnt. Beide blickten parallel auf den spärlich beleuchteten Weg, noch immer zirpten die Zikaden und noch immer wehte ein warmer sanfter Wind – eigentlich die perfekte Sommernacht.
Marie stützte ihre Hände auf den Boden und stand auf. Fabian war ein bisschen erschrocken und wunderte sich, wo sie hinwollte. „Wollte sie ihn hier alleine sitzenlassen? Jetzt wo sie solange nebeneinandergesessen hatten, jetzt wo er ihr sein ganzes Herz ausgeschüttet hatte?“
Er schaute sie verwundert an, wie sie aufstand und in Richtung Eingangstür ging. Anstatt hineinzugehen blieb sie genau bei den vier Rauchern stehen und tippte einen von ihnen an. „Was tut sie da“, fragte sich Fabian verwundert. „Wollte sie jetzt die Party auflösen?“. Nachdem Marie den Typen irgendwas gefragt hatte, blickte dieser sie mit großen Augen an. Seine Reaktionszeit musste sich deutlich verlangsamt haben. Nun hatte er auch seinen Mund weit aufgerissen, so, als ob er extrem überrascht worden wäre. Stutzig wandte er sich Marie zu: „Dein Ernst, Marie? Von dir hätte ich das nie gedacht“. Auch Fabian war stutzig geworden und versuchte zu erahnen, was Marie wohl gefragt haben könnte. Sie sagte erneut etwas, dieses Mal hörte Fabian genauer hin: „Komm schon, ich habe immerhin die ganze Party hier organisiert!“, bettelte sie den Raucher an. Er erwiderte nach kurzem Zögern: „Na gut, aber nur heute und nur, weil du es bist.“ Der Typ griff in seine Hosentasche und zog ein silbernes Kästchen heraus. Er öffnete es, nahm einen Joint heraus und gab ihn Marie. Sie sah ein wenig unbeholfen aus, schließlich hatte sie noch nie einen Joint in der Hand, nicht einmal eine normale Zigarette. Ihr war ein bisschen mulmig geworden, aber sie war fest davon überzeugt, dass jetzt die richtige Zeit war, es einmal zu probieren. Ein anderer, kleinerer Raucher hatte ein Feuerzeug in der Hand. Er streckte es Marie hin und sagte: „Hier Marie, du coole Sau“ und Marie beugte sich, den Joint im Mund, nach vorne und zog kräftig an. Sie musste sofort husten.
Fabian hatte alles gespannt beobachtet und noch immer konnte er seinen Augen nicht trauen. Das alle passte so gar nicht zu Marie. Wenn einer das Rauchen immer verflucht hatte dann sie, und jetzt stand sie da mit dem Joint in der Hand. Fabian verstand die Welt nicht mehr und starrte sie gebannt an, so, als würde sich gerade ein Spektakel ereignen. Marie hatte, nachdem sie furchtbar husten musste, schon drei vier Mal an ihrem Joint gezogen und ihr schien es sichtlich besser zu gehen. Langsam drehte sie sich zur Seite und blickte zu Fabian, der noch immer wie angefesselt das Geschehen beobachtete. „Komm her Fabian!“, rief sie zu ihm rüber. Fabian zuckte kurz, als er seinen Namen hörte, und realisierte erste jetzt, wie lang er Marie eigentlich angestarrt hatte. Mehrere der Raucher hatten sich auch zu ihm umgedreht. Er fühlte sich eingeschüchtert. Sein Rücken lehnte noch immer an der Wand des Sportheims. Er stütze sich auf dem Schotterboden ab und stand auf. Mittlerweile hatte er bestimmt ein halbe Stunde da gesessen. Mit kleinen Schritten ging er zur Gruppe, Marie sah ihm immer noch ins Gesicht. „Wer ist denn das?“, fragte einer der Raucher in die Runde, woraufhin Marie sofort das Wort ergriff: „Fabian“, sagte sie ohne dabei irgendwie abwertend zu klingen. Fabian war es gewöhnt, dass man seinen Namen immer mit spöttischem Unterton sagte, sodass man immer gleich hören konnte, dass er ein Opfer war. Ein wenig ermutigt ging er noch ein paar Schritte und stellte sich dann zwischen Marie und einen etwas kleinen, dicklichen Raucher. „Servus Fabian“, sagte dieser, und wirkte schon ziemlich benebelt dabei. „Hallo“, entgegnete Fabian schüchtern und blickte vorsichtig in die Runde. Alle hatten einen Joint in der Hand, kein Wunder warum, sie bis jetzt den ganzen Abend vor der Tür verbracht hatten. Marie hatte ihren Arm ausgestreckt und hielt ihm ihren Joint genau vor den Mund. Erschrocken wich Fabian etwas zurück ehe er zaghaft Marie den Joint aus der Hand nahm. Er hatte keine andere Wahl, jeder sah ihn an. „Vielleicht können finde ich ja wenigstens unter den Kiffern ein paar Freunde“, dacht Fabian und nahm einen sanften Zug. Er hatte, genauso wie Maire, noch nie geraucht. Es fühlte sich sonderbar an, den Rauch in seine Lunge zu ziehen. Fabian musste sofort husten, genau wie Marie auch. Die anderen, weit aus erfahreneren Kiffer lachten, aber irgendwie war es ein nettes Lachen, angesichts dessen, was Fabian sonst so gewohnt war. Nach dem er ein paar Mal gehustet hatte, zog er erneut an Maries Joint. „Schon besser?“, fragte Marie, die selbst erst vor ein paar Minuten das erste Mal geraucht hatte. „Geht schon“, sagte Fabian und fand die Gruppe irgendwie sympathisch. Er kannte zwar nicht einmal die Namen der anderen, aber trotzdem fand er sie nett, allein schon durch die Tatsache, dass niemand etwas dagegen hatte, dass er bei ihnen stand. Der kleine dicke Raucher, der Fabian eben schon begrüßt hatte, streckte ihm seine Hand aus. „Marco“, sagte er lässig, und Fabian brauchte einen kurzen Augenblick um zu bemerken, dass „Marco“ sich gerade vorstellen wollte. Überrascht gab ihm Fabian seine Hand und stellte sich genauso pragmatisch vor. Marco sah gesellig aus, wie der typische Chiller eben. Ein paar Pfund zu viel, ungestylte kurze Haare und Schlabberpulli. Er wirkte so, als könne ihn so gar nichts aus der Ruhe bringen, so ein „kein-Stress-Typ“ eben. Vielleicht wirkte er aber auch nur so, weil er schon den ganzen Abend mit den anderen gekifft hatte. Er nahm einen kräftigen Zug von seinem Joint und wandte sich dann zu Marie: „Sag mal Marie, wieso hast du denn so krass deine Meinung zum Thema Kiffen geändert“, fragte er mit rauchiger Stimme. Marie hatte eine ganze Weile auf den Boden geguckt und wurde aus ihren Gedanken gerüttelt. „Ich habe meine Meinung nicht geändert, ich brauch das jetzt einfach, das ist alles“, antwortete sie und klang dabei fast ein bisschen zickig. Marco warf ein kurzes „Ok, krass“ hinterher und die Runde wurde wieder ruhig. Fabian gab Marie ihren Joint zurück und spürte, dass sich irgendwas in seinem Kopf verändert hatte. Er war irgendwie lockerer geworden und besser drauf war er auch. Das erste Mal seit langem, fühlte Fabian sich von anderen akzeptiert. Er fühlte sich gar nicht mehr so gehemmt, auf andere zuzugehen, was vermutlich an dem Joint gelegen hatte. „Steht ihr jetzt schon den ganzen Abend da?“, fragte er und erhoffte sich, dass er so neue Kontakte knüpfen würde. Erwartungsvoll schaute er in die Runde. „Klar, wir chillen immer draußen, drinnen können wir ja nicht smoken“, antwortete Marco und hustete. „Ehrlich gesagt hab ich auch kein Bock auf die Tussen da drin“, sagte das einzige Mädchen unter den Rauchern, abgesehen von Marie, und klang dabei ziemlich männlich. Sie war vollschlank und ihr Haarschnitt hätte auch von einem Herrenfriseur sein können. „Sie war bestimmt eine Lesbe“, dachte sich Fabian bei diesem Anblick, was er aber irgendwie sympathisch fand. Wenn er mit einer Sorte Mädchen klarkam, dann mit solchen. Mädchen, die hart im Nehmen waren, die auch mal unter einen Fußball treten konnten, solche, die nicht gleich in Tränen ausbrachen, sobald ihnen ein Fingernagel abgebrochen war. Marie war auch eher robust und das gefiel ihm an ihr. Viele ihrer Freundinnen gingen Marie mittlerweile selbst auf den Keks. Sie erinnerte sich noch zu gut daran als sie für Lala tagelang die Seelsorgerin spielen musste, weil ihr Freund mit ihr Schluss gemacht hatte. Lala hatte sie während der Woche um zwei Uhr nachts angerufen und zwei Stunden lang vollgeheult. Marie hatte sowieso oft das Gefühl für andere da sein zu müssen. Auch Fabian war ja eigentlich immer am rumjammern. Ihre eigenen Gefühle interessierten meist niemanden, immer war sie nur für andere da...
Die vermeintliche Lesbe zog einmal an ihrem Joint und stellte sich dann den beiden vor. Nennt mich einfach „Jessy“, sagte sie gelassen und gab beiden einen festen Händedruck. „Das ihr Marie und Fabian seid, weiß ich schon“, schmiss sie hinterher und zeigte auf den etwas größeren Typen, der Marie den Joint gegeben hatte. „Und der lange Lulatsch hier Lars… der ist eigentlich ganz nett, kriegt nur seinen Mund nicht auf“, sagte Jessy, und zeigte dabei mit ihrem Joint auf ihn. Lars war es peinlich, dass er sich nicht einmal selbst vorgestellt hatte und fügte ein schüchternes „Hey“ hinzu, ehe Jessy erneut das Wort ergriff und auf den vierten und gleichzeitig letzten unter den Rauchern zeigte. „Und das hier ist der…“, sagte sie fast schon routiniert, wurde aber unterbrochen: „Halts Maul, ich kann mich selbst vorstellen… ich bin Steve, Servus!“, sagte der vierte und letzte in der Runde und wurde schon bevor er ausgesprochen hatte von Jessy auf die Schulter geboxt. Fabian und Marie mussten lachen, laut sogar und auch Jessy fing erst an zu grinsen, dann aber auch lauthals loszulachen. „Ihr seid schon lustig drauf!“, sagte Marie während sie immer noch lachen musste. „Jetzt ist mir klar, warum ihr die ganze Zeit hier draußen seid!“ fügte sie hinzu und war von der offenen und lustigen Art der Raucher angetan. Als sie durch die dünnen Wände des Sportheims, den Bass von der Musikanlage hörte, fragte sie sich, was die ganzen Leute drinnen wohl gerade machten. Steve, der am chilligsten von allen aussah, sah Marie an und wunderte sich gleichzeitig, warum nun auch sie die ganze Zeit vor dem Sportheim stand, während drinnen die Party weiterzugehen schien. „Warum hast du die ganzen Leute da drinnen eigentlich eingeladen, wenn du gar kein Bock auf sie hast?“, fragte er und Marie, die gerade erst aufgehört hatte zu lachen, wurde ein bisschen nachdenklich. „Das frag‘ ich mich gerade selber!“, antwortete sie ironisch und sah demonstrativ das Fenster des Nebenraums an. Erkennen konnte sie nichts, da die Scheibe undurchsichtig war. „Was wohl da drinnen gerade abgeht…“, überlegte sich Marie und dachte darüber nach, ob es sinnvoll wäre, nochmal reinzugehen. Eigentlich hatte sie erwartet, dass Lala oder irgendjemand anderes nach ihr sehen würde, sobald sie für mehr als ein paar Minuten verschwand. „Entweder sind die alle so besoffen, dass sie gar nicht merken, dass ich weg bin, oder ich bin ihnen einfach nur scheißegal“, murmelte Marie in sich gekehrt, und man konnte ihr ihre Enttäuschung im Gesicht ablesen…