Da waren die Schienen – aber wo war der Zug? Das war ohnehin die zentrale Frage. Wenn sie Glück hatten, konnte Spider einfach abspringen. Dann wäre alles okay.
Ein Motorrad stand am Rand der Schienen, die sich mitten durch die Savanne und die umliegende Hügellandschaft zogen. Mik saß da, hatte ein Fernglas gehoben, sah aber nicht hindurch. Wahrscheinlich war seine Nachtsicht nicht gut genug dafür.
„Irgendeine Ahnung, wo dein Bruder ist?“, fragte Pakhet, als sie den Wagen anhielt.
Er sah sich zu ihnen um, schüttelte den Kopf.
Großartig. Wenn Spider überhaupt die Wahrheit gesagt hatte, hatten sie doch keine Möglichkeit herauszufinden, wo er war.
Sie sah sich um. Knappe dreihundert Meter weiter östlich erhob sich eine Felsenformation schwarz gegen den Nachthimmel. Es war hoch genug, dass man zumindest Lichtquellen im Umkreis ausmachen konnte.
„Ich gehe einmal nachschauen“, meinte sie. Mit einem letzten besorgten Blick auf Heidenstein sprintete sie hinüber, sammelte ihre Energie, wohl wissend, dass ihre Reserven für heute sich deutlich dem Ende neigten, sprang und landete auf einem der Felsen. Von dort erreichte sie mit einem weiteren Sprung auf dem nächst höheren Fels. Es verbrauchte das, was ein Magier wohl als Mana oder was auch immer bezeichnet hätte, doch war es immer noch gegenüber Klettern zu bevorzugen.
Am Ende war sie vielleicht fünfzehn oder zwangzig Meter hoch. Nicht nennenswert, aber besser als nichts.
Das rechte Augen geschlossen sah sie sich um, schaute sowohl in Richtung Osten, als auch nach Südwesten.
Tatsächlich. Es war kein Licht, dass sie entdeckte, aber eine Dampfwolke, die in die Luft schoss. Also tatsächlich eine Dampflock?
Nun schloss sie die Augen ganz. Tatsächlich. Sie konnte es hören. Das regelmäßige Schnaufen der Kolben, ein leichtes Pfeifen. Noch war der Zug ein ganzes Stück entfernt.
Ach, diese Geschichte war doch verrückt. Wohin fuhr der Zug überhaupt? Kam die Geschichte nicht eigentlich aus Joburg? Fuhr der Zug nach Joburg? Dem Ursprung nach müsste er zu den Höfen fahren oder zum Hafen. Oder war er vielleicht unterwegs in die Anderswelt oder den Astralraum? Wenn ja hatten sie wahrscheinlich Glück ihn noch zu erwischen.
Sie hob das Handy ans Ohr, wählte Spiders Nummer.
Keine Antwort. Nicht einmal ein Freizeichen. Das Handy war aus.
Leise fluchte sie. Sie ahnte, was das bedeutete.
„Siehst du etwas?“, rief Mik von unten. Er war zum Rand der Felsen gelaufen.
„Ja. Noch knapp zwei Minuten, bis sie hier sind.“ Scheiße.
Sie kam auf den Zug. Sie wollte nur nicht auf den Zug. Sie wollte definitiv nicht auf einen Zug mit Zombies und einer Muti- oder Voodoo-Hexe oder was auch immer das war. Sie hasste Magie, die sie nicht einschätzen konnte. Sie hasste Zombies.
„Doc. Nimm den Wagen. Versuch den Schienen zu folgen“, rief sie.
„Bist du dir sicher?“, fragte er.
„Ja.“ Sie sah zur Dampfwolke hinüber. Ach, sie hatte keine Chance. „Mik. Komm hoch.“
Sie sprang auf den fünf Meter hohen Felsen hinab, machte sich bereit. Von hier aus sollte sie am leichtesten auf den Zug kommen. Irgendwie ahnte sie, dass dieser nicht für sie halten würde.
Ächzend und stöhnend kraxelte Mik den Felsen hinauf.
Sie streckte ihm die Prothese entgegen, um ihn das letzte Stück hinaufzuziehen.
Unsicher blickte er sie von der Seite an. „Danke, dass du das machst, Pakhet.“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich hoffe nur, dass dein Bruder noch am Leben ist.“ Warum versuchte sie das hier überhaupt? Sie sollte eigentlich schlafen, sich mental auf ihren Urlaub vorbereiten. Sie wollte nicht vor ihrem Urlaub sterben!
Das Pfeifen und Rauschen des Zuges kam näher, während sich der Kombi unten in Bewegung setzte. Hoffentlich kamen sie herunter.
Nun konnte sie auch den Zug sehen. Eine Dampflok, einen Versorgungswagen, drei Wagons, die aussahen, als wären sie aus einem Museum entführt worden. Alte, hölzerne Wagen, die in einem Wild-West-Film besser aufgehoben wären. Inklusive der wunderbaren Zierden: Die Fenster waren mit Holzbrettern zugenagelt.
„Bereit?“, fragte sie Mik und griff ihn. Sie vertraute seiner Sprungkraft nicht.
Er antwortete nicht, doch interpretierte sie den Mangel an Protest als ein „Ja“.
Also spannte sie die Beine an, sah auf den Zug. Versorgungswagen wäre ein guter Anfang. So wären sie sicher, dass ihnen niemand in den Rücken fiel.
Innerlich zählte sie bis zehn. Der Zug war knapp unter ihnen. Dann sprang sie. Kurz rauschten sie durch die warme Dampfwolke, dann landeten sie hart in dem halbleeren Kohlewagen.
Mik schrie beim Sturz, rollte zur Seite. Sein Atem war kurz und angebunden, als er an sich hinabsah, sich abtastete.
„Sei ruhig“, zischte sie und lief zum Rand. Sie sprang auf die Abgrenzung des Waggons und sah zur Lokomotive. Da waren zwei Gestalten, deutlich vor dem Feuer des Motors zu sehen. Wenn das Feuer nicht erhalten blieb, sollte der Zug irgendwann stoppen, oder?
Eine der Gestalten sah sich zu ihnen um. Eingefallene Augen, blässliche Haut, der Blick leer und starrend. Zombie schien gar nicht mal so unwahrscheinlich. Zombie oder Junkie. Doch wer ließ einen Junkie einen Zug steuern?
Zombie also wirklich?
Scheiße.
Sie zog ihre Waffe, sprang auf das Verbindungsstück zwischen Wagen und Lok, schoss. Vier Mal.
Sie traf die Zombies in die Köpfe. Filmklischee, definitiv, doch manchmal war es besser etwas auf Klischees zu geben. Überraschend häufig funktionierten magische Dinge so, wie normale Leute glaubten, dass sie funktionierten.
„Was jetzt?“, hauchte Mik.
„Jetzt suchen wir deinen Bruder.“ Sie sprang wieder in den Kohlewagen. Mittlerweile bedeckte eine dünne Schicht aus schwarzem Staub ihren Körper.
Dann lief sie zum hinteren Ende, sprang auch hier auf den Rand des Wagens.
Was als nächstes geschah, hätte sie nicht vorhersehen können. Denn im nächsten Augenblick war jemand hinter ihr. Purer Instinkt erlaubte ihr, das Messer mit der Prothese abzuwehren.
Sie sprang nach vorne, landete beim Eingang des ersten Wagons und sah sich um. Da war eine dunkel gekleidete Gestalt. Ohne den Anflug von Unsicherheit balancierte diese auf der metallenen Wand des Kohlewagens und folgte Pakhet so, das Messer in der Hand.
Schon hob Pakhet ihre eigene Waffe, als die Gestalt verschwand.
Magie. Böse Magie, wie Crash gesagt hätte. Scheiße.
Das hier war definitiv nicht die Art von Mission, die sie gerne gemacht hätte – und sie wurde nicht bezahlt.
„Spider?“, rief sie. „Spider? Wo bist du, Trottel?“
Keine Antwort.
Großartig.
Ein Instinkt sagte ihr, dass er im letzten Wagon wäre, aber wenn sie nachschauen wollten, dann mussten sie jeden der Wagons überprüfen, oder?
Sie konnten auch hinten anfangen, was ihnen dann aber doch das Problem mit Zombies im Rücken bringen würde.
Dabei hatte sie bei weitem nicht genug Munition dabei, um sich mit einer ganzen Armee Zombies anzulegen. Gerade einmal vierzig Schuss, vier hatte sie schon verbraucht. Zombies waren für Magier ziemlich billig, anders als richtige Zauber.
Also …
Zombies im Rücken.
„Mik. Komm“, kommandierte sie und sprang, zog sich am Dach des Wagons in die Luft. Die Anstrengung ließ ihren Kopf schmerzen.
Er kam keuchend aus dem Kohlewagon emporgeklettert. Er sah ungläubig zu ihr, balancierte dann aber über das Verbindungsstück und ließ sich auf das Dach ziehen.
Dampfzüge hatten den Vorteil nicht zu schnell zu sein. Hier oben konnte man vernünftig laufen. Der Fahrtwind reichte nicht aus, um einen von ihnen von Bord zu werfen. Also rannte sie.
Da hinten, etwa fünfzig Meter von den Gleisen entfernt fuhr der Wagen. Heidenstein. Gut. Hoffentlich schaffte er es. Noch immer sorgte sie sich um ihn. Sie wollte nicht dafür verantwortlich sein, wenn ihm was passierte. Zumindest hatte sie Murphy nicht mit hineingezogen.
Also rannte sie hinüber, sprang zum zweiten Wagon. Vorsichtig ging sie in die Knie, krabbelte zum Rand, als ihr etwas einfiel. Ihr bester Tipp war, dass Spider hier versucht hatte, aufs Dach zu kommen. Da unten waren die Bretter, die die Zugfenster versperrten, zerbrochen.
Noch einmal versuchte sie es. „Spider? Hey. Spider? Trottel?“
Doch was aus dem Fenster schaute, war kein Spider, sondern nur ein weiterer Zombie und leider war auch dieser Zombie nicht von der langsamen Variante.
Pakhet stolperte zurück, als der Untote sich mit unnatürlicher Eleganz auf das Dach schwang. Dann feuerte sie und das Biest flog vom Dach hinab.
„Pakhet?“, rief Mik kleinlaut.
Natürlich. Weitere Zombies.
„Du hast eine Waffe. Nutz' sie, Idiot.“ Rasch sah sie sich um. Es waren nicht viele Zombies. Gerade einmal sechs Stück. Zeit Munition zu sparen.
Während sie den nächsten erschoss, sprintete sie auf die beiden zu, die aus Richtung der hinteren Waggons kamen, ging leicht in die Hocke und trat dem einen gegen das Knie. Zumindest war die Anatomie von Zombies dieselbe wie bei Menschen und es galt: Ohne Kniescheiben lief es sich schlecht. Der Zombie knickte ein, während der andere nach ihr griff.
Ganz wie geplant war das nicht. Sie hatte gehofft, den ersten Zombie vom Zug kicken zu können, doch offenbar war es ihr nicht gegönnt.
Da klammerten sich eisige Hände von hinten um ihre Schultern, rissen sie zurück.
Panik kroch in ihrer Kehle hoch. Nein. Dafür hatte sie keine Zeit. Sie kickte nach hinten, kickte gegen das Schienbein, brachte den Zombie aus dem Gleichgewicht und nutzte einen Wurf, um das Biest vom Zug zu werfen.
Dann schoss sie auf die anderen beiden.
„Ich weiß, wen ich bei einer Zombieapokalypse anrufe“, murmelte Mik, als er sich neben sie stellte. Er blutete aus einer Wunde am Hals. Seine Stimme war ungewöhnlich hoch.
„Wirklich? Zeit für dumme Sprüche?“
„Ich habe Schiss, man“, erwiderte er. „Ich versuche mich abzulenken, okay?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Okay.“
Noch 32 Schuss.