Bleierne Schwere durchzog Suns Glieder. Sie konnte sich nicht rühren. Schmerzen. Ihr Bein schmerzte. Ihre Brust schmerzte. So viele Schmerzen. Sie sollte tot sein. Warum? Sie konnte sich nicht erinnern. Doch sie wusste es. Sie sollte tot sein. Also warum schmerzte ihr Körper noch?
Verging die Zeit überhaupt? Es war schwer zu sagen. Ihre Lider waren zu schwer, als dass sie hätte die Augen öffnen können. Wenn Licht im Raum war, so konnte sie es sehen. Vielleicht war sie auch blind.
Sie sollte tot sein.
Warum?
Sie sollte tot sein.
Für einige Zeit dämmerte Sun vor sich hin. Immer wieder griff die Ohnmacht mit ihrer endlosen Schwere nach ihrem Geist und immer wieder ließ Sun sie gewähren. Die Ohnmacht erlöste sie von den Schmerzen, half ihr für eine Weile zu entkommen.
Dennoch erwarte sie irgendwann. Zumindest mit gedämpften Schmerzen. Erfahrung sagte ihr, dass jemand ihr ein heftigeres Schmerzmittel gegeben haben musste. Vielleicht irgendein Morphin oder sowas? Egal. Sie war dankbar darum.
Langsam kamen Erinnerungen zu ihr zurück. Sie war in der Sperrzone gewesen. Genau. Eigentlich hatte sie nach Moon gesucht. Nach ihrem Bruder. Dann hatte es einen Anschlag gegeben. Jedenfalls war das die beste Erklärung. Dunkel erinnerte sie sich an eine Explosion. An die Schreie. An eine weitere Explosion. An die Schmerzen in ihrem Bein. Daran, wie irgendetwas – vielleicht Schrapnell ihren Bauch traf. Sie erinnerte sich daran, wie sie versucht hatte, in eine Gasse zu kriechen, sich zu verstecken.
Natürlich hatte so etwas passieren müssen. Friedensvertrag hin oder her. Zehn Jahre Propaganda hatten gereicht, dass die Menschen die Mutanten hassten, fürchteten. Nur ihr Bruder nicht. Nur ihr dummer Bruder nicht.
Das war seine Schuld.
Wenn er überhaupt noch lebte, hieß das.
Verdammt. Sie hätte jemanden bezahlen sollen. Einen Bodyguard. Jemand, der sie hätte beschützen können. Gerade in der Sperrzone, den Pufferbereich, der eigentlich genau vor solchen Anschlägen hatte schützen sollen und letzten Endes doch zum Zentrum jener zivilen Attacken geworden war.
Mühsam zwang sie die Augen offen. Sie lag in einem dunklen Zimmer. Da waren Monitore über ihr. Einer zeichnete eine Kurve auf. Ihr Herzschlag. Sollte das Ding dann nicht eigentlich piepsen? Vielleicht. Vielleicht auch nicht.
War sie in einem Krankenhaus?
Nein. Das hier sah nicht nach einem Krankenhaus aus. Sie lag in einer seltsamen Kuhle. So etwas hatte sie schon mal gesehen. In einer Trix-Doku über das Militär. Also war sie beim Militär?
Ihr Bein.
Sie bemühte sich das rechte Bein zu bewegen, doch es funktionierte nicht. Ihr Bein wollte nicht hören. Genauso wenig, wie ihr Rücken, als sie versuchte sich aufzurichten.
Verflucht.
So lag sie hier. Soweit sie sagen konnte, war ein dünnes Hemd ihre einzige Kleidung. Blieb nur zu hoffen, dass sie nicht bei einem Menschenhändler oder so gelandet war.
Verschiedene Schläuche liefen an ihrem Kopf vorbei. Sie endeten unterhalb ihres Kinns. Jedenfalls glaubte sie das. Hatte ihr jemand einen Zugang gelegt? Wahrscheinlich am Schlüsselbein.
Verflucht. Warum konnte sie sich nicht bewegen?
Wer hatte sie versorgt.
Denn wenigstens lebte sie noch. Hoffentlich blieb es dabei. Es war eine so endlos dumme Idee gewesen, allein nach ihrem Bruder zu suchen. Wahrscheinlich war er schon tot. Wie ihre Mutter. Doch genau deswegen brauchte sie ihn.
Die Zeit sickerte dahin. Suns Blick hing am Ende auf dem Monitor, der ihren Herzschlag dokumentierte. Irgendwo unter dem Hemd waren wahrscheinlich Elektroden festgemacht. Oder das Bett selbst nahm sie auf. Ach. Was wusste sie?
Die Schläuche … Die Flüssigkeiten in ihnen hatten verschiedene Farben. Durchsichtig. Eine schimmerte seltsam. Eine andere war dunkel. Ob sie schwarz war oder eine andere Farbe hatte, war im Dämmerlicht des Zimmers schwer zu sagen.
So blieb Sun liegen, wartete. Was sollte sie sonst tun?
Doch am Ende kam jemand. Die Tür öffnete sich zu einem anderen Raum. Ein Raum, aus dem Licht schien, Sun blendete. Sie blinzelte, hätte die Arme vor ihren Körper gehoben, hätte sie auch nur einen Muskel bewegen können. Da war jemand. Eine großgewachsene, aber dünne Gestalt füllte den Türrahmen aus. Die Person musste in Ivory Richtung schauen.
Tatsächlich. Die Person bemerkte sie. „Du bist wach?“ Der Dialekt der Person war dick und schwer verständlich. Sun konnte ihn nicht zuordnen. Genauso wenig, wie sie die Stimme zuordnen konnte. Sie klang melodisch. Weder hoch, noch tief.
Erst langsam kam ihr der Gedanke, dass sie auf die Frage antworten sollte. Konnte sie überhaupt sprechen? Sie zwang sich dazu, krächzte langsam ein: „Ja.“ Ihre eigene Stimme war hauchdünn.
„Ich mache das Licht etwas an“, sagte die Stimme.
Ivory nickte. Zumindest ihr Kopf ließ sich leicht bewegen.
Offenbar hatte das Licht eine Dämmregelung. Es wurde etwas heller im Raum, erlaubte ihr zumindest ein wenige Details in den Zügen der Person zu erkennen. Es war schwer zu sagen, ob die Person Mann, Frau oder irgendetwas dazwischen war. Nur eins war bei den silbernen Haaren und den eisblauen Augen klar. „Du bist ein En.“
Eigentlich hatte Sun das gar nicht sagen wollen. Es war ihr einfach über die Lippen gekommen. Wie unhöflich von ihr. Dabei hatte man ihr eingeschwärzt En nie darauf anzusprechen. Wahrscheinlich war es den Drogen oder was auch immer in ihren Adern floss zu verdanken.
Ein mattes Lächeln zeigte sich auf den blassen Lippen. „In der Tat. Und du wärst beinahe gestorben.“
Ja, soweit war Sun auch schon gekommen. Sie konnte nicht antworten, musterte stattdessen das winzige Zimmer nun im Licht genauer.
Zumindest eine Sache war klar. Die dunkle Flüssigkeit war rot. „Blut?“
„Du hast eine Menge Blut verloren“, erwiderte dier En.
Wahrscheinlich. Das klang jedenfalls glaubwürdig.
Sun bemühte sich etwas Spucke in ihrem Mund zu sammeln. Ihr Hals war schmerzhaft trocken. „Wo bin ich?“
„Bei der Rebellion“, antwortete dier En und trat nun näher. Sier begutachtete die Anzeigen von den Monitoren, ehe sier ein Comm herausholte und daran etwas regelte. „Du warst in einen Anschlag verwickelt.“
„Nicht verwickelt.“
Dier En hielt inne und überlegte für eine Weile. „Betroffen?“ Vielleicht beherrschte sier die Sprache nicht ausreichend?
„Ja.“ So konnte man es ausdrücken.
Jetzt wandte sich dier En dem Schrank auf der anderen Seite des Zimmers zu und holte etwas heraus. Etwas plätscherte. Sun konnte nicht sehen, was sier genau tat. Am Ende jedoch reichte sier ihr einen Becher mit einem Strohhalm. „Du solltest deine Arme bald bewegen können.“
Sun antwortete nichts. Sprechen war einfach zu anstrengend. Sie schloss die Augen und wartete.
Die Schmerzen wurden deutlicher. Also hatte dier En abgestellt oder niedriger dosiert, was auch immer sie betäubte?
Vorsichtig bemühte Sun den Arm zu heben und tatsächlich: Wenngleich ihr Arm sich anfühlte, als würde er mindestens zwanzig Kilo wiegen, so horchte er doch. Sie konnte den Becher greifen. Wie gut. Die Flüssigkeit tat so gut in ihrem Hals, selbst wenn es merkwürdig schmeckte.
Dier En nahm auf einem Hocker platz. Dann war sier ein Arzt?
Ach. Die Dinge machten noch keinen Sinn. Und Suns Bein. Was war mit ihrem Bein?
Sie rührte sich vorsichtig, bemühte sich noch einmal ihr Bein zu heben. Erneut ohne erfolg.
So konnte sie nicht anders, als dien En anzusehen. „Was ist mit meinem Bein?“
Dier En leckte sich über die Lippen. Etwas Mitleid zeigte sich auf sienen Zügen. Sier zögerte für eine lange Weile, antwortete jedoch schließlich mit sanfter Stimme. „Wir mussten dein Bein amputieren.“
Sun hatte es eigentlich gewusst. Was sollte sie denken? Da war die bleierne Schwere wieder – nur dass sie dieses Mal in ihrem Magen war. Sie hatte ihr Bein verloren in einem Anschlag, mit dem sie nicht wirklich etwas zu tun gehabt hatte. Alles nur, weil ihr Bruder hatte helfen wollen. Weil ihr Bruder verschwunden war. Doch wen hatte sie außer ihm. Er war der einzige in ihrer Familie, der noch für sie da wäre.
Der bittere Gallengeschmack legte sich über ihre Zunge, doch am Ende atmete sie aus. „Es gibt mittlerweile Prothesen, nicht?“ Ihre Stimme klang in ihren eigenen Ohren hohl.
„Die gibt es in der Tat“, meinte dier En und schenkte ihr ein Lächeln. „Deine Wunden heilen soweit gut.“
Sun nickte. Sie sah dien En an und seufzte. „Danke …“