Mina war ganz aufgeregt. Denn zum ersten Mal seit ihrem Auszug vor drei Jahren würde sie Weihnachten mit ihren Eltern sowie ihrem Bruder und dessen kleine Familie in ihren bescheidenden vier Wänden feiern.
Bereits am Morgen, gleich nachdem sie die vierte Kerze an ihrem Adventskranz angezündet hatte, begann sie mit den Vorbereitungen.
Den Baum hatte sie schon gestern Abend geschmückt. Zum Glück, denn so zittrig, wie sie im Moment war, hätte sie sicherlich sämtliche Glaskugeln fallen gelassen.
Mina begann als Erstes mit dem Kuchen. Ein schlichter Rührkuchen, der einen feinen Hauch von Lebkuchen innehatte. Dazu wollte sie köstliches Vanilleeis servieren.
»Moment mal! Vanilleeis?«, entfuhr es ihr plötzlich und sie blieb wie angewurzelt mit der Rührschüssel in der Hand mitten in der Küche stehen. »Verflixt! Ich habe das Vanilleeis vergessen!«
Da der vierte Advent bekanntlich ein Sonntag ist, blieb ihr nur noch die Tankstelle an der Ecke.
Schnell schnappte sie sich ihren Mantel sowie ihren Schal. Als sie jedoch in ihre Stiefel schlüpfen wollte, bemerkte sie, dass sie ja noch ihre Jogginghose trug. Also zog sie Mantel und Schal wieder aus, flitzte ins Schlafzimmer und tauschte die Jogginghose gegen eine Jeans.
Wenig später war sie endlich unterwegs. Es war lausig kalt und der Himmel grau verhangen.
»Wie schön wäre es doch, wenn es heute noch schneien würde«, murmelte Mina, während sie in den Himmel hinaufsah.
Beinahe wäre sie an der Tankstelle vorbeigelaufen, so sehr war sie in ihre Gedanken versunken. Abrupt machte sie daher eine Neunziggradkehre und wäre dabei fast mit einem älteren Mann zusammengestoßen, der sich gemächlich mit seinem Rollator fortbewegte.
»Na, na, junges Fräulein. Sie müssen schon ein wenig aufpassen, nich? Sind ja nicht allein auf der Welt, nich?« Kopfschüttelnd schlurfte er weiter.
Mina entschuldigte sich, umrundete das lebende Hindernis und betrat die Tankstelle. Schön warm war es hier.
Nach einem kurzen Moment, den sie zur Orientierung brauchte, fand sie die Kühlabteilung, in der es auch Eis gab. Sie schnappte sich eine Familienpackung Vanilleeis und eilte damit zur Kasse.
»Das macht dann bitte fünf Euro neunundneunzig.«
Mina starrte den Tankstellenwart an. »Wie bitte?!«
»Ich sagte …«
Doch Mina unterbrach den wirklich gutaussehenden Mann sofort wieder. »Ja, das habe ich schon verstanden. Aber es ist schon reichlich teuer für eine Marke, die niemand kennt, oder?«
Der Mann zuckte mit den Schultern. »Tut mir leid, ich mache die Preise sind. Wenn es ihnen zu teuer ist, können Sie ja auch in den Supermarkt gehen.«
Innerlich lachte Mina kurz auf. Sollte das etwa komisch sein? Sehr gern würde sie lieber in den Supermarkt gehen statt ihr Geld hier in der Tankstelle zum Fenster rauszuwerfen. Aber heute war kein verkaufsoffener Sonntag. Also hatte sie gar keine andere Wahl, als hier einzukaufen.
Sie kramte ihr Portemonnaie aus der Tasche und gab dem Tankwart einen Zehneuroschein.
Nachdem sie das Wechselgeld eingesteckt hatte, machte sie sich mit dem Eis wieder auf den Heimweg. Dabei stellte sie fest, dass es klüger gewesen wäre, Handschuhe zu tragen oder wenigstens einen Beutel mitzunehmen. Das Eis war kalt!
»250 Gramm Mehl, 250 Gramm Zucker, 250 Gramm Butter – na, das ist ja einfach«, las Mina in ihrem Rezeptbuch.
Schnell waren die Zutaten zusammengemengt und der Kuchen im Ofen.
In der Zeit konnte sie schon mal den Tisch decken. Dabei hantierte sie mit einem Stapel Geschirr herum, um sich zwecks mangelnder Zeit Wege zu sparen. Allerdings konnte sie dadurch ihr Umfeld nicht mehr richtig sehen und stolperte über die Türschwelle ins Wohnzimmer. Zwar konnte sie ihr Gleichgewicht gerade noch so halten, aber die oberste Tasse zitterte leicht. Mina versuchte, durch Gewichtsverlagerung die Tasse am Abstürzen zu hindern, aber es half nichts. Sie fiel herunter und zersplitterte in viele kleine Scherben.
»Na toll! Auch das noch!«, fluchte Mina.
Vorsichtiger lief sie weiter und stellte das restliche unversehrte Geschirr auf den Tisch, holte eine Ersatztasse und ging zurück in die Küche, um Kaffee zu machen. In der Thermoskanne würde der sich schon lange genug warmhalten.
Sie öffnete den Vorratsschrank und begann zu suchen.
»Oh nein, bitte sag, dass das nicht wahr ist! Das darf einfach nicht wahr sein.«
Mina selbst trank nur äußerst selten Kaffee. Sie bevorzugte die große Vielfalt, die ihr Tee bot. Dennoch dachte sie, sie hätte noch eine Packung Kaffee im Schrank. Dem war allerdings nicht so. Somit blieb ihr nichts anderes übrig, als noch einmal zur Tankstelle zu gehen. Jedoch wäre es ihr sehr peinlich, ausgerechnet an Heiligabend gleich zweimal an der Tankstelle aufzukreuzen, wo dieser überaus gutaussehende Mann arbeitete. Nachher dachte er noch, sie würde absichtlich mehrmals vorbeikommen und der vergessene Kaffee wäre nur ein Vorwand. Außerdem war sie ihm bestimmt nicht in positiver Erinnerung geblieben mit ihrer Äußerung bezüglich des hohen Preises für das Eis.
»Nein, das geht ja mal gar nicht«, entschied Mina und somit beschloss sie, eine weiter entfernt liegende Tankstelle anzusteuern. Diese war zu Fuß jedoch zu weit und da sie kein Auto hatte, blieb ihr nichts anderes übrig, als das Fahrrad zu nehmen. Zum Glück fuhr sie im Sommer sehr oft mit dem Rad, sodass sie nicht auch noch erst die Reifen aufpumpen musste.
Durch all die Hektik hatte sie schon wieder die Handschuhe vergessen und eine Mütze hätte auch nicht geschadet. Eiskalt pfiff ihr der Wind um die Ohren und ihre Hände spurte sie nach nur kurzer Zeit kaum mehr.
Sie war froh, als sie die Tankstelle erreichte und sich zumindest für einen Moment aufwärmen konnte. Lange brauchte sie nicht, um den Kaffee zu kaufen, denn sie war derzeit die Einzige in dem kleinen Shop. Kein Wunder, die anderen waren sicherlich bereits auf dem Weg zu ihren Lieben und freuten sich auf Kaffee und Kuchen.
»Kuchen! Oh, mein Gott, der Kuchen!«, entfuhr es Mina, als sie wieder auf ihr Fahrrad stieg. Beinahe hätte sie vor Schreck das Gleichgewicht verloren. Sie hatte doch glatt vergessen, dass ihr Kuchen noch im Ofen war.
So schnell sie konnte, trat sie in die Pedale.
Zu allem Überfluss fing es auch noch genau jetzt an zu schneien. Noch vorhin hatte sie sich Schnee an Weihnachten gewünscht. Doch die immer größer werdenden und dichter fallenden Flocken verschlechterten ihr die Sicht, sodass sie nicht so schnell vorankam, wie sie wollte.
Kaum zu Hause angekommen, stürmte sie in voller Montur in die Küche, um den Ofen auszustellen. Sie riss die Klappe förmlich auf und betrachtete das Desaster. Der Kuchen war ziemlich dunkel geworden. Aber vielleicht konnte sie ihn noch retten, indem sie die oberste Schicht entfernte und ihn mit einer Schokoladenglasur überzog.
Mina öffnete das Fenster, holte eine Kuchenglasur aus dem Schrank, die sie glücklicherweise dahatte, und machte ich an die Kuchenrettung.
Als sie den Kuchen auf den Esstisch gestellt hatte, musste sie sich um die Gans kümmern. Schließlich würde diese Stunden im Ofen zubringen, bis sie endlich gar war. Serviert wurde sie erst, wenn die Bescherung vorbei war und ihre Nichte bereits mit ihren Geschenken spielte.
»Oh nein, die Geschenke!« Mina schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Wo war sie in den letzten Tagen eigentlich mit ihren Gedanken? Aber Halt! Sie hatte durchaus an alles gedacht, deren Umsetzung jedoch bisher immer wieder aufgeschoben – bis heute.
Eilig rannte sie ins Wohnzimmer uns schnappte sich die riesige Einkaufstüte, die sie neben der Couch platziert und in der sie all die Geschenke für ihre Familie deponiert hatte. Aus dem großen Schrank im Flur holte sie Geschenkpapier, Kräuselband und … Moment mal, wo hatte sie denn die Geschenkanhänger hingepackt? Sie durchwühlte den gesamten Schrank und suchte auch noch an einigen anderen Stellen in ihrer Wohnung – leider ohne den gewünschten Erfolg. Die Geschenkanhänger waren nirgends zu finden. Hatte sie die nur so gut weggelegt, dass sie sie erst zu Ostern finden würde, oder hatte sie auch die vergessen zu kaufen. Mina konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern.
»Verdammt! Geht denn heute wirklich alles schief?«
Wütend auf sich selbst stapfte sie in ihr kleines Arbeitszimmer und suchte den Haftnotizblock heraus. Mussten eben die Haftnotizzettel die Geschenkanhänger ersetzen. »Nicht schön, aber selten.«
Somit war sie nun erst einmal eine Weile damit beschäftigt, die Geschenke einzupacken. Dabei hatte sie stets die Uhr im Blick.
Gegen vierzehn Uhr waren endlich alle nötigen Vorbereitungen für das Weihnachtsfest abgeschlossen. Sie hoffte sehr, dass sie nicht noch irgendetwas vergessen hatte. Aber im Moment fiel ihr nichts ein, was noch hätte erledigt werden müssen – außer sich selbst in Schale zu werfen, und genau das tat sie jetzt. Denn schon in etwa einer Stunde würde ihre Familie eintreffen.
Eine Dreiviertelstunde später war sie fix und fertig – im wahrsten Sinne des Wortes. Endlich konnte sie sich zumindest noch einen Moment lang auf der Couch entspannen, ehe ihre Gäste eintrafen.
Das habe ich mir aber auch mehr als verdient, finde ich.
Jetzt musste sie nur noch warten, bis es klingelte.
Die Zeiger der Uhr schritten immer weiter voran, doch noch kam keiner ihrer Gäste.
»Merkwürdig. Ist vielleicht die Klingel kaputt?« Sie stand auf, schlüpfte in ihre Latschen, öffnete ihre Wohnungstür und ließ diese offen stehen, während sie ins Erdgeschoss ging, um an der Haustür zu klingeln. Der übliche Klingelton war zu hören. Daran lag es also nicht und hier draußen war auch niemand zu sehen.
Kaum war sie wieder in ihrer Wohnung und hatte erneut auf ihrer Couch Platz genommen, klingelte es an ihrer Tür.
»Na bitte!« Sie eilte in den Flur, drückte den Summer und öffnete die Wohnungstür. Vor ihr stand ihre Nachbarin.
»Hallo, ich wollte Ihnen nur diese Kleinigkeit überreichen, ehe wir verreisen. Frohe Weihnachten für Sie.«
Dankend nahm Mina das hübsch verpackte Geschenk entgegen. Wollten sie nicht gestern verreisen? Nun ja, vielleicht hatte sie sich verhört.
»Ich wünsche Ihnen eine gute Fahrt. Kommen Sie heil an und auch wieder zurück. Und eine schöne Zeit.«
»Vielen Dank!« Mit diesen Worten eilte ihre Nachbarin die Stufen hinab.
Wer verreiste denn schon direkt an Heiligabend. Nun ja, sie jedenfalls nicht.
Irgendwann wurde Mina nervös und sah immer wieder auf die Uhr. »Langsam sollten sie aber doch mal kommen. Fünfzehn Uhr war vereinbart, jetzt ist es fast eine Stunde später.« Sie wunderte sich sehr, denn es sah niemandem aus der Familie ähnlich zu spät zu kommen. Selbst wenn etwas dazwischengekommen sein sollte, würden sie sich zumindest melden und Bescheid sagen, dass sie noch einen Moment brauchen. Sie ging ans Fenster und spähte hinaus. Keine Spur von ihnen zu sehen. Merkwürdig.
Als noch einmal mehr als eine Stunde vergangen war und noch immer niemand eintraf oder sich meldete, rief sie ihre Mutter an und fragte, wo sie denn blieben.
»Aber Mina, Kind, hast du heute schon mal auf den Kalender geschaut?«
»Klar, heute ist der vierundzwanzigste Dezember. Heiligabend.«
»Bist du sicher?«
Mina schaute auf den Kalender in ihrem Handy und traute ihren Augen kaum. »Das ist doch jetzt nicht wahr!«
»Doch. Heiligabend ist erst morgen, mein Engel. Heute haben wir erst den Dreiundzwanzigsten.«