Sie sah sich die Fotos an, die auf der Webseite gepostet wurden. Überall sah sie in lachende Gesichter. Die Stimmung war ausgelassen. Auch sie selbst war das ein oder andere Mal zu sehen. Zusammen mit ihren Freundinnen Felicitas und Mareike. Auf dem Bild, auf dem sie zusammen mit Lukas zu sehen war, verharrte sie eine ganze Weile und dachte an den Moment zurück, wo dieses Foto entstand.
***
»Ich glaube, da kommt jemand auf uns zu«, wisperte Feli.
Helena drehte sich um und sah, wie Lukas genau auf ihren Tisch zusteuerte. Umgehend klopfte ihr Herz lauter. War er wirklich auf den Weg zu ihrem Tisch? Sie konnte es sich nicht vorstellen. Er würde bestimmt weitergehen, an ihnen vorbei.
Lukas lächelte leicht.
Helena stutzte. Sie drehte sich zurück, wen er mit seinem Lächeln meinen konnte, sah aber niemanden.
In dem Moment stand er auch schon neben ihnen. »Hallo Helena, ich wollte fragen, ob du vielleicht mit mir tanzen möchtest.«
Für einen Augenblick, der Helena wie eine Ewigkeit vorkam, schien die Zeit still zu stehen. Er meint mich. Er fragt tatsächlich mich, ob ich mit ihm tanzen möchte. Sie starrte ihn vollkommen sprachlos an, unfähig auch nur einen einzigen Ton herauszubringen. Dafür pochte ihr Herz umso lauter. Sicherlich konnte jeder ihren Herzschlag hören.
»Na los, geh schon, Helena.« Mareike stupste ihre Freundin leicht an.
Das hatte diese gebraucht, um aus ihrer Trance zu erwachen – zumindest, um die anfängliche Schockstarre zu verlieren.
Wie in Zeitlupe stand sie auf und blickte Lukas an. »Ja, klar, gern«, stammelte sie so leise, dass sie schon glaubte, er würde sie gar nicht verstehen.
Doch sein Lächeln wurde breiter – was Helenas Herz umgehend ins Stolpern brachte.
Sie ergriff seine Hand, die er ihr entgegenstreckte und ließ sich von ihm auf die Tanzfläche ziehen.
Plötzlich fiel ihr etwas ein. »Ähm … ich … ich kann eigentlich gar nicht tanzen.«
»Ach was, das glaube ich nicht. Jeder kann tanzen. Du musst dich nur treiben lassen, den Rhythmus der Musik in dich Aufnehmen. Solltest du mir dabei auf die Füße treten, werde ich das in Kauf nehmen.« Sein Lächeln war nun ein eher schelmisches Grinsen.
Dezent erwiderte Helena dieses und ließ sich von Lukas zur Musik führen.
Anfänglich noch etwas holprig, wurden ihre Schritte mit der Zeit etwas sicherer. Sie fühlte sich wohl in seinen Armen. Hätte nie geglaubt, das einmal erleben zu dürfen. Und wie er roch! Einfach einmalig.
Für einen Moment schloss sie die Augen, doch das war ein Fehler.
»Autsch!«, ertönte es verhalten neben ihrem Ohr.
Sofort riss sie ihre Augen auf. Sie war ihm nun tatsächlich auf den Fuß getreten. »Oh nein, bitte entschuldige.«
Doch wieder lächelte Lukas nur. Wo hat dieser Kerl nur gelernt, so zu lächeln? Oder wurde ihm das einfach so in die Wiege gelegt? Helena war sich sicher, dass er dafür einen Waffenschein bräuchte. Hatte er einen? Mit Sicherheit nicht.
»Alles gut«, erwiderte er und führte sie weiter über die Tanzfläche.
Die anderen Paare um sie herum beachtete Helena gar nicht. Für sie gab es nur Lukas und sie selbst – und die Musik natürlich, von der sie hoffte, dass sie niemals endete.
Doch natürlich war das Lied, das die Schulband gerade spielte, nicht endlos. Als der letzte Ton verklungen war, blieben alle Tanzpaare stehen und applaudierte der dreiköpfigen Band.
»Danke, vielen Dank! Das war jedoch alles nur zum Aufwärmen. Nach all den Schmusesongs soll nun etwas mehr Stimmung aufkommen, findet ihr nicht?«
Nein, fand Helena überhaupt nicht. Gerade jetzt hätte sie gern noch mehr langsame Lieder gehört.
»Daher haben wir hier einen Song für euch, der aus unserer Feder stammt und euch hoffentlich gefällt, sodass ihr die Tanzfläche zum Kochen bringt. Let’s go!«
Der Schlagzeuger gab den Takt vor, der deutlich schneller war, und schon gesellte sich der Gitarrist dazu, gefolgt von den ersten Worten, die der Sänger zum Besten gab.
Helena verzog das Gesicht. Das war nicht gerade die Art von Musik, die sie bevorzugte.
»Möchtest du vielleicht was trinken?«, fragte Lukas.
Irritiert sah Helena ihn an. »Ja, warum nicht.«
Gemeinsam schlenderten sie zum üppigen Buffet hinüber, das an der der Bühne gegenüberliegenden Seite der Turnhalle aufgebaut worden war. Noch war es gut gefüllt, aber bald würde es sicherlich aussehen, als wäre es von Termiten überfallen worden, weil eine Horde wildgewordener Schüler sie über die vielen Leckereien her machte.
Neben den langen Tischen mit dem Essen gab es einen weiteren, der als Bar diente und von zwei älteren Schülern betreut wurde.
»Na, was darf es denn für euch sein?«, fragte das Mädchen, deren Name Helena nicht kannte, das sie aber schon öfter auf dem Schulhof gesehen hatte.
Helena studierte die Karte mit den Mixgetränken. »Ich nehme bitte eine Virgin Colada.«
»Sehr gern. Und für dich?«
»Ich nehme dasselbe.«
Das Mädchen nickte nur und machte sich an die Arbeit, die beiden alkoholfreien Cocktails zu mixen.
Helena sah Lukas verwirrt an. »Magst du Virgin Colada auch so gern wie ich?«
Wieder dieses Lächeln. »Nein … Das heißt, ich weiß es nicht. Ich habe es noch nie getrunken.«
Verwundert hob Helena die Augenbrauchen. »Warum hast du es denn dann bestellt?«
»Weil du es genommen hast und ich wissen wollte, sie es schmeckt.«
Helena war zu sprachlos, um darauf etwas zu antworten.
Zum Glück waren ihre Getränke schnell fertig, sodass sie diese in Empfang nehmen konnten.
Lukas hielt ihr sein Glas hin. »Na dann. Prost – oder sagt man bei Cocktails etwas anderen?«
Helena zuckte lächelnd mit den Schultern. »Keine Ahnung. Prost!« Sie stieß ihr Glas an seines und ließ ihn beim Trinken aus dem Stohhalm nicht aus den Augen. »Und? Wie schmeckt es dir.«
»Süß, aber lecker. Hat etwas von Urlaubsfeeling.«
Lächelnd nickte Helena. »Ja, nicht wahr? Ein bisschen exotisch.«
Sie liefen nebeneinander her zu einem Tisch, an dem derzeit niemand saß und nahmen Platz.
»Weißt du, ich wollte dich eigentlich schon etwas länger ansprechen, wusste aber nie wirklich, wie. Deshalb dachte ich, so eine Aufforderung zum Tanzen wäre doch eine ganz gute Gelegenheit.«
Abermals erstaunte Lukas sie. »Wirklich? Warum wolltest du mich denn ansprechen?« Sie hätte sich sofort ohrfeigen können, nachdem ihr diese blödsinnige Frage rausgerutscht war, ohne darüber nachzudenken. Es konnte ihr doch vollkommen egal sein, warum er sie ansprechen wollte. Wichtig war doch einzig und allein, dass er sie überhaupt ansprechen wollte.
Sie versuchte zu verbergen, dass sie errötete, indem sie sich tief über ihr Glas beugte beim Trinken.
»Du bist mir schon etwas länger aufgefallen und ich wollte dich gern etwas näher kennenlernen.«
Helena sah wieder auf. Genau in dem Moment, als er ihr die Hand über den Tisch hinweg reichte.
»Hi, ich bin Lukas.«
Sie ergriff seine Hand und lächelte leicht. »Ich bin Helena. Hi!«
Nur langsam lösten sich ihre Hände voneinander und Lukas nickte. »Gut, damit hätten wir den förmlichen Teil hinter uns.«
Die nächste halbe Stunde plauderten sie immer belangloser miteinander. Erzählten, was sie gern mochten und was sie gar nicht leiden konnten, lernten sich dadurch wirklich etwas besser kennen. Und das Wichtigste: Sie lachten viel, gemeinsam, über dieselben Dinge. War es das, was allgemein hin als gleiche Wellenlänge beschrieben wurde?
Den ganzen Abend über wichen Lukas ihr nicht mehr von der Seite, und Helena genoss es total. Sie tanzten, aßen und tranken immer gemeinsam.
Als plötzlich der Lehrer mit seiner Digitalkamera bei ihnen auftauchte, legte Lukas prompt einen Arm um Helenas Schulter und küsste sie genau in dem Moment auf die Wange, als der Lehrer den Auslöser drückte.
»Vielen Dank und euch noch einen schönen Abend«, sagte der Lehrer und zog weiter, um neue Opfer zu finden, die er ablichten konnte.
Mit großen Augen sah Helena Lukas an. »Was war das denn?«
»Was denn? Ich weiß überhaupt nicht, was du meinst?«
»So? Ich meine den Kuss eben.«
Lukas zuckte mit den Schultern. »Das nennst du Kuss?«
»Ja. Du etwa nicht?«
»Nein, eigentlich nicht. Ein Kuss sieht für mich anders aus.«
Statt zu antworten, sah sie ihn nur mit gerunzelter Stirn an.
Wieder schien die Zeit still zu stehen, als die beiden sich einfach nur in die Augen sahen. Auf einmal näherte sich Lukas Gesicht dem ihren und nur wenig später spürte sie seine Lippen auf ihrem Mund. Wie von selbst schlossen sich ihre Augen und sie genoss den ersten Kuss ihres Lebens mit dem Jungen, den sie schon seit einigen Wochen heimlich anhimmelte.
***
Seit dem Schulball war nun genau ein Monat vergangen und seitdem waren Lukas und Helena ein Paar. Noch immer kam ihr dieser Abend wie ein Traum vor, aber er war keiner, sondern einfach nur eine wunderschöne Erinnerung, der zugleich in diesen tollen Fotos festgehalten wurde, sodass sie ihn niemals vergessen konnte.
Gleich würde Lukas klingeln und sie abholen, denn sie wollten ihr Einmonatiges feiern. Wie, wusste Helena nicht.
»Lass dich überraschen«, hatte Lukas nur gesagt, als sie nachgefragt hatte.
Gerade als sie ihren Laptop heruntergefahren hatte, klingelte es an der Tür.
Eilig lief sich hin und öffnete.
Lukas stand davor und hielt ihr eine rote Tulpe entgegen – ihre Lieblingsblume. Dass er daran gedacht hatte und nicht etwa mit einer roten Rose ankam. Rosen konnte sie nicht leiden, die fand sie einfach nur kitschig. Um die wurde einfach ein viel zu großer Wirbel gemacht. Tulpen sind in ihren Augen die schöneren Blumen und haben es durchaus verdient, dass man ihnen mehr Beachtung schenkte.
»Ist meine Ballprinzessin bereit für ihre Überraschung?«
Sie nahm ihm die Tulpe ab. »Ja, sobald ich die Blume ins Wasser gestellt habe, sonst ist sie welk, wenn wir wiederkommen.«
Lukas musste schmunzeln, wartete jedoch geduldig, bis sie wiederkam.
»So, jetzt können wir. Wo geht es hin?«
Lukas schnalzte mit der Zunge. »Dieses Mädchen ist einfach viel zu neugierig. Wart’s einfach ab.«
»Hätte ja klappen können«, grummelte sie gespielt verärgert und folgte ihm. Wieder einmal klopfte ihr Herz schneller, denn sie war noch immer genauso verliebt in ihn wie vor einem Monat, was sich auch hoffentlich nicht so schnell ändern würde.
Sie kamen am Stadtpark an und Lukas steuerte auf den kleinen Teich zu, der umgeben von Bäumen und einer Wiese war. Auf dieser war etwas aufgebaut, das von einem kleinen Jungen bewacht wurde.
»Da seid ihr ja endlich!«, raunzte dieser.
»Alles klar, Kleiner. Kannst gehen.«
»Wurde aber auch Zeit«, sagte der Junge und rannte davon.
»Du hast deinen Bruder als Aufpasser hier abgestellt?« Helena musste grinsen.
»Klar. Sonst würde sich jemand anderes an unserem Essen vergreifen. Das konnte ich doch unmöglich zulassen. Aber nun greif zu und lass es dir schmecken. Ich habe alles selbst kredenzt.«
Bevor sie auf der Decke Platz nahm, ließ sie ihren Blick über das Picknick schweifen, das Lukas vor sie vorbereitet hatte. Sogar zwei Kerzen hatte er aufgestellt, die er nun anzündete. Sie standen in einem hohen Glas und waren somit vor dem Wind geschützt, warfen aber einen tollen Schein über das Arrangement. Da es langsam zu dämmern begann, war die Stimmung geradezu magisch.
»Das ist … wunderschön.« Helena wusste nicht, was sie sagen sollte. Diese Überraschung war ihm auf jeden Fall geglückt und es war wieder einmal ein Moment, den sie für immer in ihrem Gedächtnis behalten würde, so viel war sicher.