Hannah lief langsam durch die nebelverhangenen Straßen des tristen Herbsttages. Die Häuser am Horizont konnte sie schon gar nicht mehr ausmachen, so dicht war der Nebel. Aber er passte wunderbar in ihre Stimmung. Sie hatte die Nacht furchtbar schlecht geschlafen, und ausgerechnet heute musste sie früh aufstehen. Die Herbstferien waren vorbei und der Schulalltag begann wieder. Warum konnten nicht immer Ferien sein? Warum musste sie nur in diese verdammte Schule? Freunde hatte sie dort keine, war die geborene Außenseiterin.
»Manchmal denke ich, es wäre besser, wenn es mich gar nicht gäbe«, murmelte sie leise vor sich hin, während sie auf dem Weg zum U-Bahnhof war. Zwei Stationen musste sie nur fahren. Im Sommer bei schönem Wetter lief sie die Strecke schon mal nach Hause – hin fuhr sie immer, sonst würde sie Gefahr laufen zu spät zu kommen.
Um diese Uhrzeit war die Bahn schon brechend voll, und das, obwohl sie bei der Endhaltestelle einstieg. Gerade so ergatterte sie sich noch einen der wenigen freien Plätze, ehe auch schon die Durchsage ertönte: »Zug nach Alt-Tegel, einsteigen bitte! … Zug nach Alt-Tegel, zurückbleiben, bitte!« Die Türen schlossen sich und die U-Bahn fuhr los.
In der Schule angekommen, musste sich Hannah durch mehrere Trauben aus Schülern schlängeln, die vor dem Schulgebäude standen. Sie selbst gesellte sich zu keiner. Warum auch? Sie gehörte eh nicht dazu. Langsam schlurfte sie die Treppe hinauf in den ersten Stock, in dem sich ihr Klassenzimmer befand. Die Türen waren schon aufgeschlossen worden, sodass sie sich bereits auf ihren Platz setzen konnte – ganz hinten am Fenster. Der Stuhl neben ihr war frei. Nur ganz am Anfang, als sie neu in die Realschule kam, saß dort mal ein Mädchen, Ulrike. Aber die hatte schon bald das Weite gesucht. Mittlerweile ging sie auf ein Gymnasium, weil ihre Noten einfach zu gut waren, um nur den mittleren Schulabschluss zu machen.
Bisher war Hannah allein im Klassenzimmer, doch das störte sie nicht. Sie kramte schon mal alles für die erste Stunde aus ihrem Rucksack – ausgerechnet Mathe! Sie hasste Mathe, Buchstaben waren ihr da zigmal lieber.
Aus den Augenwinkeln nahm sie eine Bewegung wahr und sah auf. Ein fremdes Mädchen stand in der Tür und sah sich suchend um. Als ihr Blick auf Hannah fiel, lächelte sie verhalten. »Hi, ist das hier die 9a?«
Hannah nickte. »Ja, ist sie.«
»Super, dann bin ich hier richtig.« Etwas breiter lächelnd kam das Mädchen auf Hannah zu und streckte ihr ihre Hand entgegen. »Hi, ich bin Daniela.«
Reflexartig ergriff Hannah die dargebotene Hand. »Hannah, ich bin Hannah.«
Daniela schaute etwas zerknirscht. »Der Platz neben dir ist nicht zufällig frei, oder?«
Abermals nickte Hannah und runzelte dabei die Stirn. »Doch, ist er. Aber ich bin mir nicht sicher, ob du da wirklich sitzen möchtest. Und woher kommst du eigentlich, so mitten im Schuljahr?«
Daniela musterte Hannah. »Wir sind in den Ferien hierhergezogen. Aber was meinst du damit, ich würde nicht wirklich neben dir sitzen wollen?«
»Nun ja, ich bin nicht besonders beliebt in dieser Klasse. Wenn du also zukünftig zu den wirklich Coolen gehören möchtest, solltest du dir besser einen anderen Platz suchen und dich nicht mit mir abgeben.«
Daraufhin lachte Daniela laut auf. »Sehe ich aus, als würde ich zu den Coolen gehören oder dies in Zukunft wollen?«
Nun war es an Hannah die Neue zu mustern. Nein, wirklich cool sah sie nicht aus. Die anderen würden sie sicher für einen Ökofreak halten – vielleicht war sie das auch, aber das war Hannah egal. Sie gab nicht viel auf Äußerlichkeiten. Sie selbst trug nur das, was sie wollte, nicht, was die Mode gerade vorschrieb. Ihre wilde Kurzhaarfrisur stieß bei ihren Mitschülerinnen mit ihren langen glatten oder lockigen Haaren auch immer sauer auf. Sie konnten nicht verstehen, warum ein Mädchen nicht durchaus auch kurze Haare tragen konnte. Viele dachten deshalb gleich, sie wäre eine Lesbe oder würde lieber ein Junge sein wollen. Beides falsch. Sie war ein Mädchen und stand auf Jungen – also das, was die Gesellschaft als »normal« abstempelte. Für Hannah wäre jedoch auch alles andere normal gewesen. Es gab kein Schema F, nach dem ein Mensch funktionierte, jeder war sein eigenes Individuum und sollte auch als solches wahrgenommen und geachtet werden.
Während Hannah noch in ihren eigenen Gedanken versunken war, hatte Daniela bereits ihren Flickenmantel ausgezogen und sich neben sie gesetzt.
»Was haben wir denn in der ersten Stunde?« Sie warf jedoch lediglich einen Blick auf das Schulbuch, das vor Hannah auf dem Tisch lag. »Uh, Mathe. Na, damit kann man mich ja jagen. Ist der Lehrer wenigstens nett?«
»Lehrerin. Wir haben Mathe bei Frau Berger. Nun ja, sie ist schon in Ordnung, wie eigentlich alle Lehrer. Jedenfalls habe ich mit denen weniger Ärger als mit den Mitschülern. Aber hey, ich will dir nicht reinreden. Mach am besten deine eigenen Erfahrungen hier in der Klasse.«
Daniela nickte nachdenklich. »Danke. Das werde ich.«
Nach und nach trafen auch die anderen Schüler der 9a ein und begrüßten Daniela. Auch wenn sie dabei immer wieder einen skeptischen Blick auf Hannah warfen. Diese war sich sicher, dass die anderen Daniela bei der erstbesten Gelegenheit – also, wenn Hannah nicht dabei war – nahelegten, sich doch einen anderen Platz in der Klasse zu suchen.
Zu Hannahs großer Überraschung setzte sich Daniela auch am nächsten Tag wieder neben sie. Sie hätte schwören können, dass einige in der großen Pause, die Hannah für gewöhnlich in der Bibliothek verbrachte, auf Daniela eingeredet hatten.
»Guten Morgen!«, grüßte Daniela fröhlich, als sie sich neben Hannah setzte. »Was schaust du denn so komisch? Hab ich noch Zahnpasta im Gesicht? Das passiert mir immer wieder.« Hektisch wischte sie an ihren Mundwinkeln herum.
Das brachte Hannah zum Lachen. Wann hatte sie zum letzten Mal wirklich gelacht? Sie wusste es nicht. »Nein, keine Zahnpasta. Ich bin nur erstaunt, dass du heute auch wieder neben mir sitzt.«
»Warum denn auch nicht? Ich finde den Platz hier sehr gut – und ich mag dich. Du bist nicht so wie die anderen. Sag mal, irre ich mich oder sind alle Mädchen eher so die Modepüppchen?«
Wieder musste Hannah lachen. »Nein, da irrst du dich nicht. Mode, Make-up, Jungs – ach, und vielleicht noch ein paar Stars. Das sind so im Grund die Themen, die sie interessieren. Mehr nicht.«
»Ohje, das klingt traurig. Was ist mit Büchern?«
Hannah schüttelte den Kopf. »Ich glaube, außer den Lehrbüchern haben sie mit denen nicht viel am Hut.«
Daniela deutete auf das Buch, in dem Hannah bis eben gelesen hatte und das nun auf dem Tisch lag. »Du aber anscheinend schon.«
»Ja, ich liebe Bücher. Die Bibliothek ist quasi meine zweite Heimat. Ohne Bücher könnte ich nicht leben.«
»Das geht mir genauso. Mein Bücherregal zu Hause quillt mittlerweile aus allen Nähten. Aber deshalb auf eBooks umsteigen möchte ich auch nicht. Dafür liebe ich das Gefühl, ein Buch in den Händen zu halten und die Seiten umzublättern, viel zu sehr. Außerdem kann man an einem eBook nicht riechen. Die riechen alle gleich, denn sie sind nur digital. Aber richtige Bücher riechen alle unterschiedlich. Ist dir das schon mal aufgefallen? Ein neues riecht auch vollkommen anders als ein altes – und selbst bei neuen Büchern riecht kaum eines wie das andere.«
Einen Moment lang sah Hannah Daniela sprachlos an. So hatte sie noch nie jemanden über Bücher sprechen gehört. Im Gegenteil, als sie einmal etwas ganz Ähnliches äußerte, wurde sie nur als verrückt hingestellt. Wer roch denn schon an Büchern?! Vollkommen durchgeknallt! Aber neben ihr saß nun der lebende Beweis, dass sie nicht der einzige Mensch auf dieser Welt war, der tatsächlich an Büchern roch. Vielleicht war Daniela am Ende genauso anders wie sie selbst.
Von nun an saßen Hannah und Daniela oft gemeinsam in der Bibliothek, lasen hin und wieder sogar dieselben Bücher und tauschen sich über diese aus.
»Boah, was für ein Schmachtfetzen! Das trieft ja auf jeder Seite!«, stöhnte Daniela, als sie wieder einmal willkürlich ein Buch aus dem Regal gezogen hatten, von dem es in der Bibliothek mehr als ein Exemplar gab.
Auch Hannah verzog das Gesicht. »Ja, das kannst du laut sagen. Vielleicht sollten wir doch etwas anderes aussuchen?«
In dem Moment klingelte es und die große Pause war schon wieder vorbei.
In Daniela hatte Hannah nach langem endlich wieder eine richtige Freundin gefunden. Zwar war auch Daniela bei den anderen vollkommen unbeliebt, doch das schien diese nicht zu stören. Denn sie hatte ja Hannah und zu zweit war man immerhin weniger allein.