Ein erleichtertes Lächel hatte sich auf Almas Lippen manifestiert als sie schlussendlich vor ihrer Wohnungstür zum Stehen kam. Endlich war sie wieder zurück. Über das Wochenende hatte sie ihre Familie besucht, doch auch wenn sie immer unglaublich gern nach Hause zurückkehrte, wurde es ihr doch jedes Mal früher oder später zu viel.
Alma klopfte an die Tür und schon wenig später öffnete ihr einer ihrer langjährigen Freunde - Marius.
Sobald dieser sie sah, schloss er sie in eine feste Umarmung und grinste sie in seiner unnachahmlichen Art an.
„Du bist ja noch früher zurück als erwartet.“ Alma zuckte nur mit den Schultern und musterte den Blonden, der in Jogginghose am Türrahmen lehnte.
Marius hatte ihr angeboten, einmal nach ihren Blumen zu sehen während sie weg war und hatte irgendwie darauf bestanden, sie willkommen zu heißen. Er wusste von ihren Eigenarten und daher hatte eine kurze Nachricht gereicht, in der sie schrieb, sie würde früher zurückkommen und Marius wusste was los war.
„Ich wollte noch mit dir reden.“ Er sah ihr eindringlich in die Augen, doch Alma stand gerade nicht der Kopf nach tiefgründigen Gesprächen. Sicher ging es wieder um Tina und das konnte eine Weile in Anspruch nehmen. Auch wenn sie nicht verstand, wieso Marius gerade sie nach Beziehungstipps fragte - wo sie in dieser Angelegenheit doch wohl das schlechteste Vorbild war, was man sich vorstellen konnte - versuchte sie ihm nichts desto trotz so gut zu helfen, wie sie eben konnte.
„Gleich, okay? Ich würde mich gerne erst einmal fünf Minuten hinsetzen.“ Sie versuchte sich an ihrem Freund vorbei zu schieben, doch der wich keinen Millimeter zur Seite.
„Genau darum geht es.“ Sie versuchte tief durchzuatmen, aber sie konnte sich jetzt nicht auf Marius konzentrieren. Immerhin war sie nun beinahe drei Tage lang nicht Zuhause gewesen und er wusste doch, wie sie war. Zumindest fünf Minuten würde die Angelegenheit doch sicher Zeit haben.
„Gleich, versprochen.“ Alma drückte sich am anderen vorbei und marschierte erleichtert durch ihren Flur.
„Alma ...“ Hinter ihr ertönten Schritte, doch sobald sie ihr Wohnzimmer betrat, erstarrte sie auf der Stelle.
Einige Sekunden lang starrte sie das Chaos einfach nur an, ihr Kopf so leer wie noch nie. Was zum ... ?
„Alma, ich denke du solltest versuchen, an deinen Ticks zu arbeiten. Ich bin mir sicher, du wärst viel glücklicher, wenn du irgendwann einfach normal leben könntest. Ich habe ...“ Der Blonde brach ab, denn ihre Fäuste hatten sich geballt und nun drehte sie sich langsam zu ihm um. Sie sah, wie Marius schluckte und sie unsicher beobachtete - doch sie sah keine Reue in seinen Augen.
„Ich dachte du würdest es verstehen!“ Er zuckte zurück und hob beschwichtigend die Hände.
„Versuch doch wenigstens damit klar zu kommen, bitte, bestimmt ...“ Vor Wut bebend stieß sie ihn von sich und schüttelte den Kopf, immer wieder.
„Raus!“, brüllte Alma ihn an und jetzt schien der Blonde es mit der Angst zu tun zu bekommen. Marius versuchte es noch einmal mit einem leisen „Alma, bitte“ aber sie packte ihn an den Schultern und stemmte sich gegen den deutlich Größeren. Natürlich wussten sie beide, dass sie Marius nicht gegen seinen Willen wegschieben konnte, aber dass sie es versuchte, zeigte ihm scheinbar, wie ernst sie es meinte und er ging tatsächlich.
Alma schlug die Tür hinter ihm zu und marschierte ins Wohnzimmer zurück. Den Blick fest auf den Boden gerichtet, steuerte sie auf die Couch zu und ließ sich auf diese fallen. Die Augen fest zusammen drückend versuchte sie dem zu folgen, was sie gelernt hatte. Sie stützte ihre Arme auf den Knien auf, legte ihre Stirn auf die geballten Fäuste und konzentrierte sich auf nichts als ihre Atmung.
„Ich habe es nicht so gemeint!“, hörte sie Marius gedämpft durch die Tür. Oh, er hatte es genau so gemeint, wie er es gesagt hatte. Sie sollte endlich aufhören, ein Freak zu sein - konnte doch schließlich nicht so schwer sein, oder?
Sie hielt sich die Ohren zu und versuchte Marius aus ihrem Hirn zu verbannen.
Die Stille tat unendlich gut und sie lauschte dem gleichmäßigen Puls in ihren Ohren. Bald schon bemerkte sie, wie sich ihr Atem beruhigte und ihre Hände sich entkrampften. Um sicher zu stellen, dass Marius auch wirklich aufgegeben hatte, verharrte sie noch einige Zeit so, bis ihre Füße begannen einzuschlafen. Dann löste sie sich langsam aus ihrer Starre und begutachtete das Maß der Verwüstung - es war beinahe noch schlimmer, als sie gedacht hatte.
Nichts war mehr dort, wo es hingehörte.
Sie verbot sich, darüber nachzudenken und machte sich stattdessen daran, aufzuräumen. Auch ohne nachzudenken, wusste sie, wo alles hingehörte - schließlich standen die Dinge schon seit Jahren immer am exakt selben Platz.
Die drei identischen Blumentöpfe, die vor ihrem bodentiefen Fenster zu stehen hatten, sammelte sie zuerst ein. Einer stand in der Küche vor dem Fenster, einer auf einer hüfthohen Komode, auf der früher einmal ein Fernseher gestanden hatte und den letzten fand sie in ihrem Schlafzimmer.
Alma ordnete die drei Pflanzen wieder so an, wie sie vorher waren, drehte sie, bis die Äste wieder in die gleiche Richtung zeigten wie zuvor.
Es folgten die zwei kleinen Vasen, mit den je zwei Tulpen, die immer auf ihrem Tisch standen, die kleine Kerze genau in der Mitte zwischen ihnen. Auch die Stühle rückte sie zurecht, bis sie wieder einen einheitlichen Abstand zu den anderen und dem Tisch aufwiesen. In der Küche hatte Marius nichts umsortiert, sondern die Dinge lediglich ‚aufgelockert‘. Viele hatten ihr schon gesagt, dass ihre Wohnung viel zu strickt und steril wirkte, wenn sie alles penibel so anordnete, wie sie es brauchte.
Eine halbe Stunde später sank sie wieder auf die Couch und spürte, wie sich die Schlinge, die sich um ihren Oberkörper geschlungen hatte, langsam lockerte, als ihr Blick durch ihre Wohnung glitt. Es war erstaunlich, wie anders der Raum doch wirkte, wenn alles so angeordnet war, wie sie es wollte.
Alma atmete erleichtert durch und ließ ihren Kopf nach hinten fallen. Endlich fühlte sie sich wieder wie Zuhause.