Die Augen weit aufgerissen und die Ohren aufmerksam gespitzt schlich Kuro durch das Unterholz. Wie erwartet hatte er die Clangrenze überwinden können, ohne bemerkt zu werden und war nun bereits tiefer in das Gebiet ihrer Nachbarn eingedrungen. Auch hier waren die meisten Fährten schon alt und abgestanden und er fragte sich erneut, was passiert sein könnte.
Kuro war von seinem Clan beauftragt worden, eben das herauszufinden, denn in letzter Zeit markierte der benachbarte Clan seine Grenzen immer seltener und schien auch die Patrouillen schleifen zu lassen. Solch offensichtliche Schwäche zu zeigen, sah dem stolzen Clanoberhaupt überhaupt nicht ähnlich und so hatten sich die hahnebüchensten Gerüchte in Kuros Clan verbreitet. Falls ihr Nachbarclan wirklich nicht mehr so stark sein sollte, wie er es einst gewesen war, könnten sie mit einem Angriff vielleicht zumindest einen Teil des Gebiets erobern und so wichtige Jagdgebiete gewinnen. Dieses Jahr hatten sie deutlich mehr Junge verzeichnen können als sonst und langsam reichten ihre Jagdgründe nicht mehr aus, um all die hungrigen Mäuler zu stopfen.
Ein plötzliches Geräusch ließ Kuro zusammenzucken und er kauerte sich hinter einen Busch. Er musste dem zentralen Lager immer näher kommen, denn er witterte nun mehr Fährten als zuvor und einige frische noch dazu. In einiger Entfernung verschwand ein langer, dünner Schwanz im Gebüsch und Kuro schlich geduckt in die entgegengesetzte Richtung davon. Der junge Luchs wollte sich mit niemandem anlegen - erst recht nicht mit einer Großkatze - sondern lediglich die Lage sondieren. Allerdings bezweifelte er leider, dass die Clanmitglieder einen Eindringling wie ihn einfach so ziehen lassen, sollten sie ihn bemerken.
Mit seiner eher dunklen Zeichnung ging er im Dickicht leicht unter und auch an seiner Ausbildung war nichts auszusetzen, doch seinen Geruch konnte er vor den anderen Katzen leider nicht verbergen und so musste er vorsichtig sein. Dem fremdem Männchen aus dem Weg gehend schlich er weiter voran, deutlich langsamer diesmal und zwängte sich bald schon zwischen zwei Sträuchern hindurch, als er in der Ferne eine kleine Lichtung entdecken konnte.
Der Boden dort war kaum noch bewachsen, so ausgetreten waren die unzähligen Pfade, die sich dort trafen. Kuro konnte mehrere Katzen erspähen - ein Schneeleoparden-Weibchen döste auf einem gewaltigen Stein, ein Leopard machte sich in einer Astgabel gerade über Beute her und in der Mitte der Lichtung drängten sich mehrere Katzen um einen Körper.
Kuros Augen weiteten sich, als er den massigen Körper wiedererkannte, der dorf unbewegt und von Wunden überdeckt lag - das Clanoberhaupt. Die anderen hatten sich neben ihm niedergelassen und trauerten um ihren gefallenen Anführer.
Mit zugeschnürtem Hals zog Kuro sich langsam zurück und wollte gerade den Rückweg antreten, als seine Ohren zur Seite zuckten. Er presste sich instinktiv zu Boden und spürte schon im nächsten Moment, wie eine gewaltige Katze über ihn hinweg segelte. Nichts desto trotz erwischte eine Pranke seine Schulter und fügte ihm mehrere tiefe Schnitte zu. Eine weitere streifte seinen Kopf und riss eine Kerbe in sein Ohr.
Der Schmerz ließ Kuro zur Seite taumeln, doch sobald er sich gefangen hatte, sprintete er los, so schnell ihn seine Beine tragen konnten. Er brach durch das Gebüsch und störte sich nicht daran, dass ihn nun jede Katze im Umkreis würde hören können, denn der massige Körper des Jaguars bahnte sich noch viel vehementer seinen Weg durch den Wald.
Mit rasendem Herzen und schmerzender Schulter hetze Kuro hakenschlagend durch den Wald, in der Hoffnung seinen deutlich schwereren Verfolger abhängen zu können, denn gegen den Jaguar hatte er in einem Kampf absolut keine Chance.
Er wich gerade noch rechtzeitig nach links aus, als er Äste rascheln und Krallen über Holz fahren hörte - es hatte sich auch noch ein Leopard an seine Versen geheftet.
Sein Atem ging immer unregelmäßiger und seine Muskeln begannen zu protestieren, als er das Tempo weiter hielt. Für lange Sprints war sein Körper nicht gemacht, doch da vorn - nur noch ein Stück entfernt - hatte er bereits bekannte Körper erspähen können, die unruhig an der Grenze entlang schlichen und auf ihn warteten. Sie würden die Grenze nicht übertreten können, um ihm zu helfen aber wenn er es bis zu ihnen schaffte ...
Kuros Lungen brannten und seine verletzte Schulter brachte sein rechtes Bein mehrfach beinahe zum Nachgeben, doch er strauchelte völlig entkräftet über die Grenze und hörte, wie seine beiden Verfolger schlitternd vor der Grenze zum Stehen kamen. Der Jaguar stieß ein durchdringendes Brüllen aus und Kuro ging schon wenige Meter später zu Boden, am ganzen Körper zitternd.
Pati, ein gewaltiger Tiger, hatte sich schützend vor ihm aufgebaut und antwortete mit einem warnenden Knurren, während die anderen sich um ihn scharten und notdürftig seine Wunden versorgten.
Wenig später humpelte er mit Erit an seiner Seite Richtung Lager und musste so detailliert wie möglich beschreiben, was er gesehen hatte. Die Pantherdame lauschte ihm mit glänzenden Augen und schenkte ihm einen bewundernden Blick, als er geendet hatte. Die Konkurrenz für diesen Auftrag war groß gewesen und seine Neuigkeiten von höchster Wichtigkeit. Dass er erfolgreich gewesen war, würde ihm die Anerkennung seines gesamten Clans einbringen - plötzlich schienen die Schmerzen in seiner Schulter gar nicht mehr so schlimm und Stolz nistete sich in seiner Brust ein.
„Tharian wird dir sicher einen Platz an seiner Seite anbieten und dieses Andenken“, Erit deutete auf sein gespaltenes Ohr, „wird die anderen für immer daran erinnern, wie du dir seine Gunst verdient hast.“
Bei dem Gedanken hob Kuro seinen Kopf ein wenig höher und schritt mit den anderen zusammen ins Lager. Adrenalin pumpte durch seinen Körper, als er Tharian, ihren Anführer, auf einer Anhöhe stehen sah.
Er hatte es wirklich geschafft!