CN: In dieser Geschichten kommen Tod,
Depression und suizidale Gedanken zur Sprache.
Es hatte über Nacht gefroren. Langsam kam der Winter und würde damit seine üblichen Probleme mit sich bringen. Vor allem würde es wieder zeitaufwändiger werden zum Trossachs zu fahren. Auch jetzt schon fuhr Thia vorsichtig, da die kleinen Nebenstraßen nicht gestreut waren. Einen Unfall brauchte sie nicht.
Eigentlich war sie nicht sicher, warum sie herkam. Sie hätte genug für die Uni zu tun. Klar, die Chancen, wirklich einmal einen Abschluss zu bekommen, waren nicht die besten, aber sie wollte es dennoch versuchen. Ein paar von ihnen schafften es ja dennoch. Warum sollte sie nicht eine davon sein?
Mittlerweile waren viele der Bäume kahl und Blätter fielen auf die Windschutzscheibes ihres Wagens, als sie die nicht betonierte Straße in den Wald nahm, die sie zum Haus bringen würde, zur kleinen Hütte. Wenigstens könnte sie dort ein wenig Lernen. Wenn sonst nichts, wäre das ja etwas wert. Ein wenig lernen, ein wenig lesen und schauen, ob Sean noch lebte. Das war, was ihr im Moment die meisten Sorgen machte und neben dem aufmerksamen Blick der Ältesten der Hauptgrund für sie war, doch zumindest alle zwei Tage herzukommen.
Sie konnten sich nach dem Vorfall nicht erlauben, noch einmal negativ aufzufallen. Denn natürlich war es laut den Ältesten ihre Schuld. William hatte immer schon Matt als den Anführer sehen wollen – ungeachtet dessen, was Matt wollte.
An der Hütte sah alles aus, wie erwartet. Seans kleiner Wagen stand vor der Tür. Rauch stieg vom Schornstein auf. Zumindest ein gutes Zeichen. Es blieb zu hoffen, dass er wirklich da war, dass er keine Dummheiten gemacht hatte.
Sie seufzte, als sie den Wagen hinter Seans abstellte, atmete zwei Mal tief durch. Dann griff sie zu ihrer Tasche, die auf dem Beifahrersitz lag, und stieg aus.
Obwohl es bereits nach elf war, herrschte eisige Kälte. Es würde sie nicht wundern, wenn es bald anfangen würde zu schneien. Einige der kleineren Seen waren jetzt schon von einer dünnen Eisschicht bedeckt.
Ihre wölfischen Sinne warnten sie beim Aussteigen. Die kahlen Bäume sorgten dafür, dass man weit in den Wald hineinsehen konnte. Seit sie keinen Schutzgeist mehr hatten, waren gleich mehrere Fae in das Gebiet eingedrungen – was die Ältesten umso aufmerksamer machte. Sie musste sich beweisen.
Thia schürzte die Lippen, ging dann aber zum Haus hinüber, öffnete die knarzende Holztür und trat ein. „Hey!“, rief sie ins Haus hinein.
Stille. War Sean nicht da?
Seufzend brachte sie die Tasche in das tatsächlich leere Wohnzimmer. Wenigstens brannte im Kamin ein Feuer und das Holz war noch nicht zu verkohlt. Sean musste also bis vor kurzem hier gewesen sein, sofern sich kein Brownie einquartiert hatte.
Dennoch breitete sich etwas Sorge aus. Sean war in den letzten Wochen nicht er selbst gewesen, sofern man das bei ihm so sagen konnte. Normal war er wild, aufbrausend, aggressiv – auf eine hitzige Art und Weise. Die letzten Wochen jedoch war er stiller geworden. Immer stiller … Er war allein losgezogen, in Wolfsform, hatte mit jedem Fae, den er gefunden hatte, einen Kampf angefangen. Als würde er hoffen, so einen Gegner zu finden, der ihn erlöste.
„Sean?“, rief sie in den Flur. Sie schaute um die Ecke, fand die Tür zum Zimmer mit dem Hochbett, in dem er sich aktuell einquartiert hatte hoffen, das Zimmer leer. Ebenso Küche und Esszimmer.
Thias Herz schlug schneller. „Sean?“, rief sie noch einmal, als sie etwas durch das Doppelfenster des Esszimmers sah. Jemand saß auf der Bank vor dem Haus. Jemand, dessen dunkelblondes Haar ganz an Sean erinnerte.
Was machte er da draußen?
Sie seufzte. Wahrscheinlich wollte er allein sein. Deswegen hatte er nicht geantwortet. Natürlich konnte sie es verstehen. Er hatte innerhalb von so kurzer Zeit beinahe alles verloren, was ihm etwas bedeutet hatte. Sarah und Thomas waren für ihn wichtig gewesen, waren das Zentrum seines Lebens gewesen. Sie waren, dass ihn bei Verstand gehalten hatte. Sie alle hatten so etwas. Sie alle brauchten etwas.
Eigentlich war sie noch immer sauer auf ihn. Nein. Sie sollte sauer auf ihn sein. Wie er sich Alicia gegenüber verhalten hatte, war nicht fair gewesen. Nicht gegenüber Alicia und auch nicht dem Rudel, ja, ihrer ganzen Gemeinschaft gegenüber. Dennoch spürte sie im Moment vornehmlich Mitleid. Ihre Kinder lebten nicht bei ihr, doch selbst sie wusste nicht, was sie machen sollte, würde Trish oder Jul etwas zustoßen.
Für eine Weile musterte sie Sean, der nur starr da saß und in den Wald starrte. Legte er es darauf an zu erfrieren? Sie wollte es nicht einmal ausschließen.
Noch einmal Seufzte Thia, dann ging sie in die Küche. Wenigstens war es ordentlich. Sie schaute in den Kühlschrank, fand tatsächlich zwei Packen Milch und nahm einen davon heraus. Warum sie tat, was sie tat, konnte sie nicht einmal sagen. Dennoch setzte sie einen der alten Töpfe auf den Gasherd, stellte diesen an und goss die Milch ein. Sie wartete, bis die Milch kochte, rührte dann Kakaopulver unter und nahm den Topf vom Herd.
Sie hatte nicht die Muse, Sahne aufzuschlagen, fand aber zumindest noch welche, die ohnehin an diesem Tag ablaufen sollte. Wer hatte die eigentlich besorgt? Doch umso besser. Sie teilte den Kakao auf zwei große Tassen auf, goss dann noch etwas Sahne nach und legte schließlich jeweils zwei Marshmallows drauf. Von diesen hatten sie einen Jahresvorrat. Eine der wenigen Sachen, zu denen die Hütte wirklich gut war, waren Grillfeiern.
Mit beiden Tassen in der Hand verließ sie das Haus, wandte sich links und ging schließlich zur kleinen „Terrasse“, die sich vor dem Haus erstreckte.
Eigentlich war es nur ein flaches Stück Erde, das im Sommer von Gras und wilden Blumen überwachsen war. Doch hier standen ein uralter Tisch und die Holzbank, die Matt und Tina vor zwei Jahren gebaut hatten. Auf dieser saß Sean, den Blick tatsächlich in den Wald gerichtet. Eine seltsame Leere lag in seinen blutunterlaufenen Augen.
Vorsichtig legte sie die letzten Schritte zu ihm zurück. „Hey“, meinte sie und stellte eine Tasse vor ihn, ehe sie auf die Bank neben ihn rutschte.
Sean sah sie nur für einen Augenblick an, ehe er zur heißen Schokolade schaute. Ein tiefes Seufzen kam über seine Lippen. „Danke“, murmelte er.
Thia lächelte. „Gerne.“ Sie richtete ihre Aufmerksamkeit selbst auf den Wald, auch wenn es nicht viel zu sehen gab. Die Sonne stand relativ hoch, so dass wenige Tiere unterwegs waren und die, die es doch waren, sich im Unterholz versteckt hielten. Menschen kamen nie soweit heraus. Die Zauber hielten sie für gewöhnlich ab.
Schweigen. Ab und an kamen einzelne Laute aus dem Wald. Kratzen, Knarzen, Klacken. Von irgendwo der einsame Ruf eines Vogels. Nichts, was besorgniserregend war.
Endlich nahm Sean auch die Tasse. Er schnüffelte daran, ehe er einen Schluck trank. Wieder seufzte er, was sie ihm wohl kaum verdenken konnte.
„Hast du heute Nacht etwas schlafen können?“, fragte Thia.
Ein mattes Kopfschütteln war seine Antwort. „Albträume …“, murmelte er.
Thia nickte. Sie legte keine Hand auf seine Schulter, da sie nie wusste, wie er reagieren würde, auch wenn sie es gerne getan hätte. „Soll ich schauen, ob wir dir irgendetwas besorgen können?“ Es würde schon irgendwo einen Trank geben.
Sean aber schüttelte den Kopf. „Es wird irgendwann schon besser …“ Wieder hob er die Tasse und trank. „Ich wünschte, ich hätte hier einen Fernseher. Irgendetwas, um mich abzulenken.“
Auch Thia trank nun. „Ich könnte schauen, ob ich einen besorgen kann“, erwiderte sie. „Und sei es nur vorrübergehend.“ Sie hatten hier zwar keinen Anschluss, doch ein DVD-Player dazu und er konnte zumindest Filme oder Serien schauen.
Sein Schlucken war deutlich zu sehen, doch er nickte. „Das wäre nett. Ja.“
Thia musterte ihn. Er hatte sich seit Tagen nicht rasiert, so dass sein Gesicht aktuell ein wenig das eines Eremiten erinnerte, der im Wald auf irgendeine rettende Vision wartete. Vielleicht war es gar nicht mal soweit weg von der Wahrheit.
Was konnte sie ihm sagen? Das war die Frage, mit der sich noch immer kämpfte. Denn es gab wenig, was sie sagen konnte, dass die Dinge besser machte. Sie hatte sich nie in jemanden verliebt, wie sollte sie da seine Gefühle nachvollziehen? Auch mit Trish und Jul war ihre Beziehung zu Felix eine ganz andere, als was Sean mit Sarah gehabt hatte. Felix war Vater, weil ihre Kinder einen Vater gebraucht hatten. Jemand, der Kin war.
Jetzt nahm Sean einen tiefen Schluck, leerte die Tasse beinahe komplett. Als er aufatmete bildete sich eine besonders dichte Atemwolke vor seinem Mund. „Ich wünschte, ich könnte zurück“, murmelte er. Dabei sagte sein Tonfall, dass er mehr seine Gedanken aussprach, als mit ihr zu sprechen. „Ich wünschte, ich könnte noch einmal … ich könnte da sein …“ Er schüttelte den Kopf und blinzelte, wohl im Versuch die Tränen zu unterdrücken.
Sie waren Werwölfe. Sie weinten nicht.
Thia schwieg, zwang sich den Blick von Sean abzuwenden und in den Wald hinauszuschauen. Er wollte nur sprechen, nicht mit ihr reden.
„Manchmal wünschte ich mir, dass ich sie nie kennengelernt hätte“, murmelte er. „Dann würde sie noch leben. Ich wünschte mir, sie wäre nie in diese ganze Sache reingezogen worden, wäre nie …“ Ein Seufzen. „Ich wünschte mir, ich hätte sie beschützen können.“ Dabei klang seine Stimme brüchig.
Thia presste die Lippen aufeinander und tastete nun doch nach seinem Arm, um zumindest für einen Moment die Hand auf diesen zu legen. Kurz warf sie ihm einen Blick zu. Tatsächlich glänzte eine Träne auf seiner Wange. „Ich weiß …“
Er wandte sich ab. Sein Atem zitterte. „Ich will …“ Nach nur zwei Worten brach er ab, so dass es offenblieb, was er wollte. Aber Thia glaubte zu verstehen. Er wollte bei ihnen sein. Bei seiner Familie. In seinem Zuhause. Bei Sarah und Thomas. Doch wenn er starb, dann wäre sie mit Matt allein – das wusste auch Sean. Deswegen durfte er nicht sterben. Deswegen musste er bei ihnen bleiben.
„Es tut mir so leid“, flüsterte sie. „Es tut mir leid.“
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60-Minutes-Challenge
Prompt: Manchmal wünschte ich, dass ich ...
Die Geschichte ist wieder in der Welt von Der Schleier der Welt angelegt und arbeitet erneut mit Seans Trauma.