Anna war ein Biest.
Das fanden ihre Klassenkameraden und auch Lena, die neu war auf dieser Schule, hatte schon ihre Krallen zu spüren bekommen. Lena war hübsch, mit ihren langen, dunklen Haaren, welche sie meist zusammengebunden hatte. Sie war schlank und sportlich. Und auf Anhieb beliebt, bei den Jungs als auch bei den Mädchen. Durch ihre freundliche, offene Art hatte sie schnell Freundinnen gefunden, und auch Bewunderer.
Eines Morgens wollte Lena sich noch einen Kakao holen, bevor die Schule begann. Es war ihr morgendliches Ritual, ohne das Getränk konnte der Tag nicht starten. Ihre neugewonnene Freundin Marie war bei ihr, und sie unterhielten sich fröhlich, als Anna plötzlich auftauchte. Mit ihren kurzen Haaren, die ihr bis zu den Ohren gingen, und der aufgesetzten Kapuze machte sie auf den ersten Blick keinen freundlichen Eindruck.
„Könnt ihr euch mal beeilen? Andere wollen vielleicht auch was haben!“, schnauzte sie die beiden Mädchen an, die es gewagt hatten, sich vor dem Getränkeautomat zu unterhalten.
„Hallo Anna, sorry, war keine Absicht… Ich hol mir nur schnell meinen Kakao, dann bist du sofort dran.“, versuchte Lena es freundlich. Marie zog sie leicht am Ärmel, damit sie zur Seite ging. Aus gutem Grund.
Anna grummelte etwas unfreundliches, dann schubste sie ihre Klassenkameradin einfach beiseite. Marie konnte sie gerade noch festhalten, damit Lena nicht fiel.
„Hey, spinnst du?! Du bist doch nichts besseres als wir!“, rief sie erschrocken. Anna musterte sie abwertend, bevor sie sich umdrehte, und mit ihrem Getränk zum Klassenzimmer ging.
„Was sollte das denn…?“, fragte Lena niedergeschlagen. Sie dankte der Freundin fürs auffangen, und holte sich zögerlich ihren Kakao.
„Keine Ahnung, was mit der los ist. Die ist immer so drauf. So ne blöde Kuh.“, antwortete ihr Marie. Später in der Mathestunde, sollte Lena an die Tafel kommen, um eine Aufgabe zu lösen. Mist, ausgerechnet so etwas ist dran… Mathe ist echt nicht meine Stärke. Das Mädchen war in Gedanken bei Anna gewesen, und hatte nicht aufgepasst. Sie wollte wissen, warum die andere so gemein zu ihr war! Ratlos und etwas verloren stand die Fünfzehnjährige vor der Tafel, und drehte nervös die Kreide in der rechten Hand.
„Entschuldigen Sie, Frau Neubauer. Ich… Ich weiß die Lösung nicht.“, gab Lena zu, und ließ den Kopf hängen. Aus einer der hinteren Reihen hörte sie abfälliges Lachen und sah, wie Anna grinsend mit einem Jungen tuschelte. Na super. Heute ist wohl nicht mein Tag… Sie durfte sich setzen und ein anderer Schüler, dessen Namen sie noch nicht kannte, wurde aufgerufen. Ihre Laune besserte sich kaum Laufe des Tages.
In der letzten Unterrichtsstunde hatte ihre Klasse Sport. Jungen und Mädchen spielten gemischt Basketball. So wie Lena ihre Klassenkameradin Anna auch nicht mochte, sie konnte trotzdem den Blick nicht von ihr abwenden. Geschickt schlängelte sie sich mit dem Ball an ihren Gegnern vorbei, und warf einen Korb nach den anderen. Die Jungs aus ihrem Team johlten, und klatschten ab, wenn sie wieder mal getroffen hatte.
Lena war im gegnerischen Team, und gab alles. Sie hatte am Ende sogar drei Körbe geworfen, wofür sie von ihrem Team Anerkennung bekam. Dennoch verloren sie am Ende. Das Mädchen war froh, als die Schulstunde vorbei war, und sie sich duschen und umziehen konnte.
Als sie nach Hause gehen wollte, sah sie Anna hinter der Turnhalle verschwinden. Jetzt oder nie! Sie scheint allein zu sein, und ich muss wissen, warum sie so gemein ist. Mit diesen Gedanken folgte sie Anna, und nutzte aus, dass ihre Freundinnen noch nicht draußen waren. Hastig ging sie um die Ecke, und prallte beinahe mit Anna zusammen.
„Was willst du denn hier?“, fragte die Kurzhaarige finster. Wieder hatte sie die Kapuze ihres Pullis aufgesetzt.
„Du rauchst?“, entfuhr es Lena erstaunt.
„Hast du ein Problem damit? Wenn du das einem Lehrer sagst, dann...“, drohte ihr Anna.
„Nein, ich sage es schon niemandem. Vertrau mir.“, sagte sie ruhig, und wollte ihre Klassenkameradin besänftigen. Diese musterte sie abschätzig. „Ich wollte nur… Dich besser kennenlernen.“, schloss sie lahm.
„Aha.“, antwortete die Kurzhaarige spöttisch, und zog an ihrer Zigarette.
„Ich denke nämlich, dass es einen Grund gibt, dass du so abweisend zu allen bist. Du musst ihn mir nicht erzählen, aber es würde mich freuen, wenn wir darüber reden könnten.“, sagte Lena schließlich mutig.
„Hm.“ Anna sah sich um, wie als hätte sie Angst, dass andere Schüler ihr Gespräch mit anhörten. Doch die beiden waren allein. „Und warum sollte ich dir den Grund nennen?“, fragte sie genervt.
„Weil… Ich dich mag. Irgendwie...“ Lena drehte ein paar Haarsträhnen mit ihrem Finger und wurde rot.
Ungläubig musterte sie die Andere. In Annas Augen lagen Misstrauen und Schmerz. „Du lügst doch. Mich mag keine hier. Schon gar nicht solche Tussis wie du.“, beim letzten Wort spuckte sie abfällig auf den Boden und wandte den Blick ab.
„Was soll das heißen? Du kennst mich doch gar nicht. Man sollte nicht alle über einen Kamm scheren.“, sagte Lena betroffen. „Ich lüge dich nicht an. Wie du vorhin Basketball gespielt hast, war echt toll. Ich dachte, ich wäre gut, aber du bist um Längen besser als ich.“ Sie lächelte die andere an.
„Dann bist du die einzige hier, die sich nicht für was Besseres hält.“, meinte Anna nur, und blies den Rauch aus.
„Das kann ich noch nicht einschätzen. Aber ich bitte dich, gib mir eine Chance dir zu zeigen, dass ich es ernst meine.“ Zaghaft lächelte Lena ihre Klassenkameradin an.
„...Na gut, wenn es sein muss. Aber du hältst dicht, klar?“ Anna trat den Rest ihrer Zigarette mit dem Schuh aus.
„Abgemacht.“ Lena hielt ihr die Hand hin. Zögerlich nahm Anna sie, und lächelte leicht. Der Anfang war getan.