60 Minutes Challenge -- Prompt: Die Schöne und das Biest
Alea betrachtete sich noch einmal im Spiegel und zupfte am Saum des Kleides, das sie heute Abend tragen musste. Im Schein des Mondes, den sie im Spiegel sehen konnte, wirkte es, als wäre es aus purem Licht geschaffen. Der schiere, silbrig glänzende Stoff floss nur so dahin und umarmte ihren Körper wie eine zweite Haut, ließ sie jedoch zierlicher wirken als sie wirklich war. Wieder einmal haben sich die königlichen Schneiderinnen selbst übertroffen und sie trug sich auf, nach dem Fest noch einmal bei ihnen vorbei zu schauen und sich persönlich zu bedanken.
Denn was sie im Spiegel sah, war schön. Alea fand sich schön. Und das kam definitiv nicht allzu häufig vor. Doch in diesem silbrigen Kleid, das das Licht des Mondes förmlich aufzusaugen schien als wäre es ein Teil von ihm, konnte sie es nicht länger leugnen. Es war, als wäre sie ein anderer Mensch. Und vielleicht war sie das ja auch. Allerdings musste sie darauf achten, dass die Ärmel nicht zu weit nach oben rutschten und ihre diversen Narben preisgaben, von denen die ältesten schon ein duzend Jahre zählten. Die Narben des Biestes. Die Narben, die sie zu der Person machten, die sie war.
“Ich bin das Biest,” hatte sie einst zu ihrem Bruder Aris gesagt.
“Der Krieg macht Biester aus uns allen,” hatte dieser nur mit einem traurigen Lächeln erwidert und seine Schwester an die Brust gezogen.
“Das meine ich nicht,” war Aleas Antwort, doch sie wehrte sich nicht gegen die Umarmung. Aris brummte nur ein “Hm?”, also verschränkte sie die Hände hinter seinem Rücken und fuhr fort: “Sie nennen mich das Biest. Dich übrigens auch, aber nur manchmal”, grinste sie. Einen Moment lang herrschte Stille.
“Das Biest also?”
“Jep.”
“Wirst du dich dann auch in ein großes böses Monster verwandeln und ihre Armeen zerfleischen oder tust du das nur in ihrer Phantasie?”
Alea schnaubte. “Das hab ich noch nicht rausgefunden, aber erinner mich mal daran, dass ich nachfrage, bevor ich dem nächstbesten von ihnen die Kehle aufschneide.”
Aris, der ein wenig größer war als sie, erwiderte nichts, aber Alea spürte, wie er die Arme fester um sie schlang. Sie redeten nicht häufig so offen über ihre Rollen in diesem Krieg, denn sie waren sich derer seit frühester Kindheit bewusst. Alea war die Kronprinzessin, Aris ihr Zwillingsbruder, dessen unausgesprochene Aufgabe es war, bei der Verteidigung seines Königreichs auf dem Schlachtfeld einen heldenhaften Tod zu sterben. Eigentlich sollte Alea das Schlachtfeld nie betreten, doch sie hatte sich schon seit jeher gewehrt, etwas ohne ihren Bruder zu machen. Oder vielmehr, ihn etwas ohne sie machen zu lassen. Sie war schließlich die Erstgeborene und somit war Aris ihr kleiner Bruder, auf den sie aufpassen musste. Und eher würde sie einen Sonnenblüter küssen als Aris alleine in den Krieg ziehen zu lassen. Dabei ging es ihr weniger um den Krieg selbst als um ihren Bruder.
Ihre Ausbildung zum Kämpfen mit dem Schwert sowie Pfeil und Bogen hatten sie im Alter von sechs Jahren begonnen, die erste Person hatte sie mit acht getötet. Seitdem wurde sie jeden Tag abseits von den anderen Soldaten im Königreich ausgebildet, denn niemand durfte erfahren, dass die Kronprinzessin von Lunaria eine ausgebildete Kriegerin wurde, noch dazu eine Assassine, die darin spezialisiert war, die feindlichen Anführer hinterrücks zu meucheln.
Auf dem Schlachtfeld trug sie eine Maske, die sie selbst entworfen hatte und sie nicht in ihrer Bewegung doer Zielfähigkeit einschränkte, die aber den Gegnern Angst und Schrecken einjagen und den Überlebenden im Gedächtnis bleiben sollte.
Daher der Name. Darum war sie das Biest. Auf dem Schlachtfeld konnte sie darüber nur verächtlich Lächeln und wurde von Adrenalin durchflutet.
Hier in ihren Gemächern aber, in denen der Mond ihr wie immer den Rücken frei hielt, konnte sie dem nichts abgewinnen. Es erfüllte sie mit Leere, an den Ewigen Krieg zu denken, an dessen Ursprünge sich die letzten drei Generationen schon gar nicht mehr erinnern konnten, der vielleicht schon seit Anbeginn der Zeit herrschte. Sie hasste den Krieg. Am liebsten würde sie ihn beenden. Aris ging es genauso.
Eines Tages, das wusste sie, würden sie es tun. Sie würden den Krieg beenden und mit ihm das gleichgültige, resignierte Leiden im Königreich. In beiden Königreichen. Doch der Weg dahin war noch ein weiter und heute Abend würden sie einen weiteren sinnlosen Sieg feiern. Ein weiterer Tag, an dem jeder hier davon überzeugt war, für das Richtige zu kämpfen, doch niemand konnte genau sagen, was das war.
Das Richtige. Gab es Richtig und Falsch überhaupt im Krieg?
Ein bestimmtes Klopfen an der Tür riss Alea aus ihren Gedanken. Sie starrte noch immer ihre Reflexion im Spiegel an und fuhr mit den Händen über die glitzernd weißen Applikationen, die an einigen Stellen die Form von Edelweiß annahmen. Das Zeichen der königlichen Geschwister. Ihr Symbol der Hoffnung.
Es klopfte erneut.
“Komm doch einfach rein, Aris!” rief sie.
Dieser trat ein, gekleidet in dunkelblauen Beinkleidern und einem Hemd, das aus demselben Stoff zu sein schien wie ihr Kleid. Darüber trug er eine Weste aus einem silbrigen, fast schon dunkelgrauen Stoff, der aber nicht weniger im Mondschein glänzte. Seine Haare waren wie immer eine wilde hellblonde, fast schon weiße Mähne, die in alle Richtungen abstand. In zwanzig Jahren hatte er noch immer nicht gelernt, mit seinen Haaren umzugehen. Alea konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als sie ihren Bruder so musterte.
Bevor einer von ihnen jedoch etwas sagen konnte, wurde Aris mit einem “Ey, lass mich auch durch!” zur Seite geschoben und das amüsierte Lächeln auf Aleas Lippen wurde sofort zu einem ehrlichen Grinsen, denn Levi schob sich an seinem großen Bruder vorbei und rannte auf sie zu. Oder er wollte auf sie zurennen, denn in dem Moment, in dem sie sich vom Spiegel weg und ihm zuwandte, blieb er mit weit aufgerissenen Augen stehen. Die Kinnlade fiel dem Neunjährigen ebenfalls herunter.
“Woah!” sagte er nur.
“Na du,” grinste Alea weiter und beugte sich zu ihm herunter. Der wird doch auch immer größer, dachte sie sich, als sie ihm durch die Haare fuhr.
“Du glänzt ja richtig!”
“Und du erst,” erwiderte sie mit einem Zwinkern und zog ihren kleinen Bruder ebenfalls vor den Spiegel, damit er sich auch betrachten konnte. Auch er schien zu strahlen. “Siehst du? Das Licht des Mondes passt in dieser Nacht auch auf dich auf,” zitierte sie ihre Mutter, die das jede Nacht vorm Einschlafen versprochen hatte.
Levi musterte sich selbst mit einem kritischen Blick, während Alea ihm mit den Fingern das helle, bläulich glänzende Haar noch einmal sanft kämmte. Er trug die gleichen Gewänder wie Aris, doch an ihm wirkte eine solche Aufmachung noch ein wenig dürftig, denn Levi war noch nicht allzu geübt darin, wie man sich als Prinz bewegen musste. Das zu lernen durfte, wenn es nach Alea ging, auch gerne noch auf sich warten lassen. Am liebsten würde sie ihre beiden Brüder von all dem Leid, das Tag für Tag auf sie wartet, für immer beschützen.
Darum kämpfte sie schließlich auch. Dafür war sie zum Biest geworden. Für Aris. Für Levi. Für ihr Königreich.
Doch heute Abend war sie nicht das Biest. Heute Abend war sie die Alea, die schöne Kronprinzessin von Lunaris, die tanzen und lachen und Wein trinken würde, als würde sie nie etwas anderes tun.
Sie betrachtete sich ein letztes Mal im Spiegel, zog ihren Ärmel über ihr Handgelenk und seufzte.
“Bereit?” fragte Aris, der sich hinter sie gestellt hatte.
Da standen sie nun, die drei Geschwister, auf deren Rücken die Zukunft Lunarias lastete. Da standen sie, die beiden Zwilllinge mit Levi in der Mitte, und keiner von ihnen freute sich auf diesen Abend, denn keiner von ihnen sah einen Grund zum Feiern. Doch es war ihre Pflicht und dieser würden sie nachkommen.
Mit einem letzten Griff vergewisserte Alea sich noch einmal, dass ihre Dolche auch fest an ihren Schenkeln saßen, bevor sie Aris' Blick begegnete.
“Bereit.”