60 Minutes Challenge -- Prompt: Sternenhimmel
(Schreibzeit: 57 Minuten)
»Levi?« Alea suchte ihren kleinen Bruder, nachdem sie ihn auf dem Fest nicht mehr finden konnte. Weit konnte er jedoch nicht sein und er würde ganz und gar nicht von selbst auf die Idee gekommen sein zu Bett zu gehen, selbst bei solch fortgeschrittener Stunde, die weit über die Mitte der Nacht hinaus gegangen war.
»Levi?« rief sie erneut, als sie auf dem Schlosshof alles abgesucht hatte. Da kam ihr eine Idee. Seit sie ihm das letzte Mal ihren Lieblingsort gezeigt hatte, fand sie ihn dort immer wieder, denn er hatte beschlossen, dass das fortan auch sein Lieblingsort sein würde. Ein kleiner Garten, der nur von Mitgliedern der Königsfamilie betreten werden durfte. Denn dieser Garten war ein Besonderer. In ihm wuchsen nur Sternengras und Edelweißblumen, um die sich zu jeder Jahreszeit des Nachts Glühwürmchen tummelten. Man sagte sogar, dass in dem Garten das letzte Fünkchen Magie enthalten war, das den Menschen übrig blieb, doch Alea glaubte nicht so recht an Magie.
Schnellen Schrittes lief sie dorthin, der stille Nachtwind wehte ihr durch die kurzen Haare und durch ihr Kleid, das noch immer silbrig schimmerte. Es war ein kühler Abend, doch sie fror nicht, sie genoss es vielmehr.
Sie erreichte den Garten und tatsächlich, da lag ihr kleiner Bruder im Sternengras und spielte mit einem Glühwürmchen, das auf seiner Fingerspitze gelandet war. Der Anblick, der sich Alea hier bot, war ein so friedvoller, dass sie ihn ungerne unterbrechen wollte. Wenn sie könnte, würde sie sich unsichtbar machen und den Moment im Stillen genießen, ohne ihn zu stören. Doch das konnte sie natürlich nicht, und es war ohnehin schon zu spät um sich zurückzuziehen, denn Levi hatte sie schon entdeckt und den Kopf nach ihr ausgestreckt, um zu sehen, wer da gekommen war.
»Da bist du ja, mein Kleiner,« sagte Alea mit einem Lächeln und legte sich zu ihm auf den Boden, ohne auch nur einen einzigen Gedanken an ihr Kleid zu verschwenden.
Levi nickte und sah wieder nach oben, doch das Glühwürmchen auf seinem Finger schien von Aleas Ankunft nicht allzu begeistert zu sein und flog schnell weg, sodass Levi seinen Arm wieder auf dem Boden ablegen konnte. »Das Fest wurde mir zu laut. Hier ist es schön still und nicht so… viel.« Er zuckte mit den Schultern, doch Alea wusste genau, was er meinte. Wenn es eine Möglichkeit für sie gewesen wäre, sich in den Garten zurückzuziehen, hätte sie keinesfalls gezögert, eben dies zu tun.
»Ich weiß, was du meinst. Ich liebe diesen Ort.« Auch Alea hob nun ihren Arm, um eines der Glühwürmchen auf ihrer Fingerspitze landen zu lassen, doch sie schienen es nicht so recht zu wollen. Sollte ihr auch Recht sein. Sie richtete ihren Blick nach oben in den sternenklaren Himmel, an dem sich abertausende kleiner leuchtender Punkte befanden. Ihr stockte der Atem wie er es jedes Mal tat. Immer wieder blieb ihr die Luft weg, wenn sie in den klaren Sternenhimmel sah. Es war ein so wunderschöner Anblick, dass sie sich wieder und wieder darin verlor und beinahe ihre Sorgen vergaß. Dass sie beinahe den Krieg vergaß, der ihr ganzen Leben bestimmte. Wenn sie in die Sterne blickte, vergaß sie manchmal auch sich selbst.
Ein Blick zu Levi verriet ihr, dass es ihm nicht anders ging. Staunen machte sich auf seinem Blick breit, je länger er nach oben sah. Da war ein leises Lächeln auf seinen Lippen, dessen er sich wahrscheinlich nicht bewusst war, und Alea wollte wissen, woran er gerade dachte.
»Woran denkst du gerade, Levi?« fragte sie und legte ihre Hand auf seine, um ihn im Hier und Jetzt zu behalten, denn auch wenn er lächelte, die Sterne hatten eine Macht, die sie nur zu gut kannte.
»Ich denke daran, was Mutter mir einmal gesagt hat. Dass diese ganzen Sterne da oben nur für uns leuchten. Für dich und für mich und für Aris. Und als ich gesagt habe, dass doch aber auch noch andere leben, die vielleicht auch einen Stern wollen, sagte Mutter, dass ich einmal ein guter Mensch werde. Ich weiß nicht, was sie damit meint, aber es klingt schön.«
»Sie meint, dass du gütig bist. Dass du gerne teilst und möchtest, dass alle einen Stern haben.«
»Ja, es sind doch so viele. Ich kann gar nicht so weit zählen, so viele Sterne gibt es. Da kann doch jeder einen ab haben, was wollen wir denn mit so vielen?«
Aleas Herz ging auf, wie jedes Mal, wenn sie sich mit ihrem kleinen Bruder unterhielt. Sie wünschte sich mehr als alles andere, dass sie ihn für immer beschützen könnte. Und sie wusste auch, dass das nicht in ihrer Macht stand, was ihr das Herz zerriss.
»Da hast du absolut Recht, Levi,« antwortete sie und versuchte ihre Gedanken zu verdrängen. Sie wandte den Blick von ihrem Bruder ab und sah wieder hinauf zu den Sternen.
»Denkst du, man kann da hin?« fragte Levi dann.
»Wohin? Zu den Sternen?«
Levi nickte, doch Alea schüttelte nur lächelnd den Kopf. »In einem anderen Leben vielleicht. Uns obliegt es nur, ihren Anblick zu genießen und von ihnen zu lernen.«
»Was denn zu lernen?«
»Na das Leuchten,« lächelte Alea ihn an und bekam ein strahlendes Lächeln als Dank. »Siehst du, genau davon rede ich.«
Einen Moment herrschte Stille, in der beide nur nach oben sahen. Es war ein seltener, friedvoller Moment, in dem Aleas Kopf vollkommen leer war und sie wollte ihn auskosten. Doch Levi fand bald etwas Neues, worüber er reden wollte.
»Was denkst du, Alea, wie kommen die da hoch?«
»Die Sterne?«
»Ja.«
»Hmm. Ich habe einmal eine Geschichte darüber gelesen. Soll ich sie dir erzählen?« Levi nickte eifrig und Alea wandte den Blick wieder nach oben und versuchte, die Geschichte so gut es möglich war zu erzählen. »Es heißt, dass die Sterne das erste war, das überhaupt je existiert hat und dass sie sich aufgetragen haben, über alles Leben zu wachen. Dass sie ihnen Kraft geben und den Weg weisen sollen, solange es ihnen möglich ist. Es gibt zwar Götter, doch auch sie sind den Sternen nur untergeordnet und müssen tun, was in den Sternen geschrieben steht. Für die Sterne ist alles Leben gleich und für jedes Lebewesen gibt es einen eigenen Stern. Das heißt, dass wirklich jeder von uns einen hat.«
Sie wartete, ob Levi etwas sagen wollte, doch er hörte ihr nur gebannt zu. Also fuhr sie fort: »Irgendwann aber wollten die Götter mehr sein als nur die Diener der Sterne, und die Lebewesen wollten mehr sein als die Diener der Götter. Und so kämpften sie, schworen einander die Treue ab und wandten sich gegen die Sterne. Um dieses Ungleichgewicht zu beheben, schenkten sie den Göttern Sonnen und Monde, mit denen sie die Lebewesen besänftigen konnten. Somit gaben sie den Göttern einige Sterne, die nur ihnen gehörten, mit denen sie sich um das Leben in verschiedenster Weise kümmern konnten.«
»Und so sind auch wir entstanden?« unterbrach Levi.
»Genau so. Und die Sterne haben den Göttern den Aufstand verziehen, doch sie haben sich in die Ferne zurückgezogen, sodass niemand mehr sie erreichen kann. Sie wachen noch immer über uns, existieren für unser kurzes Leben nur für uns. Und wenn die Sterne nicht mehr leuchten, dann endet alles Leben.«
Für einen Moment war Levi absolut still. Dann ergriff er wieder das Wort: »Können sie das denn? Aufhören zu leuchten, meine ich.«
»Nicht so lange es dich gibt,« versprach Alea. »So lange du lebst, werden die Sterne für dich leuchten, und jede Nacht wird der Mond auf dich aufpassen.«
Er nickte und schenkte ihr ein beruhigtes Lächeln, was aber sofort wieder in sich zusammen fiel. »Haben wir deshalb Krieg?«
Alea schloss die Augen und atmete tief durch. Alles in ihr widerstrebte dem Gedanken, Levi etwas vom Krieg beizubringen. Doch er war schon neun Jahre alt und hatte nichts als die Wahrheit verdient. Es war ihr lieber, er erführe es von ihr statt von Kriegsberatern ihres Vaters.
»Ja, wir haben Krieg, aber heutzutage weiß niemand genau, warum und wann er begann. Schon unsere Urgroßmutter konnte sich nicht an den Beginn des Krieges erinnern. Aber es heißt, die Sonnenblüter - also die Menschen, die anders als wir die Sonnengötter verehren und glauben, dass alles Gute von der Sonne kommt - würden nach einem Weg suchen, die Sterne zum erlöschen zu bringen. Man sagt, die Sonnenblüter wollen alles Leben vernichten, und das wollen wir verhindern.«
»Und… glaubst du das?«
Alea seufzte. War das nicht genau die Frage, die Alea seit Jahren plagte? Glaubte sie daran? Die laute Stimme, die in ihrem Kopf wiederholt »NEIN!« schrie, versuchte sie schweren Herzens zu ignorieren, denn was konnte sie als königliche Marionette tun? Was brachte es ihr, nicht an diesen Krieg zu glauben? Es brachte gar nichts. Etwas in ihrem Hals schnürte sich zusammen und schnitt ihr die Stimme ab.
»Alea?« fragte Levi unsicher und nahm seinerseits ihre Hand.
»Was ich glaube,« flüsterte sie heiser, doch zu mehr war sie nicht im Stande. »Was ich glaube, mein Süßer, ist, dass wir den Krieg beenden müssen.« Nicht gewinnen, nicht verlieren. Beenden. Mehr sagte sie nicht.
»Gut. Dann schaffen wir das auch. Wenn wir das wirklich wollen, dann schaffen wir alles, Alea.«
Und wieder zerbarst ihr Herz in tausend Teile, denn sie liebte ihren Bruder über alles. Liebte seine Naivität, seinen Optimismus, seine Sicht auf die Welt und wie leicht er sie aufmuntern konnte, und sie hasste, dass auch er all dies eher früher als später verlieren würde. Doch nicht heute Nacht.
Sie verschränkte ihre Finger mit seinen und setzte sich auf, zwang sich zu einem Lächeln und sagte: »Aber zuerst bringen wir dich ins Bett.«