23.10.2019 - Bearbeitungszeit: 20:35 - 21:42 Prompt: Beichte
Wie an jedem Freitagnachmittag befand sich Lou lange nach Unterrichtsschluss in der ersten Etage ihrer Schule. Der Nachhilfeunterricht, den sie ein paar Achtklässlerinnen gab, war vor einer halben Stunde beendet und ihre Schülerinnen schon lange auf dem Weg nach Hause, doch sie saß noch im Matheraum und wollte schon die Stunde für nächste Woche vorbereiten.
Dass dabei die Tür offen stand und sie der Schulband beim Proben zuhören konnte, war natürlich nur ein Zufall. Und dass sie dabei so aufmerksam zuhörte, dass sie nur auf ihren Notizblock starrte und in Gedanken ganz woanders war, hatte überhaupt nichts damit zu tun, dass sie absolut verknallt in die Frontsängerin der Band war. Generell war es reiner Zufall, dass sie ihre Nachhilfestunden auf Freitagnachmittag gelegt hat. Lou hatte ihr Leben und ihre Gefühle total im Griff. Absolut.
Sie seufzte und schüttelte den Kopf, um sich aus ihren Tagträumen zu befreien. Amelia war doch eh komplett außerhalb ihrer Liga. Amelia war cool, talentiert, hatte zwar keinen Plan von Naturwissenschaften, konnte dafür aber umso besser debattieren und schreiben. Es gab keinen Lehrer, der Amelia nicht liebte oder hasste. Sie hatte zu allem und jedem eine Meinung und scheute sich nie, diese auch zu äußern. Noch dazu hatte sie dunkelblaue Haare.
Lou war seit ungefähr zwei Jahren in sie verknallt. Zuerst dachte sie, es wäre reine Faszination, weil Amelia das komplette Gegenteil von ihr selbst war. Relativ schnell wurde ihr jedoch klar, dass sie über Amelia so dachte, wie sie eigentlich über Jungs hätte denken sollen. Sie hatte es noch nie jemandem erzählt. Wie ihr Herz schneller schlug, wenn Amelia sie auch nur ansah. Wie schlimm es wurde, wenn Amelia sie als kleinen Sonnenschein bezeichnete und dabei ehrlich lächelte. Wie sie nicht atmen konnte, wenn Amelia im Raum war.
Wieder seufzte sie. Das ging jetzt schon seit zwei Jahren so und langsam begann es zu schmerzen. Ihr Körper begehrte Amelia. Es gab Tage, da war es so schlimm, dass sie Amelias Hände anstarrte und sich vorstellte sie zu halten... Und dann kamen ihr die Tränen, wenn sie aus ihren Tagträumen aufwachte und sah, dass ihre Hände leer waren.
Auch jetzt wieder traten ihr die Tränen in die Augen. Lou kniff sie zusammen und atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Sie fuhr sich durch die Haare. Das hier brachte doch nichts. Sie sollte einfach nach Hause gehen, statt einer wundervollen, unerreichbaren Person nachzutrauern.
Lou packte ihre Tasche und schob ihre Federmappe und den Notizblock achtlos hinein. Sie griff die Schlüssel, verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter sich ab. Hier draußen war die Musik noch lauter zu hören. Amelias tiefe, klare Stimme hallte durch die steinernen Gänge als wäre sie dafür gemacht. Die Aula war am Ende des Gangs und Lou konnte sehen, dass die Tür offen stand. Sie musste ohnehin zum Sekretariat, um den Schlüssel abzugeben, das befand sich direkt neben der Aula. Niemand konnte ihr etwas anhängen, wenn sie einfach ein paar Minuten stehen bleiben und der Band beim Proben zugucken würde.
Also tat sie genau das. Sie lehnte sich an den Türrahmen, denn die Band - Amelia als Sängerin und noch drei Jungs aus der zwölften, ein Jahr über ihr, - hatte ihr den Rücken zugewandt. Dann plötzlich stellte Amelia ihre Gitarre weg und lief zum Flügel. Der genau in Lous Richtung zeigte. Verdammt!
Doch bevor Lou reagieren und wie immer weglaufen konnte, traf ihr Blick Amelias. Und ihre Welt blieb stehen. Ihr Atem auch. Amelia schien das nicht so zu gehen, denn sie lief ungehindert weiter und setzte sich an den Flügel, klappte ihn auf und spielte ein Paar Akkorde. Sie blickte zu ihrer Band und dann zurück zu Lou. Dann begannen sie zu singen.
“Can anybody find me somebody to love?”
Lou erkannte den Song von Queen sofort und ihr Herz schlug noch ein bisschen schneller, denn sie liebte diesen Song. Und wahrscheinlich auch das Mädchen, das ihn gerade sang.
“Ooh, each morning I get up I die a little
Can barely stand on my feet
(Take a look at yourself) Take a look in the mirror and cry (and cry)”
Lou hatte die Band schon des Öfteren gesehen - um genau zu sein, jeden Freitagnachmittag - und wusste, dass sie ein unglaublich gutes Team waren. Trotzdem war sie beeindruckt von dem, was sie da sah und hörte. Amelia war absolut in ihrem Element und Lou war absolut verzaubert. Zeit und Raum hörten auf zu existieren, da war nur noch Amelia und Queen und dieser Augenblick. Zwar hatte Amelia die Augen geschlossen, wie so oft beim Singen, doch Lou konnte ihren Blick nicht abwenden. Sie versuchte es auch nicht.
“Anybody, anywhere, anybody find me somebody to love, love, love!
Somebody find me, find me love!”
Die letzten Töne des Liedes verklangen und Lou stand noch immer wie angewurzelt im Türrahmen der Aula. Amelia öffnete die Augen und sofort trafen sich ihre Blicke wieder. Sie hatte ein Lächeln auf den Lippen. Ein Ehrliches, ein Verschmitztes, ein Amüsiertes, ein Bescheidenes. Ein Amelia-Lächeln. Lou blieb die Luft weg.
Besonders, als sie plötzlich aufstand und auf Lou zukam. Panik machte sich in ihr breit und sie wollte weglaufen, doch Amelias Blick war ruhig, nicht vorwurfsvoll oder genervt oder gar wütend. Sie lächelte noch immer. Und sie kam auf Lou zu, die nicht wusste, was sie machen sollte... also blieb sie einfach stehen. So ein Türrahmen konnte ganz schön bequem sein.
“Hey,” sagte Amelia und strich sich eine Strähne hinter die Ohren.
“Hi,” krächzte Lou und hätte gerne gewusst, wo ihre Stimme abgeblieben war.
“Hat’s dir gefallen?” War das etwa Unsicherheit, die Lou da in Amelias Augen sehen konnte? Nein, das war unmöglich. Sie musste sich täuschen.
“M-hm,” nickte Lou, denn sie bekam noch immer kein Wort heraus. Klassiker.
“Gut.” Stille. Oh Gott, Lou sollte einfach abhauen und die Situation nicht noch schlimmer machen, als sie ohnehin schon war. “Hast du vielleicht Lust, rein zu kommen und dir den Rest auch noch anzuhören?”
Lou war sich sicher, dass ihre Augen jetzt die Hälfte ihres Gesichts eingenommen hatten. Meinte sie das ernst? Amelia wollte, dass sie ihrer Band beim Proben zuhörte? Lou konnte gar nicht anders als zu nicken, woraufhin Amelia grinste und nach ihrer Hand griff, um sie in die Aula zu führen. Der Rest der Probe war ein einziger Rausch, Lou war sich weder ihrer Atmung noch ihres Herzschlags sicher. Alles, was sie wusste, war dass sie komplett verloren war, was Amelia anging, und dass diese ihre Hand genommen hatte! Sie konnte sie noch immer spüren. Oh Gott, Amelia war so perfekt! Das war ihr einziger Gedanke während der Probe. Sie wusste nicht einmal mehr, welche Lieder sie da spielten.
Kaum war die Probe vorbei, kam Amelia wieder zu ihr und fragte sie, ob sie zusammen zur Bushaltestelle gehen wollten. Lou wusste, sie würde ihr niemals einen Wunsch ausschlagen können.
Also wartete sie und als Amelia bereit war, verließen sie gemeinsam das Schulgebäude. Keine der beiden sagte etwas auf dem Weg zum Bus und Lou hasste die Stille, doch sie wusste nicht, wie sie sie brechen konnte.
“Ich muss dir etwas beichten,” sagte Amelia irgendwann und lächelte verlegen. Lou sah sie nur fragend an, also fuhr sie fort: “Ich habe gehofft, dass du heute wieder da sein würdest.”
“Wieder?”
“Na du gibst doch freitags Nachhilfe. Für die Achten. Und manchmal bist du aber schon weg, wenn wir fertig sind. Naja, ich hab ein bisschen gehofft, dass du den Queen-Song noch mitbekommen würdest.”
Amelia wusste von Lous Nachhilfe? Amelia hatte gehofft, sie würde da sein? Amelia dachte an sie? Lous Herz wusste schon gar nicht mehr, wo es noch hinschlagen sollte, aber anscheinend wollte es raus aus ihrem Brustkorb.
“Lou?” Da war sie wieder, diese Unsicherheit. Lou wollte nach ihrer Hand greifen und ihr sagen, dass die Unsicherheit fehl am Platz war.
“Amelia.” Sie atmete tief durch und versuchte, sich zu sammeln. Jetzt oder nie. Sie würde einfach mit der Sprache raus rücken. Sie hatte nichts zu verlieren. “Ich muss dir auch was beichten. Ich mache die Nachhilfe nur freitags, weil ich euch dann zuhören kann. Ich find' dich nämlich total toll. Und ich weiß, dass ich ein Mädchen bin und dass du ein Mädchen bist und es ist okay, falls du nicht so tickst, aber du bist Amelia und ich bin Lou und wahrscheinlich ist das eh eine doofe Idee, aber hättest du vielleicht mal Bock... naja, zusammen was zu machen?”
Uff.Sie hatte Amelia während ihrer katastrophalen Ansprache nicht anzusehen gewagt und stattdessen den mit Zigarettenstummeln übersäten Boden angestarrt, doch als Amelia nichts sagte, musste sie nach oben gucken. Amelia strahle über das ganze Gesicht und nahm ihre Hand.
“Das würde ich unglaublich gerne, Lou.”