13.11.2019 - Bearbeitungszeit: 20:10 bis 21:06 - Prompt: Seelensplitter
Ich liebe Friedhöfe, vor allem im Herbst. Die Luft ist frisch, die Blätter bunt, die Menschen alle in ihren Häusern, die sie erst in der nächsten Jahreszeit wieder verlassen, wenn alles weiß und voller Lichter ist. Jetzt ist es dunkel. Jetzt ist es gefährlich, denn von überall lauern Gestalten, die man nicht ansehen darf. Bloß nicht ansehen. Und vor allem nicht weg sehen. Am besten verlässt man einfach nicht das Haus.
Und hier stehe ich nun, vor dem Eingang zum Ostnordost-Friedhof. In den vergangenen hundert Jahren hat diese Stadt zehn neue Friedhöfe bauen müssen, denn überall tauchten plötzlich Tote auf, die darum baten, man solle sie doch unter die Erde bringen, hier oben sei es so trist.
Doch die Toten interessieren mich nicht, denn sofern man sie nicht belästigt und unter der Erde lässt, sind sie ganz aufgeschlossene Zeitgenossen, die gerne einen Schwank aus der Zukunft erzählen. Die Lebenden interessieren mich auch nicht, die sind zumeist gelangweilt und im Stress und wissen oft gar nicht, warum. Immer wieder halten sie an der Vergangenheit fest und scheinen vergessen zu haben, was die Gegenwart denn eigentlich ist.
Nein, was mich interessiert, das sind die Seelen. Und es ist allgemein bekannt, dass lebende Menschen keine Seelen haben. Die bekommen sie erst, wenn sie sterben und verlieren sie, wenn sie tot und unter der Erde vergraben sind. Darum gibt es immer mehr Leute, die fordern, eingeäschert zu werden, denn sie hoffen, dass sie dadurch für immer ihre Seele behalten können - was auch immer man als Sterbender mit einer ewigen Seele anfangen will.
Ich habe in Büchern der Vergangenheit und der nicht mehr eintreffenden Zukünfte gelesen, dass man der menschlichen und nicht-menschlichen Seele gerne Eigenschaften zuweist, die die Lebenden nie erreichen können. Die Fähigkeit zu lieben, zu genießen, Freude zu empfinden. Das ist natürlich kompletter Schwachsinn, denn jeder weiß natürlich, dass Menschen zu solcherlei Dingen nicht fähig sind. Man stellte sich wohl auch vor, eine Seele sei bunt und würde in den Farben des Regenbogens schimmern - was auch immer ein Regenbogen sein soll. Doch das stimmt auch nicht, denn es ist allgemein bekannt, dass der Mensch nicht wirklich sehen kann, er redet es sich nur so lange ein, bis er sich einbildet, er könne mit den Augen etwas wahrnehmen.
Manchmal beneide ich die Menschen ja um so viel Einfallsreichtum, doch wenn sie erst einmal mitbekommen, dass sie nicht sehen können, dass sie nicht einmal wirklich existieren… dann ist das Geschrei groß.
Ich schweife ab! Wie jedes Mal, wenn ich einen Friedhof betreten möchte - die übrigens wirklich existieren. Eigentlich ist das ganze Universum ein einziger Friedhof für Wesen, die nie wirklich existiert haben und jene, die es tun, es aber nicht wissen. Es gibt auch einen Grund dafür, dass es schwierig ist, auf einem Friedhof wie diesem hier die Nerven und Gedanken zu behalten, denn man wird sofort umzingelt von den Gestalten, die man nicht ansehen darf, und von jenen spirituellen Geschöpfen, die den Körper des Friedhofsbesuchers nutzen, um einmal wieder eine physische Form zu haben. Die Gestalten, die man nicht ansehen darf, können sie nicht nutzen, denn auch die spirituellen Geschöpfe dürfen sie nicht ansehen. Aber daran gewöhnt man sich wohl mit der Zeit.
Zeit... Noch etwas, das nicht wirklich existiert, doch wir wollen es den Menschen lieber nicht sagen.
Langsam wird es mir zu viel und ich bitte eines der spirituellen Gechöpfe, meinen Körper doch bitte zu verlassen, denn meine Gedanken wollen keinem roten Faden mehr folgen und meine Hand hat schon nach einer Schaufel gegriffen und sich an einem Grab mit einem sehr verwitterten Grabstein zu schaffen gemacht, das definitiv zu alt für menschliche Gebeine ist. Denn die existieren ja auch gar nicht.
Ich merke einen kleinen Widerstand und als ich ihm verspreche, es könnte meinen Körper für einen Augenblick borgen, sobald ich hier fertig bin, freut es sich wie ein Hund, der ein Leckerli bekommt. Denn Hunde existieren, wie allgemein bekannt ist, und sie lieben das Leben. Und das Leben liebt Hunde. Alle lieben Hunde.
Jedenfalls spüre ich jetzt, wie Mein Körper wieder mir gehört. Ich lege die Schaufel beiseite und hebe drei rot-gelbe Blätter vom Boden auf, einfach weil sie mir gefallen. Und dann, die Blätter in den Händen, auf denen sich diverse Insekten tummeln, die ich über meine Finger krabbeln lasse und hoffe, dass sie sich nicht gestört fühlen, gehe ich meines Weges, auf der Suche nach dem Krematorium. Ich weiß natürlich, wo es ist, doch ich muss langsam gehen, damit sich die Insekten wohl fühlen, die unter mir den von Blättern bedeckten Boden beherrschen. Niemand möchte wissen, was passiert, wenn man die sechsbeinigen Kreaturen verärgert. In einer möglichen Zukunft gibt sogar eine Legende, dass die Menschen nur deswegen nicht mehr existieren, weil sie den Insekten in Intellekt und Vielzahl unterlagen.
Ich gehe also langsamen Schrittes auf das Krematorium zu und blicke nicht zur Seite, denn ich weiß, dass da zwei Gestalten, die mir absolut ähnlich sehen und aus Paralleluniversen stammen, mit mir Schritt halten. Ich habe schon zwei mal versucht, mit ihnen Kontakt aufzunehmen, doch sie gaben nur einen markerschütternden Schrei von sich, der das Gefüge von Raum und Zeit durcheinander gebracht hat. Seitdem gibt es auch keine Zeit mehr, nur noch den Raum und die Vergangenheit ist immer die Vergangenheit und die Zukunft immer die Zukunft. Wir alle sind gefangen in einer endlosen Gegenwart - doch das verraten wir den Menschen besser nicht. Die existieren ja auch nicht.
Genervt stelle ich fest, dass ich wieder nicht mir gehöre und da eine spirituelle Präsenz neben meiner eigenen spüren kann. Ich bleibe stehen und mache dem spirituellen Geschöpf weiß, dass mein Versprechen nichtig ist, wenn es sich selbst nicht an die Abmachung hält. Grummelnd verlässt es meinen Körper wieder und ich weiß für einen Moment nicht, wo ich bin.
Dann fällt mir auf, warum plötzlich alles anders aussieht, denn ich stehe schon im Krematorium und kann ihn spüren. Den Seelensplitter, noch ganz frisch und warm und herzhaft. Ich weiß, wie er schmecken wird, weiß, dass er mich stärken wird und hoffe, dass das Gefüge von Raum und noch mehr Raum nicht plötzlich wieder umgeworfen wird. Oder schlimmer noch, das Verhältnis von Realität und Menschheit. Doch alles scheint in bester Ordnung zu sein, als ich ihn erblicke, den Splitter, der alles Licht um uns herum absorbiert und gegen jegliche Gesetze der Existenz verstößt.
Der Splitter hat eigentlich mehr so die Größe des Erdmonds, doch da das Gefüge von Raum und noch mehr Raum ja komplett Kopf steht - was komplett normal aussieht, aber ich mag menschliche Redewendungen, die eigentlich gar nicht existieren -, kann der Splitter auch so groß sein wie meine mit Fell und Malereien bedeckte Faust.
Sobald ich ihn berühre, schreien die beiden Parallelversionen von mir wieder als gäbe es kein Morgen - was es ja auch nicht gibt. Sie schreien so und lange so laut, dass ich beinahe das Bewusstsein verliere, das ich nicht habe und mich am liebsten umdrehen und um Ruhe bitten würde, doch ich scheue mich aus gegebenem Anlass davor, sie anzusprechen.
Der Seelensplitter, der wohl einem Hund gehört haben muss, so reichhaltig wie er ist, stillt mein Bedürfnis nach Tod und Verdammnis und verbreitet ein wohliges Gefühl in meiner Magengegend, die sich spontan bildet. Die Auswirkungen, die Seelensplitter auf uns haben, sind nie vorhersehbar - es gibt schließlich keine Zukunft. Doch was wir wissen ist, dass wir sie vernichten müssen, weil sie sonst Realität und Existenz auflösen würden. Und ich mag meine eigene Existenz. Und dass viele Dinge gar nicht existieren ist auch von Vorteil, denn so muss man sich nicht so viele Sorgen machen über die Vergangenheit, die ewige Gegenwart oder die Zukunft, die es nie geben wird.
Als ich dann doch einmal zur Seite sehe, erblicke ich gerade noch die staubigen Überreste meiner Parallelversionen, die sich förmlich aus der Existenz geschrien haben, doch ich weiß, dass ich sie beim nächsten Mal schon wieder sehen werde, also mache ich mir nicht allzu große Sorgen.
Ich trete aus dem Krematorium, die drei rot-gelben Blätter in meiner Hand nun gänzlich verwelkt und nur noch braunes Gerippe, doch alles andere scheint noch genau so zu sein wie zuvor. Zufrieden begebe ich mich also zu dem Grab, in dem noch immer die Schaufel steckt und erlaube dem spirituellen Geschöpf, sich meines Körpers zu bedienen, wenn er ihm denn gefalle. Dieses bisschen Ruhe vor meinen Gedanken kann ich nun sehr gut vertragen und zur Verdauung des Seelensplitters nutzen.
Als der Himmel über mir gänzlich dunkel ist und die Tore zum Friedhof geschlossen, erwacht mein eigener Geist wieder. Das spirituelle Geschöpf bedankt sich bei mir und ich sehe, dass das Grab ausgehoben und wieder geschlossen wurde. Vom Geschöpf und seinen Gebeinen ist keine Spur mehr, doch das soll mir egal sein.
Im endlosen Gefüge von Raum und noch mehr Raum gibt es noch weitere Welten, in denen Seelensplitter auf mich warten. Und ich bin hungrig. Ich bin immer hungrig.