Aaron blickte auf die große Uhr an der gegenüberliegenden Wand. »Sie sollten gleich kommen«, sagte er zu seiner Frau Tala. Daraufhin legte sie ihr Buch auf die Lehne des Schwarzen Sofas und sah ihn an.
»Leider kommen sie in letzter Zeit viel zu selten.«
Er nickte. »Aber wenigstens können sie heute zu Weihnachten kommen. War bei uns damals doch auch nicht anders. Es kam immer etwas dazwischen.« Er zwinkerte ihr zu, bevor er ein Stückchen näher rückte und ihre Hand ergriff. Schweigend sahen sie sich in die Augen und unterhielten sich ohne miteinander zu sprechen. Nur das leise Knistern des Kamins war noch zu hören.
»Es ist ewig her«, unterbrach Tala schließlich sanft die Stille.
Ohne seinen Blick von ihr abzuwenden, antwortete er: »Es war der 29 Dezember 1963. Ich erinnere mich genau an diesen Tag.«
»Ich ebenso. Ein wunderschönes Datum. Das ist nun schon ziemlich genau 56 Jahre her«, stellte sie fest.
»Und ich kann es noch immer nicht glauben.« Er strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht, was sie mit einem Lächeln auf den Lippen zuließ.
»Wer hätte das alles damals ahnen können?«, fragte sie.
Das schrille Geräusch der Klingel unterbrach ihr Gespräch.
»Du kannst ja schon mal die Zimtsterne bereit stellen, meine Liebe. Du weißt ja, wie sehr die Kleinen diese mögen.« Zwinkernd stand er auf und ging an dem bunt geschmückten Baum vorbei zur Tür. Schon begrüßte er seine Tochter und ihren Mann mit einem Händedruck. Beiden bedeutete er, sich zu seiner Frau zu gesellen, während er selbst sich vorsichtig bückte.
»Na, ihr beiden«, begrüßte er seine Enkelkinder.
»Hallo Opa Aaron«, antworteten sie im Chor.
Nacheinander reichte er ihnen die Hand. »Hallo Kaisa und hallo Faol. Mensch seid ihr groß geworden!«
Die beiden Kinder sahen sich einen Augenblick an und eilten dann ihren Eltern hinterher. Langsam folgte er ihnen. Er war nicht mehr so flott wie die Kleinen, aber das war in seinem Alter nicht sonderlich verwunderlich.
»Ihr habt Zimtsterne!«, rief Faol freudig aus, als er das Gebäck auf dem niedrigen Tisch erblickte.
»Aber nicht zu viele«, ermahnte ihn sein Vater Balthasar freundlich. Doch sein Sohn nickte bloß und schnappte sich ein paar der Zimtsterne. Auch seine Mutter Rula nahm sich etwas Gebäck vom Tisch.
Aaron setzte sich wieder neben seine Frau. »Schön euch wieder zu sehen«, meinte er zu den beiden Erwachsenen, die gegenüber auf den beiden Stühlen Platz genommen hatten.
»Es kam immer wieder etwas dazwischen«, erklärte Balthasar und seine Frau nickte zustimmend.
Während sich die Erwachsenen noch unterhielten, liefen Kaisa und Faol lachend um den leuchtenden Weihnachtsbaum. Zwar lagen keine Geschenke unter diesem, er faszinierte die Kinder dennoch. Zusammen mit den strahlenden Sternen am Fenster und dem flackernden Kamin sorgte er für eine besondere Atmosphäre in dem Raum. Diese wurde durch den Geruch nach frischem Gebäck noch weiter verstärkt. Obwohl es draußen schneite, war es in dem Raum gemütlich warm – vor allem aufgrund des knisternden Kamins. Nicht nur den Kindern konnte man die Freude über die weihnachtliche Stimmung anmerken, auch ihre Eltern schienen trotz des ewigen Stresses zumindest einen Augenblick lang durchzuatmen - zumindest ließ sich das leichte Lächeln auf ihren Lippen so deuten.
»Kinder sind wunderbar«, flüsterte Tala, nachdem sie den beiden Kleinen einige Zeit lang zugeschaut hatte.
Schließlich richtete sie das Wort wieder an ihre Tochter und ihren Schwiegersohn. »Es kommt eben immer wieder das Leben dazwischen. Ist uns damals auch oft passiert.« Sie zwinkerte ihrem Mann zu.
»Man ist schließlich nur einmal jung«, antwortete er und legte seine Hand auf ihren Oberschenkel. »Das waren wirklich interessante Zeiten damals. Aber schön, dass ihr wenigstens zu Weihnachten vorbei kommt.«
Plötzlich standen die beiden Kleinen vor dem Sofa. »Kannst du uns von damals erzählen?«, fragte Kaisa ihren Opa und setzte sich auf seinen Schoß, als er nickte. Faol stürmte zum Tisch, um sich Zimtsterne zu holen und setzte sich dann auf Talas Schoß.
»Ist es in Ordnung, wenn wir...?«, fragte Rula.
»Natürlich.« Aaron nickte, noch bevor sie ihren Satz beendet hat. »Wir bekommen die beiden Kleinen schon unterhalten, stimmt’s Tala?«
Auch sie nickte. »Geht nur.«
Balthasar stand auf und nickte den beiden Alten freundlich zu. »Wir beeilen uns und sollten in etwa zwei bis drei Stunden wieder da sein«, verkündete er.
Aaron hob seine Hand, um zu signalisieren, dass dies kein Problem darstellte. »Ihr seid morgen wieder hier, oder? Dann bleibt ihr auch?«
Balthasar und Rula sahen sich einen Augenblick an, stimmten dann zu. »Gerne«, erklärte Rula. »Morgen sind wir den ganzen Tag für euch da.« Sie erhobt sich und drehte sich zu ihren Kindern: »Morgen gibt es auch hier nochmal Geschenke.«
»Au fein!«, rief Faol.
»Die anderen kommen doch auch, oder?«, fragte Tala und Aaron nickte. »Zumindest hat noch niemand abgesagt. Also alles wie geplant.«
»Wunderbar.« Sie gesellte sich zu ihrem Mann, der bereits in der Tür auf sie wartete.
»Tschüss Mama und Papa«, verabschiedete sich Kaisa. Faol hingegen winkte bloß, da er sich gerade einen Zimtstern in den Mund geschoben hatte.
»Bis später«, sagten Auron und Tala beinahe gleichzeitig.
»Bis später«, meinte auch Rula, als sie schon fast den Raum verlassen hatte. Kurz darauf hörte man die Tür zugehen, dann herrschte bis auf das leise Knistern des Kamins Ruhe. Faol stand kurz auf, um sich weitere Zimtsterne zu nehmen. Als er wieder auf Talas Schoß saß, reichte er zwei Stück an seine Schwester weiter.
»Ihr wolltet von damals erzählen«, erinnerte Kaisa die beiden.
Aaron nickte. Er und Tala warfen sich einen kurzen Blick zu, dann begann er zu erzählen: »Wie ihr wisst, kennen Tala und ich uns schon seit Ewigkeiten. Seit dem 29 Dezember 1963 – das sind bald 56 Jahre. Eine wirklich lange Zeit. Doch die Geschichte, wie wir beiden uns zum ersten Mal trafen und sofort lieben lernten, begann schon deutlich früher.«
***
Damals war ich noch jung und hatte wenig Ahnung von der Welt. In meiner Heimat hatte es mir nie so wirklich gefallen. Nicht, dass es keine schöne Umgebung gewesen wäre. Es war eine der modernsten Städte der damaligen Zeit. Nur mochte ich Städte niemals so wirklich. Dort lebten so viele Menschen, aber keine anderen Wesen. All die Bauwerke waren besonders, aber ihnen fehlte die Magie. Sie vertrieben die Natur viel zu stark.
So fühlte sich meine Heimat für mich kalt und herzlos an. Es gab nichts, was mich in meiner Heimat hielt – ich war bloß noch nicht alt genug, um sie zu verlassen. Außerdem wollte mein Vater, dass ich seine Geschäfte übernehme. Er war der reichste und einflussreichste Händler der ganzen Stadt und überall bekannt. Es war eine Ehre seine Geschäfte übernehmen zu dürfen. Ich konnte ihn nicht enttäuschen. Es war sein Lebenswerk, all das aufzubauen. Er hatte es wirklich weit gebracht und nur diesem Umstand hatte ich mein sorgloses Leben zu verdanken. Ich musste mir nie um irgendetwas Sorgen machen. Wir hatten genug Essen und ich bekam anständige Bildung. Damals leider nicht selbstverständlich.
Doch es geschah wie es kommen musste. Mein Vater starb und ich trug ihn mit meiner Mutter zu Grabe. Damals hatte ich noch vor die Geschäfte meines Vaters an meine Mutter zu übertragen, aber nur kurze Zeit später starb auch sie.
Auf ihrer Beerdigung meinte der Priester, dass ich einen Text verlesen solle. Meine Mutter habe diesen Text kurz vor ihrem Tode geschrieben und sich gewünscht, dass ich ihn vorlese.
Tränen durchnässten das Papier, als ich ihren Worten meine Stimme lieh. Ich solle meinen Weg gehen und froh sein. Einfach leben. Zu ihr in die Sterne sehen, aber dabei nicht mein eigenes Leben vergessen.
Obwohl ich ihre Worte verstand und sie mich berührten, gelang es mir nicht nach diesen zu leben. Stattdessen stand ich nun alleine und einsam da. Ich hatte alles, was man sich wünschen kann und doch nichts. Ich war reich und im Herzen doch so arm.
So gut es eben ging, versuchte ich die Geschäfte meines Vaters weiter zu führen. Nicht, weil ich Spaß daran hatte, sondern weil ich das Gefühl hatte, es ihm schuldig zu sein. Schließlich war ich sein einziger Sohn.
Doch ich schaffte es nicht. Ich versuchte so zu handeln wie er es immer getan hatte. Doch anstatt erfolgreich zu werden, wurde ich bloß immer verhasster. Ich spürte, dass die Leute mich immer weniger leiden konnten. Wie auch? Das konnte nicht einmal ich selbst.
Ich wollte immer hinaus aus der Stadt, all die fremden Wesen und ihre Magie kennenlernen. Doch stattdessen führte ich hier Geschäfte, als sei Geld alles. Ich suchte mein Glück in dem Geld, das ich immer mehr verlor.
Dabei sollte doch gerade ich es besser wissen. Ich selbst war es doch, der die Magie der Natur so sehr liebte und zu schätzen wusste. Der nach der Freiheit der Natur strebte und nicht in der Stadt gefangen sein wollte.
Doch ich konnte nicht gehen, ohne selbst zu wissen warum.
Bis ich eines Tages endlich meinen Weg aus der Stadt hinaus fand. Nicht weil ich es wollte, sondern weil ich vertrieben wurde. Worüber ich heute unendlich dankbar bin.
***
»Verschwinde!«, schreien sie und stürmen auf mich zu.
Es werden immer mehr und ich renne um mein Leben. Ich kann sie hinter mir spüren. Sie treiben mich durch die dunklen und schmalen Gassen. Immer wieder weiche ich aus und versuche dabei nicht in dem Schnee auszurutschen. Sie sind wütend. Sie machen mich für diesen besonders harten Winter verantwortlich. Der eisige Wind erschwert mir die Sicht, aber es beruhigt mich zu wissen, dass es meinen Verfolgern ähnlich geht.
Die Kälte brennt in meiner Brust. Jeder weitere Schritt ist eine größere Qual. Dennoch gebe ich nicht auf. Wenn ich stehen bliebe, würde ich mein Leben verlieren. Entkäme ich, würde ich bloß meine Heimat verlieren. Oder der Ort, der meine Heimat sein sollte.
Nach scheinbar unendlicher Qual erreiche ich den Rand der Stadt. Die wütenden Rufe werden leiser, also werde ich langsamer, bleibe aber nicht stehen. Schließlich verlasse ich die Stadt endgültig und stelle fest, dass sie die Verfolgung nun wohl endgültig aufgegeben haben.
Immer weiter marschiere ich durch den Schnee und lasse alles hinter mir. Ich hatte nicht einmal Zeit gehabt, meine Sachen zu packen, also habe ich nur bei mir, was ich am Körper trage. Doch was hätte ich auch mitnehmen sollen?
Ich wage einen letzten Blick nach hinten, doch meine Heimat ist bereits im Schnee verschwunden. Ich werde niemals zurückkehren. Da bin ich mir sicher.
Dies ist mein Weg. Er wird niemals zurück führen.
Der Schnee wird mit jedem weiteren Schritt dichter. Die Sicht verschlechtert sich. Jeder Atemzug verwandelt sich in dichten Nebel, der mich immer weiter umhüllt. Bald habe ich Mühe den Boden vor meinen Füßen zu erkennen, doch ich bleibe noch immer nicht stehen. Ich muss weitergehen – auch wenn ich nicht weiß wohin.
Mit der Zeit verdunkelt sich der Nebel. Bald wird es stockfinster sein. Bis dahin jedoch, werde ich weiter gehen.
Die Orientierung hat mich schon vor langer Zeit verlassen. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich nicht bloß ewig im Kreis laufe. Zwar entdecke ich im Schnee keine Fußabdrücke, doch dies muss nichts bedeuten.
Plötzlich vernehme ich Mutters Worte. Ich höre ihre Stimme, als stände sie neben mir im Schnee. Wort für Wort, exakt so, wie es damals in dem Brief stand:
Dies ist mein Abschied.
Sobald ihr diesen Text lest oder hört, werde ich schon längst weg sein. Hoffentlich werdet ihr dies hier auf meiner Beerdigung von meinem Sohn vorgelesen bekommen.
Meine Zeit auf Erden ist nun vorbei. Doch seid nicht traurig. Ich hatte viele wunderbare Jahre mit meinem Mann. Gemeinsam hatten wir einen tollen Sohn, Aaron.
Für mich ist es nun an der Zeit meinem Mann zu folgen. Trauert nicht um mich, sondern lebt. Denkt an mich, aber denkt umso mehr an euer eigenes Leben. Lebt euer Leben, um am Ende in Frieden gehen zu können. Um am Ende alles getan zu haben, was ihr tun wolltet.
Gerade du, mein Sohn. Ich weiß, dass du in dieser Welt nicht zufrieden bist. Diese Welt macht dich nicht glücklich. Du musst deinen Weg gehen! Du darfst nicht wegen mir oder deinem Vater hier bleiben! Im Gegenteil. Geh! Tu, was auch immer du tun willst! Ich werde auf dich herunterschauen. Von den Sternen hinab. Und dein Vater ebenso. Wenn du uns sehen willst, schau in die Sterne. Du bist nicht alleine, egal wie einsam du dich fühlst. Wir sind immer bei dir.
Leb dein Leben und nicht unseres. Du kannst sein, was auch immer du willst. Du kannst sein, wo auch immer du willst. Leb dein Leben! Werde glücklich!
Lebt euer Leben!
Genießt es! Es ist viel zu kurz, um es zu verschwenden.
Ich bemerke, dass es aufgehört hat zu schneien. Auch der Nebel hat sich gelichtet. Doch noch etwas ist anders: Der Himmel erstrahlt in unzähligen Farben, vor allem Grün und Rot, die miteinander zu tanzen scheinen. Fasziniert bestaune ich den magischen Tanz und beobachte die wunderbaren Geschöpfe dort oben, die ich noch nie zuvor gesehen habe. Ich habe das Gefühl, dass sie mich begrüßen. Willkommen heißen in dieser neuen Welt. Ich kann meinen Blick nicht mehr vom Himmel abwenden und fühle mich zum ersten Mal in meinem Leben angekommen. Dieses Schauspiel beobachten zu dürfen, ist all das vorherige Leid wert.
»Sie sind wirklich faszinierend, oder?«, fragt mich plötzlich eine leise Stimme.
Ich drehe mich um und erblicke die schönste Frau, die ich jemals gesehen habe. Sie erstrahlt in dem magischen Licht, als sei sie vom Himmel selbst zu mir hinab geschwebt.
»Ich bin Tala«, begrüßt sie mich mit sanft.
Ich brauche einige Augenblicke, bis ich meine Worte wiederfinde: »Ich, ähm, ich bin Aaron. Freut mich dich kennenzulernen.«
Langsam gehe ich auf sie zu und strecke meine Hand aus. Als ich ihre Hand in meiner spüre, verfliegt all die Kälte, die ich bisher gespürt habe. Ich blicke einen Augenblick in ihre Augen, die das himmlische Schauspiel widerspiegeln.
»Die Nordlichter – auch Aurora Borealis genannt – sind wirklich faszinierend. Man erzählt sich Geschichten darüber, dass das dort oben die Seelen Verstorbener seien, die für uns auf der Erde tanzen.«
»Kannst du mir diese Geschichten erzählen?«, bitte ich sie. Ich will mich in ihrer Stimme verlieren, so wie ich mich in dem himmlischen Tanz verlor.
***
Es war eine nebelige und eisige Nacht, als das kleine Mädchen geboren wurde. Fast so, als wolle die Natur dieses Ereignis vor allzu neugierigen Blicken verbergen.
Sie war besonders und das wusste ausnahmslos jeder in diesem kleinen Dorf. Denn sie war in der dunkelsten Stunde der längsten Nacht geboren worden. Deshalb – so erzählte man sich – würde sie selbst in absoluter Dunkelheit erstrahlen. So war es jenes Iglu, dessen Feuerschein im Inneren das gesamte Dorf zu erleuchten schien.
Alle waren gekommen, um sie zu begrüßen, um dabei zu sein.
Das Mädchen wuchs behütet in dem überschaubaren Dorf zu einer neugierigen jungen Dame heran. Ihr flammender Wissensdurst brachte selbst die Ältesten des Dorfes zum Schwitzen, da ihnen die Antworten auf die Fragen des Mädchens ausgingen.
Ihr Verstand wurde immer schärfer, selbst die größten Rätsel durchdrang sie mit Leichtigkeit.
So kam es, dass ihr Heimatdorf dem Mädchen zu klein wurde. Sie fühlte sich einsam und allein, obwohl sie immer von Menschen umgeben war, die sie bewunderten. Aber ihr fehlte jemand. Jemand, der sie verstand. Jemand, der es mit ihr aufnehmen konnte.
Natürlich mochte sie ihren Stamm. Sehr sogar. Sie hatte alle in ihr Herz geschlossen und doch fasste sie einen Entschluss: Sie würde ihre Heimat verlassen. Auch wenn es ihr schwer fiel all das hinter sich zu lassen.
Sie berichtete ihrer Familie und den Ältesten von ihrer Entscheidung, doch diese sprachen sich dagegen aus. Jenseits des Dorfes würde bloß das ewige Eis auf sie warten. Sie fragten das Mädchen deshalb, wohin sie gehen möchte.
Doch zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie absolut keine Ahnung. Sie wusste nicht, wohin sie gehen sollte und was sie dort erwartete. Doch sie wusste, dass sie gehen musste und dass sie dort etwas erwartete.
Deshalb wartete sie bis zur dunkelsten Nacht. Zu dieser Zeit war sie in das Dorf gekommen, also schien es ihr nur logisch es zu dieser Zeit auch wieder zu verlassen.
Als endlich die dunkelste Stunde durch das Land zog, schlich sie sich aus ihrem Iglu und wanderte durch die Dunkelheit. Sie sah nichts, doch sie spürte ihren Weg. Hindernissen wich sie aus, bevor sie diese erreichte. Nicht ein einziges Mal drohte sie in der Dunkelheit zu stolpern.
Als das erste Licht am Himmel erschien, war von ihrer Heimat nichts mehr zu sehen. Sie setzte sich in den Schnee und sah auf die Spuren, die sie hinterlassen hatte. Das war also alles, was noch von ihrer Vergangenheit übrig geblieben war und selbst diese letzten Spuren wurden langsam von neuem Schnee bedeckt. Sie schaute den sanften Flocken zu, bis ihre Fußspuren völlig bedeckt waren.
Die Frage, ob ihre Entscheidung die Richtige gewesen sei, ereilte sie. Hätte sie diesmal vielleicht doch auf die Ältesten hören sollen?
Nun saß sie in dem Schnee. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie komplett alleine. Sie vermisste ihre Familie und all die Bekannten. Was sie wohl gedacht haben, als sie herausgefunden hatten, dass sie einfach verschwunden war? Wurde sie genauso vermisst, wie sie alle vermisste? Diese Fragen trieben sie, doch sie wusste keine Antwort.
Sie umklammerte mit ihren Händen ihre Knie und verstecke den Kopf zwischen diesen. Was hatte sie gehofft hier zu finden? All das schien ihr lächerlich. Warum hat sie so dringend gehen wollen?
In ihren Gedanken bemerkte sie nicht, wie sich der Himmel langsam verfärbte und Farben über den Himmel zu tanzen begannen.
Erst als sie einen Luftzug an ihrer Schulter spürte, sah sie auf, konnte aber nichts erkennen.
»Sieh nach oben«, flüsterte der Wind und sie blicke hoch. Mit offenem Mund bestaunte sie das unglaubliche Farbenspiel am Himmel. Dies war eines der wenigen Ereignisse für die sie keine Erklärung hatte. Minutenlang starrte sie in den Himmel und all ihre Sorgen und Sehnsüchte lösten sich in Luft auf.
»Du bist niemals allein. Vergiss das nicht.«
Sie suchte ihre Umgebung nach der Stimme ab, konnte aber nichts entdecken.
»Ich bin der Wind. Nach mir brauchst du nicht zu suchen.«
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte sie.
»Das dort oben sind die Tänze der Verstorbenen. Zu besonderen Anlässen kommen sie zusammen, um für die Lebenden zu tanzen.«
Das Mädchen schien mit der Antwort noch nicht völlig zufrieden zu sein, fragte aber nicht weiter nach.
»Sie tanzen für dich. Sie beobachten dich schon lange, seit deiner Geburt. Deine Strahlkraft erweckte ihre Aufmerksamkeit. Folge ihnen und du wirst sehen wohin sie dich führen.«
Der Wind verstummte. Das Mädchen warf einen weiteren Blick zum Himmel und bemerkte tatsächlich, dass die Lichter sie zu leiten schienen. Sie folgte dem stummen Ruf und gelangte nach einiger Zeit endlich an ihr Ziel. Dass dies ihr Ziel war, wusste sie sofort, als sie ihn erblickte. Lange Zeit betrachtete sie mit ihm zusammen den Himmel, bevor sie ihn schließlich ansprach und ihm die Geschichte der Nordlichter erzählte.
Dieses Mädchen – das bin ich.
***
Erstaunt sehe ich sie an. Mir fehlen die Worte. Ich will etwas dazu sagen, weiß aber nicht was.
»Eine schöne Geschichte«, sage ich schließlich. Langsam ergreife ich ihre Hand, was sie mit einem leichten Grinsen zulässt. Unsere Blicke treffen sich und wir schauen uns lange in die Augen. In ihnen spiegeln sich die bunten Farben des Himmels.
Wir brauchen keine Worte, um uns zu verstehen. Uns reichen schon die Blicke. Noch nie in meinem Leben habe ich mich so wohl gefühlt. Erst recht nicht in den Nähe einer anderen Person. Wobei ich mich diesmal gerade wegen ihr so wohl fühle.
»Wollen wir ihnen folgen?«, fragt sie mit ihrer sanften Stimme und ich nicke.
»Wohin auch immer du willst.«
Nebeneinander stapfen wir durch den unberührten Schnee. Doch selbst der ist beinahe nebensächlich, da wir beide den Himmel bewundern und uns von den bunten Farben leiten lassen. Wir wissen nicht wohin, doch das Ziel ist unwichtig geworden. Wir sind zusammen. Unsere Einsamkeit ist nun vorbei. Zwei einsame Seelen, vereint durch den Zauber des Himmels.
Nachdem wir einige Zeit gewandert sind, bleibt Tala plötzlich stehen.
»Sieh nur! Das Haus dort!« Sie deutet auf ein schneebedecktes Haus in der Ferne, dass unter all dem Schnee leuchtet. Aus dem Inneren dringt ruhige Musik und zwischendurch lautes Gelächter.
Ich ziehe Tala zum Haus und wir stehen kurz darauf vor der Tür. Als ich sie anblicke, gibt sie mir zu verstehen, dass ich klopfen soll.
Die Tür schwingt auf und ein stämmiger Mann, dessen dunkler Bart ihm bis zur Brust reicht, sieht uns musternd an.
»Ihr seid spät«, brummt er und macht einen Schritt beiseite.
Sofort wird das Stimmengewirr lauter, welches von sanfter Musik begleitet wird. Als ich mich in dem Saal umsehe, entdecke ich unzählige Tische, an denen die verschiedensten Menschen sitzen. Sie alle sind in ausgelassene Gespräche vertieft, dennoch kann ich ein paar neugierige Blicke in unsere Richtung spüren.
Auf der rechten Seite erkenne ich eine kleine Bühne, auf der ein paar Musiker spielen. Vor der Bühne tanzen einige Menschen. Ihr Tanz erinnert mich an den Tanz des Lichtes.
»Wollt ihr nicht hereinkommen?«, fragt er brummend.
Ich nicke. »Natürlich!«
Hand in Hand betreten wir den Saal und sofort stürmt eine Frau auf uns zu.
»Hallo! Seid ihr neu hier?«
Bevor ich antworten kann, meint Tala: »Wir sind hier, weil uns das Licht hergeführt hat.«
Verstehend nickt sie. »Ich bin Dannika. Herzlich Willkommen in diesem bescheidenen Hause.« Sie reicht uns die Hand und deutet anschließend auf einen freien Tisch.
Wir setzen uns und Dannika winkt einem jungen Mann zu, der daraufhin zwischen den Menschen verschwindet.
»Ihr seid also wegen des Lichts hier?«, fragt sie.
»So ist es«, antworte ich ihr.
»Also doch«, murmelt Dannika.
Tala und ich sehen sie fragend an, doch sie setzt bereits zur Erklärung an.
»Auch ich habe dieses Licht gesehen. Alle hier haben es gesehen. Deshalb ist es heute auch so voll. Man erzählt sich, dass dieses Himmelslicht die Ankunft besonderer Personen ankündigt.«
»Inwiefern besonders?«, fragt Tala nach.
»Nun«, fährt Dannika fort, »Das weiß niemand so genau. Die älteste Geschichte erzählt von zwei jungen Seelen, die voller Einsamkeit ihre Heimat verlassen und als Reisende durch das Land ziehen. Unter dem Licht des Himmels sollen sich ihre Seelen auf ewig vereinen.«
Sie betrachtet uns beide genauer, doch meine volle Aufmerksamkeit ist Tala gewidmet. Minutenlang sehen wir uns an und erzählen uns stumme Geschichten. Geschichten über Freiheit und Nordlichter.
»Hier«, ertönt eine unbekannte Stimme und wir beide sehen den Mann an.
Er stellt zwei Gläser vor uns ab und verschwindet wieder.
Dannika nickt uns zu und ich probiere das Getränk. Es schmeckt erstaunlich gut, auch wenn ich keine Ahnung habe, was das ist.
»Welches Datum haben wir heute?«, fragt Tala plötzlich.
»Heute ist der 29 Dezember. Weihnachten ist gerade vorbei, wenn du das wissen willst. Warum fragst du?« Dannika hebt ihre Augenbraue.
»Eine Woche war ich also unterwegs«, erklärt Tala und trinkt einen Schluck.
Sie scheint ihre Erklärung nicht weiter ausführen zu wollen, selbst als ich sie fragend ansehe.
Nachdem wir einige Augenblicke schweigen, wandert mein Blick umher und bleibt bei den Musikern hängen. Vor ihnen haben sich bereits mehr Menschen versammelt und tanzen ausgelassen.
Auch Tala scheint es zu bemerken, denn sie steht auf und will mich mitziehen. Ich kann noch schnell einen Schluck aus meinem Glas nehmen, bevor ich mich von ihr mitziehen lasse. Dannika winkt uns kurz zu und verschwindet dann in der Menge.
Wir tanzen durch die Menge. Schwebend bahnen wir uns unseren Weg, auch wenn wir kein Ziel haben. Wir lassen uns von der Musik tragen, denn wir tanzen, um den Tanz des Himmels zu ehren. Er hat uns hierher geführt. Er hat uns zueinander geführt.
So tanzen wir bis tief in die Nacht hinein. Selbst als die Musiker ihr letztes Lied beendet haben, tanzen wir weiter. Immer weiter, denn wir sehen keinen Grund unseren Tanz zu beenden.
***
»Spätestens zu diesem Zeitpunkt wurde mir bewusst, dass ich sie nicht mehr loswerde. Dass sie mich nun auf ewig begleiten wird und ich sie. Und so kam es auch. Noch heute spüre ich unsere Verbindung, genau wie an jenem Tage. 56 Jahre später«, beendete er seine Erzählung und legte seiner Frau seine die Hand auf die Schulter.
»Ich spüre diese Magie ebenso wie damals«, stimmte seine Frau ihm bei. »Danke. Sie war wunderbar, wie an jenem Tage. Ich erinnere mich noch genau.«
Faol rutschte von Aarons Schoß und schnappte sich ein paar Zimtsterne vom Tisch.
»Eine tolle Geschichte«, meinte seine Schwester mit leuchtenden Augen. »Erzählt ihr mir auch noch wie es weiter ging?«
Man sah ihm an, dass er dieser Bitte seiner Enkelin nicht widerstehen konnte, also ergriff Tala das Wort: »Gerne, Kaisa. Aber nicht mehr heute. Beim nächsten Mal gerne«, flüsterte sie ihrer Enkelin ins Ohr, die noch immer auf ihrem Schoß saß.
»Au ja!« Sofort wurde das Strahlen in ihren Augen noch größer und Aaron meinte in diesen Augen dieselbe Magie zu spüren, die er bei seiner Frau so sehr zu lieben gelernt hatte.
»Aber eine Frage habe ich noch, Oma.« Sie drehte sich um, um Tala besser ansehen zu können.
»Ja Kaisa?«
»Ist die Wintersonnenwende nicht eigentlich am 21. Dezember? Dann müsstest du doch 8 Tage unterwegs gewesen sein und nicht nur sieben.«
»Ach Kaisa«, stöhnte Faol und reichte ihr einen seiner Zimtsterne – vielleicht in der Hoffnung, dass sie so von ihrer Frage abwich. »Musst du immer alles hinterfragen?«
»Natürlich!« Sie nahm sich den Zimtstern und sah ihn stolz an. »Es ist eben wichtig!«
»Heute meistens schon«, unterbrach Tala die beiden. »Aber es verschiebt sich mit der Zeit leicht. Deshalb war sie damals erst am 22. Dezember.«
»Das ist ja schon eine Ewigkeit her«, warf Aaron ein.
»56 Jahre«, verkündete Kaisa und brachte damit Faol erneut zum Stöhnen.
Im selben Augenblick ertönte die Klingel.
»Willst du die Tür aufmachen, Faol?«, fragte Tala. Der Angesprochene nickte und schnappte sich noch ein paar Zimtsterne, bevor er losstürmte. Langsam stand Aaron auf und folgte ihm.
»Mama und Papa sind wieder da!«, hörte man den kleinen Jungen rufen. Auch Kaisa stürmte nun los und an ihrem Großvater vorbei, blieb aber nochmal stehen, um sich bei ihren Großeltern für die wunderbare Geschichte zu bedanken.
»Eine wirklich großartige Geschichte. Aber ihr müsst mir beim nächsten Mal erzählen, wie es weiter geht!«
»Natürlich«, versprach Aaron und nickte seiner Frau lachend zu.
»Danke, dass ihr auf die Kleinen aufgepasst habt«, erklärte Balthasar.
Tala winkte ab. »Sie waren wunderbare Zuhörer und Aaron ein wunderbarer Erzähler.«
Nur weniger Augenblicke später verließen die vier Gäste das Haus und verschwanden in dem leichten Schneegestöber.
»Sie sind wunderbare Kinder«, meinte Aaron, als Ruhe einkehrte. Schweigend ergriff Tala seine Hand und nur wenige Augenblicke später waren sie einmal mehr in ihren magischen Tanz vertieft. So sehr, dass sie nicht bemerkten, wie sich der Himmel verfärbte und ihren Tanz erwiderte.
Doch umso faszinierter bestaunte ein kleines Mädchen diesen stummen Tanz der Farben am Himmel. Sie fuhr mit ihrem Bruder und ihren Eltern nach Hause, nachdem sie bei ihren Großeltern einer wunderbaren Geschichte über eben diesen himmlischen Tanz lauschen durfte. Die Einsamkeit, die dieses Mädchen viel zu oft spürte, war plötzlich verschwunden...