Eigentlich hatte Tommy sich auf ein paar ruhige Tage zuhause gefreut.
Er wusste nicht mehr, warum er dieser Wunschvorstellung überhaupt erlegen war. Vielleicht hatte er einfach etwas gebraucht, woran er sich festhalten konnte und die anderen hatten ebenfalls nicht aufgehört, davon zu sprechen.
„Zur Weihnachtszeit sind wir längst wieder daheim. Du wirst sehen, Kumpel“, hatte Jim vor ein paar Wochen noch gescherzt während er ihm fest auf die Schulter geklopft hatte, „Dann kannst du deiner Mutter nicht nur die schmutzigsten Strümpfe deines ganzen Lebens präsentieren, sondern ihr auch gleich noch helfen, den Truthahn aus dem Ofen zu holen. Nachdem du dir die Hände gewaschen hast natürlich!“
An eine besinnliche Zeit hatte er zwar nicht geglaubt, doch die Hoffnung auf das Wiedersehen mit den strahlenden Gesichtern seiner Familie hatte ihm Kraft gegeben.
Seine liebe gute Mutter, die mit der Zeit gar nicht mehr so konnte, wie sie eigentlich wollte, weil ihr der Rücken Probleme bereitete. Seine kleine Schwester, die ihm vor der Abreise noch stolz erzählt hatte, dass sie einen Job in einer Fabrik gefunden hatte, damit sie die Mutter nun auch mit Geld unterstützen konnte. Sein kleiner Bruder, der darauf bestanden hatte, dass er auf jeden Fall mitkommen würde, weil er ja schließlich auch ein Mann war.
Tommy hatte gelacht, ihm durch das strohige Haar gewuschelt und sich dann zu ihm auf Augenhöhe auf den Boden gekniet, um ihm das Versprechen abzunehmen, dass er gut auf die anderen beiden aufpassen sollte, während er unterwegs war.
"Wenn wir erst einmal in Flandern angekommen sind, wird alles besser", hatte Jim gesagt, "Du wirst sehen, im Handumdrehen können wir dann als Helden nach Hause zurückkehren!"
Tommy hatte ihm geglaubt. Mit aller Kraft hatte er an dieser Hoffnung festgehalten, denn ansonsten war nicht viel geblieben.
Der Krieg forderte Opfer. Wie lange schon waren sie unterwegs?
"Mir geht es noch immer gut", hatte Tommy in der letzten Feldpost nach Hause geschrieben, doch davon war die Lage weit entfernt.
Unendliche Meilen Fußmarsch, schlammige Schützengräben und eiskalte Nächte, all das untermalt von Explosionen, den Schüssen aus Gewehren und den Schreien der Verwundeten. Manchmal kam er leise, manchmal mit einem großen Knall, doch der Tod fand immer einen Weg.
Die Versorgung war knapp, die Vorräte gingen zur Neige. Oft hatten sie nicht genug zu essen, oft mangelte es an Waffen und jetzt mitten im Winter schien auch die dickste Uniformjacke niemals warm genug.
Jim war nicht mehr da. Sie waren voneinander getrennt worden und als Tommy ihn schließlich wiedergefunden hatte, war er am Boden gelegen und nie wieder aufgestanden. Ganz friedlich und ohne jegliche Spuren von Blut war er da gelegen, als würde er einfach nur schlafen.
Tommy träumte nachts davon, er schaffte es nicht, das blasse und doch so erleichtert wirkende Gesicht von Jim zu vergessen. Giftgas, hatte irgendjemand gesagt, den ganzen Schützengraben hätten diese Bastarde ausgeräuchert. Tommy hoffte, dass Jim es nun besser hatte als sie alle hier.
Aber wo? Im Paradies, wo der Garten Eden das ewige Leben nach dem Tod versprach? Im Himmel, wo er nun als Engel auf sie herabsah und darauf achtete, dass Tommy nichts geschah? Das Jenseits war nicht greifbar und die Vorstellung von einer besseren Welt als dieser fiel schwer, wenn man täglich mit diesem Wahnsinn konfrontiert wurde.
Seine Mutter hatte ihn gut erzogen, sie waren oft in der Kirche gewesen, hatten vor dem Schlafengehen und vor jeder Mahlzeit gebetet. Doch nun da er ausgerechnet in der Weihnachtszeit von Leid, Krieg, Blut und Tod umgeben war, fiel es Tommy schwer, nicht mit seinem Glauben zu hadern.
Warum, hatte er Gott oft gefragt und keine Antwort erhalten.
Nach seiner Mutter hatte er sich gesehnt und in die Zeit zurück, als er noch nichts von alldem verstanden hatte. Als Frieden herrschte, den er vor dem Krieg niemals bewusst wahrgenommen hatte.
Aber all diese Grübeleien hatten keinen Sinn. Er musste weiterkämpfen.
Er hatte keine Wahl, sich für etwas anderes zu entscheiden. Seitdem er eingezogen worden war, befolgte er Befehle. Seitdem er die Grundausbildung absolviert hatte, kämpfte er an der Front. Seitdem er gemeinsam mit Jim in einer mutigen Aktion eine ganze Kompanie vor einem Hinterhalt bewahrt hatte, befehligte er nun selbst eine kleine Truppe von Soldaten. Doch Jim war nicht mehr da. Und er fehlte ihm.
Es war früh am heiligen Abend, als Tommy den Schutz ihrer Stellung verließ, um die Umgebung auszukundschaften, damit er sich die weiteren Züge einer kleinen Strategie ausdenken konnte.
Gemeinsam mit einer Handvoll seiner Kameraden war er von den anderen getrennt worden und sie konnten nur erahnen, wo diese sich mittlerweile befinden würden. Dass sie wieder zu ihnen zurück mussten, lag auf der Hand. Doch das Gelände war unübersichtlich, das kleine Dorf ganz in der Nähe war mit größter Wahrscheinlichkeit vom Feind übernommen worden und es weitläufig zu umgehen würde einen Zeitverlust bedeuten, den sie sich nicht leisten konnten.
"Wenn das so weitergeht, türme ich oder laufe zum Feind über", hatte Lloyd noch bitter gemeint und auf den Boden gespuckt.
Tommy hatte ihm gut zugeredet, ihm versichert dass sie nur noch eine Weile durchhalten mussten und sich die aussichtslose Lage bestimmt wieder bessern würde. Er glaubte nicht ganz an die eigenen Worte und wirkte auch nicht halb so überzeugend wie Jim, doch wenn sie nicht zusammen hielten, würden sie keine Chance haben.
Er hatte dem zweifelnden Lloyd die Aufgabe übertragen, Wache zu halten und die anderen zu warnen, sollte er etwas Auffälliges bemerken. Dann war er nur mit seiner Waffe und einem Fernglas los gelaufen, um sich zumindest ein ungefähres Bild von den feindlichen Stellungen im Dorf zu machen.
Die Felder und Weiden nahe des Waldrands waren mit einer dicken Schicht aus Eis und Schnee überzogen. Tommy fiel es immer schwerer, die festen Stiefel aus der Schneedecke zu ziehen und einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Es war leise um ihn herum, beinahe zu leise, um nicht zu vermuten, dass es sich bald wieder ändern würde.
Inmitten der fast schon gespenstischen Stille fühlte er das Blut in seinen Adern rauschen, hörte sein Herz aufgeregt klopfen und sah den hellen Schleier seines eigenen Atems vor seinen Augen wie Nebel aufsteigen.
Er wusste nicht mehr, wohin er gehen musste.
Alles sah gleich aus und er konnte nicht einmal mehr mit Sicherheit sagen, woher er eigentlich gekommen war. Zu allem Übel dämmerte die Nacht langsam und Tommy fürchtete, dass er es kaum schaffen würde, nach seiner Spionagemission rechtzeitig noch zurückkommen zu können, bevor es stockfinster sein würde.
Aber er konnte auch nicht umkehren, irgendetwas trieb ihn an.
Tommy umfasste sein Gewehr fester und bahnte sich verbissen den Weg durch ein Dickicht aus Gebüsch und Ranken an einem Hang, das er durch den Schnee kaum mit den Augen einschätzen konnte.
Ihm war, als würde die Sicht sich mit jeder verstreichenden Sekunde verschlechtern. Nebelschwaden stiegen zwischen den Bäumen auf und vermischten sich mit der weißen Umgebung zu einem undurchdringbaren Vorhang, der ihm die Sicht versperrte und in dem ihm sein Fernglas gar nichts nützte. Fast bildete er sich ein, das Geräusch von Schritten, knirschendem Schnee und knackenden Zweigen zu vernehmen, doch mit Sicherheit waren es nur seine eigenen Spuren, die er vernahm.
"Komm!"
Wie Donnergrollen hörte er eine durchdringende Stimme hinter sich und Tommy erstarrte in seiner Bewegung. als sich wie im Galopp das Getrappel von Pferdehufen rasant näherte.
Seine Augen weiteten sich, als er sich panisch umwandte und durch den Nebel hindurch vier Reiter erblickte, die sich auf seinem geplanten Wege zum Dorf fortbewegten, während er wie eingefroren zurück blieb.
Die Erde schien zu beben, Tommy konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten und fiel schwer atmend zu Boden. Mühsam hob er dennoch den Kopf, um den Pferden hinterher zu sehen. Die vierköpfige Kavallerie stürmte auf das besetzte Dorf zu, doch ehe sie es erreichten, verschwand der Nebel und es wurde hell.
Tommy hob ächzend die Hand, um seine Augen abzuschirmen, doch das Licht war so gleißend und blendete so stark, dass er nichts mehr erkennen konnte. Dass er die Augen geschlossen hatte, bemerkte er erst, als er sie wieder öffnete und für einen Moment sah er Jim vor sich stehen.
Er reichte ihm die Hand, als wollte er ihm aufhelfen und lachte.
"Na komm schon. Steh auf, Kumpel!", rief er, "Oder willst du hier Wurzeln schlagen? Die anderen warten auf dich. Es ist kalt, du wirst erfrieren!"
Tommys Mund stand offen, er konnte den Blick nicht mehr von seinem Freund wenden, den er schon verloren geglaubt hatte.
Hinter ihm war noch immer das Dorf in helles Licht gehüllt.
Die Reiter schienen wie vom Erdboden verschluckt, er konnte keines der Pferde mehr erkennen und auch Jim blickte kurz hinter sich, während sich immer mehr Schneeflocken in seinem struppigen Haar verfingen und auf dem rauen Stoff seiner Uniform hängen blieben.
"Man braucht dich hier noch, also steh auf!", sagte Jim.
Doch als er nach seiner Hand greifen wollte, ging ein Ruck durch seinen Körper, als würde der Boden unter ihm nachgeben und sich die Hölle auftun. Tommy erwartete einen Aufprall, doch dieser blieb aus.
Furchtbare Schmerzen schüttelten ihn stattdessen, Dunkelheit umgab ihn und erst als es sich anfühlte, als würde sein ganzer Körper in Flammen stehen, als würde er von innen heraus brennen und das Feuer ihn mit Haut und Haaren verzehren, schaffte er es, die Augen zu öffnen.
"Du verdammter Mistkerl!", fluchte Lloyd, packte ihn an der Schulter und richtete ihn etwas auf, um ihm eine Flasche in die Hand zu drücken.
Ganz benommen blinzelte Tommy und sah sich um.
"Da hast du ja nochmal Glück gehabt, dass wir dich gefunden haben! Das hätte echt schief gehen können", Lloyd schnaufte und sah ihm fest die Augen, "Was sollte das werden, wolltest du ein Nickerchen machen?"
Ein paar andere lachten.
Wohl weniger über den schlechten Scherz als einfach nur froh, dass er aufgewacht war. Außer dass er sich schwach fühlte und wohl durch und durch unterkühlt sein musste, schien ihm aber nichts weiter zu fehlen.
Erleichterung schien sich im Lager breit zu machen, denn erst jetzt bemerkte auch Tommy selbst, dass er sich weder auf der Anhöhe vor dem Dorf, noch zurück in der alten Stellung befand.
Sie mussten wohl im Dorf sein, die Zelte waren im Schutz einer Häuserwand errichtet und die herabfallenden Schneeflocken schmolzen auf dem erwärmten Boden.
Irgendjemand hatte ein Lagerfeuer angezündet.
Lloyd bot ihm eine Tasse heißen Tee an und Tommy brachte noch immer kein Wort heraus. Erstaunt erblickte er neben seinen Kameraden noch einige andere, komplett fremde Gesichter.
Es dauerte ein paar Momente, bis er begriff, dass er sie aus dem Grund nicht zuordnen konnte, weil sie feindliche Uniformen trugen.
Fast panisch wollte er zu seinem Gewehr greifen, doch er fand es nicht und stattdessen erwischte er nur Lloyds Arm, der ihn noch immer stützend festhielt und an den er sich nun haltsuchend klammerte.
Tommy konnte sich keinen Reim aus der Situation machen, doch am Himmel gaben die vereinzelten Wolken an manchen Stellen den Blick auf die Sterne frei. Und einer davon leuchtete besonders hell.
Beinahe als würde Jim ihm zuzwinkern, flackerte das Licht am Himmel und Tommy musste lächeln, als er den Blick wieder zu den Kameraden wandte.
Gemeinsam mit den neu gefundenen Freunden sangen sie Weihnachtslieder, einige kramten in ihren Rucksäcken, um Decken und übrige Notrationen miteinander zu teilen.
Tommy konnte noch immer kaum reagieren, doch während er die Szenerie beobachtete, fühlte es sich an, als würde sein Herz von einer tiefen Wärme erfüllt werden, die sich bis in seine eiskalten Fingerspitzen zog und ihn einfach nur glücklich werden ließ.
Manchmal geschahen doch noch Wunder auf der Welt.
Auch wenn es vielleicht mehr ein Fiebertraum in seinem Delirium in der Kälte gewesen war, doch Tommy konnte sich dem Gedanken nicht erwehren, dass er mehr gesehen hatte, als er den anderen anvertrauen konnte. Es schien gerade auch nebensächlich, wo sie hier Seite an Seite mit dem Feind saßen und gemütlich das beste aus der aussichtslosen Lage machten.
Vielleicht war es mehr ein Waffenstillstand als ein wirklicher Frieden. Immerhin hatten sie keine Wahl und mussten Befehlen folgen.
Höchstwahrscheinlich würden sie morgen oder übermorgen wieder auf unterschiedlichen Seiten stehen und einander gegenseitig auf den bitteren Tod bekriegen. Doch gerade zählte das alles nicht.
Sie waren keine Feinde. Sie waren Menschen.
Und im Grunde wollten sie doch alle nur dasselbe. Ein wenig Frieden. Ein bisschen Glück. Einen kleinen Schimmer Hoffnung.
Wozu dieser sinnlose Krieg, wenn keiner hinter diesem Leid stand?
Tommy würde keine Antwort darauf finden, so viel war sicher. Aber die Hoffnung, dass sich doch noch alles wieder zum Guten wenden würde, konnte ihm keiner nehmen.
Schützend lag noch immer der Arm von Lloyd um seine Schultern und Tommy schloss erschöpft die Augen, um sich an ihn zu lehnen und das tiefe Brummen seiner Stimme und die davon ausgehenden winzigen Erschütterungen am eigenen Körper zu genießen, während er zumindest ohne den fremden Text zu kennen, ein bisschen mitsummte.
"Danke", hauchte Tommy schließlich leise.
Durch die unmittelbare Nähe konnte er geradezu spüren, wie Lloyd lachte und ihn noch etwas fester zu sich zog.
"Jetzt werde mal nicht gleich sentimental, nur weil wir doch noch ein bisschen Weihnachten feiern können", scherzte er, doch dann klang seine Stimme sanft, als er kaum hörbar flüsterte:
"Frohe Weihnachten, Tommy."