"Bist du dir sicher, dass das eine gute Idee ist, Ben?", fragte Annabelle ihren besten Freund. Er war schon in der vierten Klasse und fühlte sich deswegen besonders groß und stark im Gegensatz zu seiner Freundin aus der dritten Klasse.
"Das wird ein Abenteuer, Anna!", ermutigte er also seine Freundin und quetschte sich durch das verrostete alte Tor, welches die beiden soeben im Wald entdeckt haben.
"Es wird schon dunkel, Ben", wimmerte Anna während sie ihm dennoch ängstlich folgte. Dabei schien der Himmel noch strahlend weiß zu sein.
Ben ignorierte diesen Vorwurf und nahm stattdessen die Hand seiner besten Freundin. Aufmunternd sah er sie mit einem breiten grinsen an.
"Ich bin bei dir, okay?" Und er zog Annabelle hinter sich her, den zugeschneiten Weg entlang. Annabelle war sich immer noch nicht sicher, ob das eine gute Idee war, aber mit ihrem besten Freund an ihrer Seite konnte es ja nicht so schlimm werden.
Gemeinsam stapften die beiden durch den unbetretenen Schnee. Alles, was sie hörten, war das Knirschen der kleinen Eiskristalle unter ihren Füßen.
"Glaubst du, der Weg führt irgendwo hin?", traute sich Annabelle nach einer Weile zu fragen.
"Keine Ahnung", gab Ben nur zurück. "Vielleicht finden wir ja ein altes Haus und dann finden wir Schätze im Keller!" Bei dem Gedanken legte er noch einen Schritt zu. Annabelle hatte Schwierigkeiten, mitzuhalten; Ihr Freund war immer etwas sportlicher als sie gewesen.
Dem kleinen Mädchen war unwohl bei dem Gedanken, in einen Keller zu gehen, der lange nicht mehr benutzt worden war. Aber wenn dort wirklich Schätze liegen würden?
Langsam färbte sich der Himmel grau, und wider erwarten der Kinder fiel etwas Schnee herab. Annabelle betrachtete neugierig die einzelnen Kristalle auf ihrer dicken Winterjacke, als ihr bester Freund plötzlich anhielt und ihre Hand los lies. Fast lief sie in ihn hinein, als sie rechtzeitig aufblickte und mit Ben einen unglaublichen Anblick betrachten durfte.
"Hast du jemals so etwas gesehen?", fragte ihr bester Freund, der aus dem Staunen nicht mehr raus kam.
"Nein", brachte Annabelle nur heraus.
Vor ihnen lag ein unfassbar großes Schloss, eingeschlossen von einem Graben gefüllt mit gefrorenem Wasser. Sie muss einmal richtig prächtig gewesen sein, aber die Pflanzen hatten alles überwuchert. Diesmal war es Annabelle, die weiter ging.
"Glaubst du, hier haben mal Prinzessinnen und Prinzen gelebt?", fragte sie und drehte sich zu ihrem Freund um.
"Und Bälle gefeiert!", ergänzte er. Annabelle stimmte ihm mit einem Nicken zu.
Die zwei Freunde machten sich auf den Weg, das Schloss zu erkunden. Auch Annabelle wollte jetzt wissen, was sich dahinter versteckte. Sie überquerten schnell die morsche Holzbrücke, gingen durch das große Eisentor und begaben sich über den Hof zum Eingang des riesigen Gebäudes.
"Die Tür ist verschlossen!", beschwerte sich Ben, als er eintreten wollte. Annabelle hatte sich aber woanders umgesehen.
"Hier ist ein kaputtes Fenster, guck mal!" Ben folgte dem Ruf seiner Freundin und hielt neben ihr vor einem zerbrochenen Fenster an.
"Da kommen wir niemals hoch", stellte er fest.
"Wir machen Räuberleiter!", fiel Annabelle an. Ben ärgerte es, dass er selbst nicht dran gedacht hatte.
Annabelle verschänkte ihre Hände und lies ihren Freund auf das Fenstersims klettern. Dieser hievte sie dann hoch und gemeinsam sprangen sie vom Sims in den überwucherten Eingangsbereich ein.
Gleichzeitig entfuhr den zwei Freunden ein gehauchtes "Wow", und sie fingen an, zu erkunden.
Zwar waren alle Möbel von jeglichen Pflanzen überwachsen, aber sie schienen dennoch der Zeit stand gehalten zu haben. Als wären sie wie neu.
"Das ist so alt!", stellte Ben fest und betrachtete eine Figur aus Stein.
"Lass uns weiter gehen", schlug Annabelle vor, und sie gingen die Treppe in der Mitte des Raumes hoch.
"Hier sind bestimmt die Prinzessinnen für den Ball herunter gekommen und haben wundervoll ausgesehen mit den wunderschönsten Kleidern von allen!" Annabelle machte große Handbewegungen, während sie sich selbst als Prinzessin im wunderschönen Kleid vorstellte. Am liebsten trug sie ein grünes Kleid, da es so gut zu ihren Augen passte und wunderbar von ihren knallroten Haaren herausstach. So hatte sie es sich immer vorgestellt.
"Und die Prinzen standen unten und haben auf sie gewartet und haben so sehr gestaunt!", fügte Ben hinzu, und stellte sich selbst auf einem weißen Ross vor, wie er seine beste Freundin vor einem bösen Drachen rettete und sie dann zu ihrem Vater zurück brachte. Er stellte sich vor, wie er mit ihr im Ballsaal tanzte und sie im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit standen, so wie es in den Filmen immer war.
"Ja genau!", rief Annabelle begeistert und drehte sich am Ende der Treppe mit ausgestreckten Armen ein paar mal um sich selbst. Ben überlegte unterdessen, ob sie nach rechts, oder nach links gehen sollten. Er beschloss, nach rechts zu gehen und Annabelle folgte ihm.
Sie öffneten ein paar Türen, um dort Bettzimmer, Ankleidezimmer oder Badezimmer zu finden. In einem Wohnzimmer fanden sie sogar ein eine hübsche Teekanne mit Blütenmuster und den passenden Tassen und Untersetzern dazu.
Als Annabelle das sah, lief sie in eines der Ankleidezimmer zurück und kam mit einem grünen, und einem blauen Kleid zurück.
"Machen wir eine Teeparty?", fragte sie und hielt ihrem Freund das türkis-blaue Kleid hin.
"Jaaa!" Ben war begeistert von der Idee, nahm Annabelle das Kleid ab und zog es sich über die Winterjacke. Er lachte, als er Annabelle in dem grünen Kleid sah. "Das ist dir ja viel zu groß!"
Annabelle war aber schon in ihre Rolle geschlüpft, und tippelte zu der Teekanne hin – bemüht nicht über den viel zu langen Stoff zu stolpern.
"Möchtet Ihr etwas Tee, veerhter Prinz?", fragte sie während sie sich mit Teekanne und Teetasse in ihren Händen zu Ben drehte. Der reagierte sofort darauf und tippselte genauso wie seine Freundin zu ihr.
"Oh ja, sehr gerne, veerhte Lady." Annabelle schüttete ihm etwas Tee ein und gab ihm die Tasse. Ben probierte mit einem kleinen Nip. "Oh, dieser Tee ist äußerst köstlich, veehrte Lady!", lobte er die Prinzessin.
"Danke, vielen Dank", entgegnete die Prinzessin gekonnt und wies mit ihrer Hand auf das Sofa, welches mitten im Raum stand. "Setzt euch doch."
Annabelle und Ben spielten noch eine Weile Prinz und Prinzessin, bis sie beschlossen, in ihren prächtigen Kleidern weiter auf Erkundungstour zu gehen.
"Anna!", rief Ben, als er eine dunkle Wendeltreppe hinter einem Vorhang entdeckte. Sie kam sofort zu ihm. "Lass doch mal hier hoch gehen", schlug er vor.
Annabelle fand den Vorschlag gut, und so hoben sie den Rock ihrer Kleider förmlich an und gingen die Treppe hoch.
"Hier finden wir bestimmt einen ganz besonderen Schatz!", meinte Ben aufgeregt.
"Auf jeden Fall!", stimmte Annabelle in der Aufregung mit ein.
Bald schon hatten sie das Ende der langen Wendeltreppe erreicht und kamen bei einer schweren Holztür an. Gemeinsam gelang es ihnen aber, sie aufzumachen und so fielen sie in den Raum hinein.
Was sie vor sich fanden, hatten sie allerdings nicht erwartet. Es war ein großer, runder Raum, auf dessen gegenüberliegenden Seite ein großer Balkon den Blick auf den klaren Nachthimmel freigab. Auf der linken Seite stand ein großes Himmelbett, aber die seidenen Vorhänge verbargen den Blick auf das Innere. Wie alle anderen Räume war auch dieses Zimmer mit Pflanzen überwachsen, allerdings war es hier viel mehr als in allen anderen Zimmern. Vor lauter Ranken, Blüten und Blättern war der Boden kaum noch zu erkennen. Gerade das Himmelbett schien komplett überwuchert zu sein.
Annabelle rannte direkt auf den Balkon zu, und ihr Freund folgte ihr direkt. Was für ein Anblick. Nun konnten sie das ganze Schloss von oben betrachten, und weit und breit waren nur der Wald zu sehen. Nachdem sie diesen Blick für ein paar Momente genossen, gingen die beiden zum Himmelbett und rissen die Vorhänge auf. Seltsamer weise ließen sich die Ranken sehr einfach weg bewegen. Doch die beiden schreckten zurück, als sie die junge Frau vor sich liegen sahen.
"Wow, ist die hübsch!", entfuhr es Annabelle sofort.
"Pscht!", ermahnte sie Ben. "Du weckst sie noch auf!"
"Aber wieso ist die denn hier?", gab Annabelle flüsternd zurück. Sie beugte sich über den Rand des Bettes und rüttelte am Arm der Frau mit den langen, glodenen Haaren. "Halloooo?", rief sie.
Ben versuchte, seine Freundin zurück zu halten, aber davon lies sich Annabelle nicht beeindrucken. Denn sie Frau wachte immernoch nicht auf.
"Vielleicht ist sie krank?" Theorisierte Annabelle herum, als sie nun auf das Bett kletterte.
"Wieso sollte sie?", fragte Ben, und machte es seiner Freundin nach. Die Freunde saßen nun jeder auf einer Seite. Ben musterte das Gesicht der jungen Frau.
"Naja, sie sieht so leblos aus." Annabelle zwickte der Frau nun in den Arm. Es passierte immernoch nichts.
Ben hatte eine Idee. "Du musst sie küssen", befahl er seiner Freundin. Diese sah ihn überrascht an.
"Was?"
"Ja", erklärte er, "So wecken mich meine Eltern immer auf, sie küssen mich."
"Warum küsst du sie dann nicht?", wollte Annabelle wissen.
"Ih!" Ben verzog sein Gesicht. "Das ist doch voll ekelig! Los, jetzt mach schon!"
Annabelle sah ihn zweifelnd an, tat seinem Befehl aber dennoch nach. Vorsichtig näherte sie sich der Frau und zwang sich nach einem kurzen Moment ihr kurz einen Kuss zu geben.
Plötzlich durchfuhr die beiden eine seltsam angenehme Wärme. All die Pflanzen, die das Zimmer überwuchert hatten, verschwanden plötzlich, zogen sich von der Wärme zurück, die die Frau auszustrahlen schien.
Angsterfüllt, aber auch verwirrt sahen sich Annabelle und Ben an.
"Was passiert hier?", fragte Annabelle und sah sich in dem nun hellen Zimmer um. Es war so sauber, als wären niemals Pflanzen hier gewesen.
Die beiden sahen wieder zu der Frau, dessen Augen sich nun langsam öffneten. Vor Schreck fielen sie vom Himmelbett auf den harten Steinboden.
Annabelle und Ben trauten sich nicht, aufzusehen.
Sie hörten ein Rascheln der Decke, die auf der Frau lag, und dann, wie sie sich im Bett zu bewegen schien.
"Guten Tag?", eine helle und sanfte Stimme sprach in den Raum hinein. Vorsichtig drehte sich Annabelle zum Rand des Bettes und sah in das rosige Gesicht der Frau, die soeben noch völlig leblos da lag. "Wer seid ihr? Mein Name ist Aurora."