Lange konnte er nicht weg gewesen sein, allerhöchstens fünf Minuten. Der pulsierende Schmerz in seinem Schädel erinnerte Raffael sogleich an den Schlag. Vorsichtig tastete er mit einer Hand nach seinem Hinterkopf. Da war ein bisschen Blut, aber nicht viel. Als Nächstes löste er keuchend den Sicherheitsgurt, denn so konnte er sich besser umschauen und orientieren.
Vorne durch die Windschutzscheibe sah man gar nichts, nur Schnee und auch an den Seiten reichte dieser wie eine weiße Wand mindestens bis über die Hälfte der Fenster. Raffael steckte definitiv fest. Kaum hatte er das begriffen, da schwirrten die Gedanken in seinem Kopf durcheinander. Oben von der Straße aus würde man den Unfall gar nicht sehen können. Das verhinderten die Böschung und das dichte Schneetreiben. Aber hier im Wagen würde Raffael erfrieren, wenn man ihn nicht fand. Er musste also versuchen herauszukommen, um die Straße zu erreichen.
Er begann mit der Fahrertür und versuchte sie nach außen aufzuschieben, aber ohne Erfolg. Raffael stöhnte vor Anstrengung und ihm wurde schwindelig, aber er versuchte es noch einmal. Wieder nichts. Jetzt kam ihm der Gedanke, die Tür mit den Beinen aufzustoßen. Er trat und stemmte sich gegen die Tür, jedoch vergebens. Von seinen Befreiungsversuchen wurde er erneut für einen Moment bewusstlos. Dieses Mal wohl etwas länger, denn als er zu sich kam, war er nicht mehr allein.
»Ohh«, stieß er überrascht aus. Er stellte fest, dass sein Kopf im Schoß eines anderen Mannes ruhte, der es irgendwie geschafft haben musste, die Wagentür zu öffnen und jetzt auf dem Beifahrersitz saß. Raffael blinzelte, denn es fiel ihm schwer, seinen Helfer zu erkennen. Als dieser merkte, dass sich Raffael bewegte, schaute er ihn an.
»Komm zu dir, ich bin bei dir«, sprach der Unbekannte zu dem verletzten Polizisten.
Wer war das? Der Fahrer des anderen Fahrzeugs? Ein Sanitäter? War Hilfe da? Raffael war mit einem Mal ganz aufgeregt und setzte sich vorsichtig auf.
»Bleib ganz ruhig, ich bin hier, um dir zu helfen«, sagte der fremde Mann.
Raffael verstand nicht genau.
»Wer bist du? Wo kommst du her? Bist du allein?«
Inzwischen hatte sich sein Blick so weit normalisiert, dass er den anderen besser sehen konnte. Es war ein junger Mann, sehr hübsch sogar, mit feinen Gesichtszügen, langem, weiß-blondem Haar und warmen, honigfarbenen Augen.
»Kannst du nicht antworten, Legolas?«
Der Blonde schaute den Verletzten halb amüsiert, halb irritiert an.
»Ich komme von draußen, von der Straße und ja, ich bin allein, aber mein Name ist nicht Legolas.«
»Warst du in dem entgegenkommenden Auto?«
»Nein. Ich habe dich hier gefunden, Raffael.«
Der Fahrer eines ganz anderen Wagens also. Gerade wollte Raffael nachfragen, als der Fremde weitersprach.
»Oben auf der Straße kommt niemand mehr durch. Wir müssen versuchen, die Nacht hier drinnen zu überstehen. Bis der Sturm vorbei ist.«
»Wir werden erfrieren.« Wie sollte das nur gut gehen?
»Nicht wenn wir es schaffen, uns warmzuhalten und wach zu bleiben. Das ist jetzt das Allerwichtigste.«
Der hübsche Blonde schaute Raffael mit einem aufrichtigen Blick an und schien keinen Zweifel daran zu haben, dass dies ihre beste Chance war.
»Okay, wenn wir schon die Nacht hier gemeinsam verbringen, verrätst du mir deinen Namen?«
»Aber ja. Ich bin Lian.«
»Hi Lian. Ich bin Raffael.«
»Ja, ich weiß. Zeig mal deinen Kopf her.«
Raffael zögerte nicht und ließ den jungen Mann die Wunde am Hinterkopf anschauen. Lian war äußerst vorsichtig und schob mit den Fingern ein paar blutige Strähnen zu Seite.
»Das ist nicht so tief. Ich hole den Verbandskasten«, verkündete er dann, um gleich darauf zwischen den Vordersitzen hindurch nach hinten zu kriechen. Raffael ertappte sich selbst völlig irrwitziger Weise dabei, dass ihm bei dieser uneleganten Aktion trotz allem auffiel, was für einen höchst ansehnlichen Hintern sein Helfer hatte. Der Polizist hoffte nur, der Typ würde seinen Blick nicht bemerken, und tatsächlich war Lian inzwischen auf der Rückbank, hob die Abdeckung vom Kofferraum und angelte nach dem Verbandskasten. Gleich darauf machte er sich ans Werk, um dem Verletzten einen Verband anzulegen.
»Hier, drück das auf die Wunde«, murmelte er und gab Raffael eine Mullkompresse.
Dieser ließ sich vom Rücksitz aus verbinden, dann kletterte Lian wieder nach vorn.
»Hier, wickle dich darin ein und zieh die an.“ Er hielt dem anderen die Rettungsdecke und eine gelbe Warnweste hin.
»Was ist mit dir?«
»Du bist verletzt. Du packst dich ein.«
»Ich nehme die Weste, aber die Decke nehmen wir beide.«
Der Blonde sah aus, als wollte er widersprechen, tat es aber nicht.
»Okay, dann komm näher zu mir«, schlug er direkt vor.
Raffael brauchte dafür keine zweite Einladung. Erstens wäre das die beste Lösung, und zweitens kam ihm der Gedanke, dass er so wenigstens nicht allein sterben würde, wenn das denn wirklich sein Schicksal war, zu erfrieren. Kaum hatte er die Weste übergezogen, rückte er zu Lian herüber, der sodann die knisternde Decke auspackte, über ihre Beine bis zur Brust zog und einen Arm um den Polizisten legte.
»Jetzt müssen wir reden, damit wir wach bleiben«, stellte der Blonde fest, »und außerdem darfst du deinen Kopf gern anlehnen.«
Raffael musste lächeln, trotz allem. Sein Helfer war wohl alles andere als kontaktscheu.
»Worüber reden wir denn?«, fragte er ihn.
»Was du möchtest. Wer ist überhaupt dieser Legolas?«