Das Nächste, was Raffael wusste, war, dass da ein Licht den Fahrerraum des Wagens gleißend hell erleuchtete. Er spürte noch immer die Wärme und die Umarmung Lians, doch war er so geblendet, dass er den jungen Mann nicht erkennen konnte. Der aber regte sich nun. Er richtete sich auf, breitete seine Arme aus und ein Rucken und Zucken durchfuhr ihn. Vollkommen überrascht wich Raffael zurück auf die Fahrerseite. Er presste sich rückwärts ans Seitenfenster und rieb sich die Augen, um besser sehen zu können, was vor sich ging. Seltsamerweise spürte er keine Angst. Auch nicht, als seine Sinne ihm offenbar einen Streich spielten, denn es kam ihm so vor, als sehe er den Schatten großer, mächtiger Schwingen im Licht. Doch das war unmöglich, der Wagen war zu klein dafür. Das Licht begann zu flackern oder die Schwingen begannen zu schlagen, er wusste es nicht. Ein Rauschen wurde laut und lauter, sodass Raffael sich die Ohren zuhielt. Auch musste er die Augen schließen, weil das Gleißen immer heller wurde. Die Luft wirbelte wie bei einem Sturm, dann plötzlich, war alles wieder still und dunkel.
Als Raffael es wagte, die Augen zu öffnen, kam nur ein winziger Lichtstrahl in den Wagen hinein. Eine kleine Lücke am Beifahrerfenster war nicht vollständig von Schnee bedeckt und hier brach sich der Strahl seine Bahn. Was der junge Mann erkennen konnte, versetzte ihn in Staunen. Lian war verschwunden. Sofort schaute Raffael auf dem Rücksitz nach, was natürlich keinen Sinn ergab. Dann tastete er nach dem Beifahrersitz. Der war noch etwas warm. Also hatten die beiden Männer, hatte Lian tatsächlich hier gesessen. Auch die Unfalldecke lag zerknittert im Fußraum, das leere Feuerzeug vorn am Armaturenbrett. Doch wo war der schöne Blonde? Raffaels Finger fuhren leicht über seine Lippen. Sie hatten sich doch geküsst?
Und da sah er sie. Eine einzelne, große Feder. Verwundert hob er sie auf und betrachtete sie genauer. Auf den ersten Blick erschien sie schwarz. Im Strahl des Lichts jedoch, hatte sie einen farbigen Schimmer, wie Perlmutt. Raffael hielt den Atem an. Sie konnte nur von Lian stammen. Unter dem Schutz seiner Schwingen hatten sie die kältesten Stunden der Nacht verbracht.
Mit einem Mal hörte der junge Mann Stimmen, die sich dem Wagen näherten. Sie klangen aufgeregt. Gleich darauf begannen mehrere Männer, sich mit Schaufeln durch den Schnee zu graben.
»Ich bin hier!«, rief Raffael, denn er wollte ihnen ein Lebenszeichen geben.
»Hier ist jemand, er lebt!«
»Junge, Junge, das ist noch mal gut gegangen!«
»Hallo? Wir haben dich gleich!«
»Raffael, bist du das?«
»Ja, ich bin’s. Frohe Weihnachten!«
»Du hast Nerven, Junge. Ja! Frohe Weihnachten!«
Die Männer schafften es endlich, die Tür zu öffnen, um Raffael zu erreichen. Er steckte die Feder unter den Pullover an seine Brust, bevor er ihnen über den Beifahrersitz entgegen kroch. Die Morgensonne schien ihm ins Gesicht als habe es in der Nacht keinen Schneesturm gegeben. Zwei Männer von der Freiwilligen Feuerwehr hakten ihn unter und führten ihn bis zu einer Trage. Er kannte die beiden und war wirklich froh, sie zu sehen.
»Wir haben die Meldung bekommen, dass hier ein Wagen liegt, und sind mit Notarzt ausgerückt«, erklärte Klaus, der Tankwart.
Raffael lächelte dankbar, sagte aber nichts. Er war jetzt, wo man ihn auf die Bahre gelegt hatte, mit seinen Kräften am Ende. Man wickelte eine neue Foliendecke um ihn und brachte ihn zum Rettungswagen. Und obwohl sein Körper nach dieser heiligen Nacht erschöpft und geschunden war, erkannte der junge Mann mit all seinen Sinnen, dass er sich verändert hatte. Seine Verbitterung und das Gefühl, nicht liebenswert zu sein, waren verschwunden. Und zum ersten Mal, seit mehr als vier Jahren, fühlte sich Raffael so federleicht wie Schnee, der vom Himmel fällt.