Liebe Limayeel,
viel Spaß mit deiner Weihnachtswichtelgeschichte! Sie entstand im Rahmen der Weihnachtswichtelaktion 2019, organisiert von Destiny. Du hast mir folgende Vorgaben gegeben:
Wunsch-Genre: Slice of Life, Freundschaft / Romantik
Schlagworte: Igraine ohne Furcht, Wunder, Kindheitstraum
Auf deinem Profil fand ich dann weitere Inspiration: Du magst gern Theater! Eine Herausforderung, denn ich hatte keine Ahnung, bevor ich ausgiebig recherchiert habe. Vielen Dank für deine Wünsche und frohe Weihnachten!
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Zielstrebig ging Heike die Hauptstraße entlang. Sie hatte es nicht eilig, sodass sie ab und an einen Blick in die schön dekorierten Schaufenster warf, die neben dem Gehweg um die Aufmerksamkeit der Passanten konkurrierten. Dank ihres aktuellen Auftrags konnte sie tatsächlich endlich mal wieder darüber nachdenken, sich etwas zu gönnen, und so genoss sie es, ein wenig zu bummeln.
Es war ihr erster bezahlter Auftrag als Theaterregisseurin – allein das war bereits ein Grund, sich zu freuen. Und dann ging es auch noch um eine ungewöhnliche Erzählung der Weihnachtsgeschichte – schon seit ihrer Kindheit hatte sie davon geträumt, auf der Bühne eine Version des weltbekannten Ereignisses zu erzählen, die einen ganz anderen Fokus setzte als die althergebrachten Aufführungen! Die Darbietung ihrer Abschlussarbeit, mit der sie den Titel „Bachelor of Arts in Theaterregie“ erlangte, hatte dem Intendanten des hiesigen Theaters, der auf der dringenden Suche nach Nachwuchstalenten nach Ludwigsburg gekommen war, so gut gefallen, dass er sie vom Fleck weg engagiert hatte.
Sie hatte wenig Zeit, ihre Vision zu verwirklichen, denn diese Ereignisse lagen erst wenige Wochen zurück. Sie ersetzte einen anderen Regisseur, der aufgrund einer längeren Erkrankung ausfiel – und das quasi in letzter Minute.
Doch sie hatte Herausforderungen schon immer gemocht – sehr zum Leidwesen ihrer Mutter. Nicht, dass Heike ihr deswegen ernstlich böse war, denn sie war nun mal mit dem Gedanken, dass eine Frau den Haushalt schmeißen und Kinder großziehen sollte, aufgewachsen. Aber für sie war das nie eine Option gewesen! Warum sollte sie einem Mann „den Rücken freihalten“? Was hieß das überhaupt? Doch nichts anderes, als die eigenen Träume für die eines anderen aufzugeben – und genau das würde sie niemals tun!
Schon immer wusste sie, was sie wollte: Regie führen! Und sie hatte dieses Ziel stets fest im Blick behalten: Die Theater-AG der Schule sowie ein kleiner Laienschauspielverein hatten ihr die ersten Erfahrungen vermittelt. Verbissen hatte sie sich beste Schulnoten erarbeitet, um einen Abiturschnitt zu bekommen, der sie für die Aufnahmeprüfungen an der Akademie für Darstellende Kunst Baden-Württemberg qualifizierte. Nur vier Studenten wurden pro Studienjahr aufgenommen – und sie hatte es geschafft!
Der einzige Wermutstropfen war die Kritik ihrer Eltern gewesen. Schauspiel sei eine brotlose Kunst, hatten sie wohlmeinend gewarnt. Aber immerhin würde sie ja keine Schauspielerin – das konnte man ja nicht mehr machen, wenn man schwanger war. Als ob es immer nur darum ginge!
Egal. Sie atmete tief durch und schob diese unerfreulichen Gedanken beiseite. Sie hatte es geschafft! Ihr Traum war kurz davor, Wirklichkeit zu werden: Am 4. Advent schon würde ein Stück aufgeführt, das ihrer Feder entstammte – und das auch noch in ihrer Heimatgemeinde! Sie war stolz auf ihren Entwurf und konnte es kaum erwarten, ihren Freunden davon zu berichten.
Mit Tanja, Jagoda, Lukas und Paul war sie schon lange befreundet. Sie freute sich sehr, dass sie sich heute Abend alle wiedersehen würden. Jagoda hatte sie zu ihrem Geburtstag auf 19 Uhr in ein schönes Café in der Altstadt eingeladen – das war in einer Viertelstunde, wie ein Blick auf ihre Armbanduhr ihr bestätigte. Fröhlich beschleunigte Heike ihre Schritte.
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„Guten Abend“, begrüßte eine Kellnerin sie freundlich im gut gefüllten Gastraum. „Haben Sie eine Reservierung?“
„Ja, auf Czerwinska“, bestätigte Heike.
Zu ihrer Überraschung fragte die Bedienung nicht nach der Schreibweise, sondern runzelte lediglich die Stirn, bevor sie leicht verunsichert, aber professionell lächelte. „Da sind Sie ja ganz schön früh dran“, stellte sie fest. „Möchten Sie warten?“
Jetzt war es an Heike, überrascht zu sein. Wieder warf sie einen Blick auf ihre Armbanduhr. Nur noch zehn Minuten.
Oder hatte sie die verabredete Zeit falsch im Kopf? Mit einer Hand fischte sie ihr Mobiltelefon aus der Handtasche, um im Gruppenchat nachzusehen. Doch so weit kam sie nicht – auf dem Display leuchtete ihr die aktuelle Uhrzeit entgegen.
17:50 Uhr. Wie konnte das sein? Wieder ein Blick auf die Armbanduhr: 18:50 Uhr.
Verdammt. Diese Uhr hatte sie zuletzt im Sommer getragen – und es war ein Modell, das die Zeitumstellung nicht automatisch vornahm. Das durfte doch nicht wahr sein ...
Verlegen hob sie den Kopf. „Es tut mir leid – ich habe mich offenbar in der Uhrzeit geirrt.“
„So was passiert“, erwiderte die Kellnerin keineswegs unfreundlich. „Leider habe ich keinen freien Tisch für Sie. Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich Sie zu jemand anderem setze?“
Heike verneinte und folgte der Frau durch den Raum. Sie war es gewohnt und genoss es sogar, mit fremden Menschen zu sprechen, und eine kleine Unterhaltung, so sie denn erwünscht war, würde ihr helfen, die Wartezeit zu verkürzen.
Der Tisch, an den die Kellnerin sie führte, war für zwei Personen gedacht und stand in einer recht ruhigen Ecke des Cafés. Ein Mann saß dort, ganz in ein Buch versunken, nur eine große, leere Tasse vor sich.
Heike musterte den Fremden kurz, während die Bedienung ihn ansprach. Er war relativ durchschnittlich: Durchschnittlich groß, mit durchschnittlichem Gewicht und einer 08/15-Frisur, die man gefühlt bei jedem zweiten Mann auf der Straße sah. Doch das waren nicht die Dinge, die Heike bei anderen Menschen interessierten. Ihr fielen seine Augen auf, die braun und melancholisch waren, die Art, wie er nickte, als er sich die Bitte der Kellnerin anhörte. Im Kopf steckte sie ihn sofort in verschiedene Rollen: Einsamer Junggeselle. Enttäuschter Ritter. Großer Bruder eines tragischen Helden.
Die Bedienung nickte ihr freundlich zu und ging.
„Guten Abend“, sprach sie den Mann mit einem Lächeln an. Er hob zwar die Mundwinkel, aber seine Augen sahen weiterhin traurig aus.
„Bitte setzen Sie sich doch“, sagte er und zeigte einladend auf den Stuhl ihm gegenüber, nachdem er sein Buch geschlossen und beiseitegelegt hatte.
„Vielen Dank.“ Heike behielt ihr Lächeln bei. „Störe ich Sie auch nicht? Ich werde eine ganze Stunde warten müssen.“
„Oh nein. Ich habe nichts vor.“ Leichte Bitterkeit schwang in seiner Stimme mit.
Sie wechselte das Thema. Neugierig nickte sie in Richtung der Lektüre des Mannes. „Was lesen Sie denn?“
Zu ihrer Überraschung errötete er ein bisschen. „Tintenherz“, gestand er. „Eigentlich ein Jugendbuch, ich weiß.“
„Das heißt doch nicht, dass wir Erwachsenen es nicht auch lesen dürfen“, erwiderte Heike nachdrücklich. „Das behaupten nur Menschen mit wenig Phantasie. Die sagen, Geschichten seien nur was für Kinder – so ein Quatsch!“
Ihr amüsiertes Schnauben ließ ihr Gegenüber überrascht aufblicken. „Das heißt, Sie mögen Fantasygeschichten auch?“
Heikes Augen blitzten vor Vergnügen, als sie sich verschwörerisch auf den Tisch lehnte. „Ich denke sie mir sogar aus!“, raunte sie ihm zu und strahlte ihn an. Sie freute sich, ein Thema gefunden zu haben, das nicht nur den Fremden aus seinem Trübsinn zu befreien schien, sondern eines ihrer Hauptinteressen darstellte.
„Schreiben Sie?“, fragte der Mann, und ein erstes neugieriges Glitzern machte sich in seinem Blick bemerkbar.
Sie schüttelte den Kopf und sah ihn mit einem vielsagenden Lächeln an. „Nicht nur. Ich erschaffe ganze Theaterstücke! Ich bin Theaterregisseurin!“
Für einen kurzen Moment sah der Mann wie ein staunendes Kind aus, bevor er sich besann und den Mund wieder schloss. Jetzt lächelte er sogar. „Was ist Ihr neuestes Stück?“
Heike fühlte sich geschmeichelt, dass er davon ausging, sie habe schon bei einer ganzen Reihe von Aufführungen Regie geführt.
„Der Auftrag lautet: die Weihnachtsgeschichte aus einem ungewöhnlichen Blickwinkel. Wollen Sie sie hören?“
Das faszinierte Leuchten in den Augen des Fremden und sein begeistertes Nicken ließen sie vor Freude kurz auflachen. Als sie gerade mit der Erzählung beginnen wollte, trat die Kellnerin an den Tisch.
„Darf ich Ihnen etwas bringen? Und Ihnen vielleicht noch eine Tasse?“
Der Mann zögerte merklich. „Dasselbe bitte nochmal.“
„Was hatten Sie denn?“, erkundigte Heike sich.
Erneut sah der Fremde betreten zur Seite. „Kakao“, sagte er dann leise.
„Hervorragende Idee – für mich bitte auch eine Tasse“, bestellte Heike, woraufhin die Kellnerin wieder verschwand.
Sie lächelte den Mann an. „Fantasy und Kakao. Endlich jemand, der diese Kombination ebenso schätzt wie ich!“ Die meisten Menschen hielten beides für Kinderkram. Es war selten, jemanden zu finden, der ihre Vorlieben teilte – und seine nächsten Worte bestätigten ihr diese Erfahrung.
Er lachte erfreut. „Ich dachte immer, ich bin der Einzige!“ Dann sah er sie neugierig an. „Aber Sie wollten mir von Ihrem Theaterstück erzählen – bitte legen Sie los!“
Das ließ Heike sich nicht zweimal sagen. Kurz beschrieb sie die Schauspieler und ihre Rollen, dann umriss sie ihm den Plot.
„Julia ist die Tochter des Königs Herodes. Obwohl eine Frau in der damaligen Zeit, ist sie sehr gebildet. Sie ist zufällig anwesend, als ihrem Vater von der Geburt des neue Königs berichtet wird. Ihr ist sofort klar, dass ihr Vater niemanden neben sich dulden wird – und doch ist sie sich sicher, dass an diesem Neugeborenen etwas Besonderes ist. Sie studiert alte Schriften und diskutiert mit Weisen. Als die drei aus dem Morgenland ankommen und Herodes vom Stern von Bethlehem berichten, weiß sie, dass sie handeln muss, wenn sie die Königsfamilie retten will. Sie manipuliert ihren Vater, sodass der seine Befehle zu spät ausgibt. So fliehen die Eltern mit dem neugeborenen König und entgehen Herodes‘ Häschern.“
Zufrieden nippte Heike an ihrem inzwischen servierten heißen Kakao. Erwartungsvoll sah sie den Fremden an, der sie kein einziges Mal unterbrochen und ihr konzentriert gelauscht hatte.
Der nickte jetzt nachdenklich. „Eine interessante Idee“, sagte er, doch es klang nicht allzu begeistert.
Das dämpfte Heikes Stimmung ein wenig. Irgendwie hatte sie gehofft, dass er die Geschichte mögen würde.
„Ich finde es toll, dass auch mal eine Frau die Heldin der Weihnachtsgeschichte ist, aber halten Sie es nicht für unrealistisch, dass sie das alles alleine macht? Warum nimmt sie gar keine Hilfe in Anspruch?“
„Das hat sie nicht nötig! Sie ist eine starke, eigenständige Frau.“
Er hob beschwichtigend die Hände. „Oh, nein, so war das nicht gemeint. Ich finde nur, Figuren wirken authentischer, lebensnäher, wenn sie auch eine Schwäche haben. Irgendetwas nicht können und dafür die Hilfe anderer akzeptieren.“
„Sie soll aber ein starker Charakter sein, der sich selbst zu helfen weiß“, wandte Heike ein. Die Kritik gefiel ihr nicht besonders. Dabei hatte sie gar nicht den Eindruck, dass der Fremde die Art Mann war, der Frauen in Bittstellerpositionen gewohnt war.
„Gut. Aber stark sein heißt nicht unbedingt allein sein. Sie weiß, was sie kann und will, und zieht das durch – Hilfe von anderen braucht sie nicht, sie würde ihr ihre Aufgabe aber leichter machen. Ganz wie Igraine.“
Heike hob fragend die Augenbrauen.
„Igraine Ohnefurcht. Ein anderes Buch von Cornelia Funke“, erklärte er. „Igraine muss darin ihre Eltern retten. Das schafft sie natürlich auch – doch es gelingt ihr noch viel besser, weil sie die Hilfe des traurigen Ritters annimmt. Stellen Sie sich vor, Ihre Heldin würde die Hilfe der drei Weisen aus dem Morgenland in Anspruch nehmen und sie zum Beispiel die Warnung vor Herodes überbringen lassen.“
Unwillig runzelte Heike die Stirn und trank einen weiteren Schluck Kakao. Die Argumente ihres Gegenübers waren nicht ganz von der Hand zu weisen, doch sie hatte sich die Geschichte längst in allen Einzelheiten überlegt. Das Drehbuch war fertig, und es war gut.
Eine Bewegung am Rand ihres Sichtfelds ließ sie zur Tür blicken. Jagoda war eingetroffen und winkte ihr enthusiastisch zu.
Rasch trank sie aus. „Entschuldigen Sie mich – meine Freunde sind angekommen. Vielen Dank für das Gespräch – ich werde über Ihren Vorschlag nachdenken. Und noch viel Spaß beim Lesen!“ Sie lächelte, bevor sie aufstand und zum Geburtstagskind hinübereilte.
„Alles Gute zum Geburtstag!“ Fest schloss Heike Jagoda in ihre Arme, die vor Freude leicht auf und ab hüpfte, was die Umarmung relativ schwierig machte.
„Es ist so schön, dich endlich mal wiederzusehen! Wer ist der Mann, den du mitgebracht hast?“ Jagoda war einen neugierigen Blick zu dem Fremden, der wieder in seinem Buch las.
„Oh, mit dem habe ich mich nur unterhalten, während ich auf euch gewartet habe“, fing Heike mit einer Erklärung an, wurde aber von Paul unterbrochen, der mit einer Selbstverständlichkeit und einem Selbstbewusstsein das Café betrat, als gehöre es ihm. Lachend schloss Heike auch ihn in die Arme – wie hatte sie sein Auftreten doch vermisst!
Die Kellnerin führte sie zum reservierten Tisch, wo sie ausgelassen plauderten, bis auch Lukas und Tanja endlich eintrafen. Gemeinsam, wie Heike sofort auffiel – das Schmunzeln, das Jagoda ihr mit einem kurzen Blick zuwarf, zeigte, dass ihr das ebenfalls aufgefallen war.
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Eine gute halbe Stunde später, als das obligatorische Geburtstagslied gesungen, die Geschenke überreicht und die Bestellungen aufgegeben worden waren, ergriff Jagoda, die schon immer die Neugierigste von ihnen gewesen war, die Gelegenheit.
„Was gibt es bei euch Neues?“, erkundigte sie sich möglichst beiläufig, aber mit so einem wissbegierigen Leuchten in den Augen, das Heike innerlich auflachen ließ.
Prompt wurden Lukas und Tanja ein wenig rot. „Na ja“, stammelte Lukas, „Also ... ähm ...“
Tanja verdrehte grinsend die Augen, legte ihm einen Arm um die Schultern und erklärte an die anderen gewandt: „Wir sind seit ein paar Wochen zusammen.“
„Drei“, präzisierte Lukas. „Und zwei Tage.“
„Oh, endlich!“, sagte Paul mit einem Lachen, in das Heike und Jagoda einfielen. „Ihr habt euch aber auch Zeit gelassen!“
„Sag das nicht so.“ Schmollend schob Lukas die Unterlippe vor. „Gut Ding will Weile haben!“
„Und wie sieht’s bei euch aus mit den Neuigkeiten?“, fragte Tanja, die sich wieder ganz auf ihren Stuhl zurückzog und offenbar gerne das Thema wechseln wollte. „Irgendwelche interessanten Männer in Sicht?“
Alle drei schüttelten den Kopf. Dann sah Jagoda verschmitzt Heike an. „Was war mit dem hübschen Mann vorhin an deinem Tisch?“
Heike winkte ab. „Wir haben uns nur unterhalten!“
Amüsiert hob Jagoda eine Augenbraue. „Der hat wirklich süß gelächelt, während er dir zugehört hat! Worüber habt ihr euch denn so angeregt unterhalten?“
Endlich war die Gelegenheit gekommen, ihren Freunden von ihrem bisher größten Erfolg zu erzählen!
„Über etwas total Großartiges!“, sagte Heike. „Meine – erste – eigene – Inszenierung!“
Jagoda quietschte vor Aufregung und klatschte, Tina hielt sich überrascht die Hände vor den Mund, Lukas schlug begeistert auf den Tisch und Paul schlang einen Arm um sie und drückte sie fest. Heike badete in der Freude ihrer Freunde. Es war so schön, Begeisterung zu teilen!
„Na los, erzähl schon davon!“, forderte Paul sie auf, als die Begeisterungsstürme sich langsam legten. „Worum geht es? Wo und wann wird es aufgeführt?“
Und Heike erzählte. Zunächst berichtete sie vom Thema: die Weihnachtsgeschichte aus neuer Perspektive. Dann von ihrer Idee: Herodes‘ Tochter, die ihren Vater so lange aufhält, bis das Jesuskind mit seinen Eltern sicher geflohen ist.
„Das Ganze ist schon am vierten Advent – und zwar hier in der Stadt! Was sagt ihr dazu?“
Doch in den Gesichtern ihrer Freunde spiegelte sich ihre eigene Begeisterung über den Plot nicht wieder. Ja, sie sahen interessiert und wohlwollend aus, doch ihr Nicken war bedächtig, nicht hingerissen. Oder bildete sie sich das ein? Immerhin war man oft selbst sein größter Kritiker.
„Das ist wirklich mal eine neue Perspektive“, sagte Lukas nachdenklich. „Interessanter Ansatz.“
„Ja, wirklich“, stimmte Tanja mit leichter Verzögerung zu. „Und eine Heldin – das ist schön. Endlich mal keine Hirtin oder so, sondern eine Figur mit ... Hintergrund.“
Auch Paul lächelte. „Schön, dass es hier in der Stadt ist.“
Niemand klang ernstlich begeistert, Jagoda sagte sogar gar nichts dazu, sondern zeigte nur ein Lächeln, das ein wenig gezwungen wirkte.
Ernüchtert lehnte Heike sich in ihrem Stuhl zurück. „Ihr mögt es nicht“, stellte sie fest.
„Oh, doch doch“, beeilte sich Jagoda, ihr zu widersprechen, und auch die anderen nickten bekräftigend. Aber ihre Reaktionen konnten Heike nicht überzeugen.
„Was genau würdet ihr anders machen?“ Heike ließ das Thema nicht fallen.
Ihre Freunde sahen einander an. Keiner wollte zuerst den Mund aufmachen, bis Paul sich endlich räusperte. „Na ja ... eine einzelne Heldin, die allein Jesus rettet, von der aber niemand sonst weiß – das ist ...“ – „Ein bisschen schade“, warf Jagoda ein. „Warum erfährt überhaupt niemand von ihren Taten? Wenigstens ihre Helfer sollten von ihr wissen!“
„Aber sie braucht keine Hilfe“, wandte Heike ein.
„Bei so einem wichtigen und großen Projekt würde jeder ein, zwei Helfer suchen“, widersprach Lukas. „Es ist viel zu wichtig, als dass sie riskieren könnte, dass sie irgendwie verhindert ist. Sie muss morgens beim Aufstehen nur dumm ausrutschen, und schon ist ihr Plan gescheitert!“
Tanja nickte zu den Aussagen der anderen und lächelte Heike entschuldigend an. „Aber das heißt natürlich alles nicht, dass deine Idee schlecht ist!“
Heike zwang sich zu einem Lächeln. „Natürlich. Danke für eure Meinung“, sagte sie. „Kommt doch zur Aufführung – dann könnt ihr sehen, wie es ankommt.“
„Das machen wir!“, stimmte Jagoda sofort zu. „Es wird bestimmt toll.“
Zustimmendes Murmeln am ganzen Tisch.
„Und was gibt es bei dir Neues?“, lenkte Heike die allgemeine Aufmerksamkeit weiter auf Paul.
Den Rest des wirklich netten Abends bemühte sie sich, niemanden merken zu lassen, wie sehr die Kritik zu ihrem Stück an ihr nagte. Erst der Fremde, jetzt sogar ihre Freunde ... hatten sie Recht?
Selbst, als sie um ein Uhr morgens endlich ins Bett fiel, grübelte sie noch darüber nach.
Stimmte wirklich etwas mit ihrem Stück nicht?
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Als Heike am nächsten Morgen aufwachte, fühlte sie sich nicht besonders wohl. Gefühlt die halbe Nacht war sie wachgelegen, die Zeit dazwischen wurde von seltsamen, beunruhigenden Träumen bezüglich ihres Weihnachtsstücks gefüllt.
Sie hatte ihre Idee immer für sehr gut gehalten. Doch wenn sie jetzt darüber nachdachte, waren auch die Schauspieler nicht gerade begeistert gewesen, als sie ihnen die Rollen zugewiesen hatte. Sie hatte es damals darauf geschoben, dass man sie als junge Regisseurin noch nicht anerkannte – was aber, falls es tatsächlich am Drehbuch lag?
Ihre Freunde waren nicht wirklich von der Handlung überzeugt, das hatte sie eindeutig bemerkt. Doch sie wussten, wie viel ihr an ihrem ersten eigenen Stück lag, insbesondere an diesem: Die Weihnachtsgeschichte mit weiblicher Heldin zu erzählen, war ihr heimlicher Kindheitstraum. Nur wenigen hatte sie davon erzählt – unter anderem ihren vier besten Freunden. War es da nicht verständlich, dass sie sich mit Kritik daran zurückhielten, um ihr nicht die Freude zu nehmen?
Doch der Fremde gestern hatte seine Meinung ehrlich ausgesprochen. Er wollte sie nicht verletzen oder heruntermachen, ganz im Gegenteil: Er schien wirklich nett, aufrichtig interessiert und von Geschichten fasziniert gewesen zu sein. Er hatte sie konstruktiv kritisiert. Er hatte Verbesserungsvorschläge gebracht, ohne zu erwarten, dass sie sie einbaute – nur, dass sie darüber nachdachte.
Was, wenn er Recht hatte?
Es würde nicht schaden, sich ein paar Gedanken dazu zu machen.
Während ihre für eine Studentin sündhaft teure, aber für ihr Wohlbefinden unersetzliche Kaffeemaschine einen starken Kaffee zubereitete, holte Heike sich ihre Ideenskizze, einen Stift, Papier sowie das Regiedrehbuch an den Wohnzimmertisch. Dann vollführte sie ihr Ritual: Nur zum Arbeiten tat sie ein wenig Zucker in den Kaffee, sodass sich das Geschmackserlebnis gegenüber „Freizeitkaffee“ deutlich veränderte. Das hatte sie sich schon vor Jahren angewöhnt, und es funktionierte hervorragend. Der Geschmack gesüßten Kaffees half ihr, ihren Kopf auf konzentriertes Arbeiten umzuschalten.
Mit der Tasse neben sich las sie ihre erste Ideenskizze durch. Tatsächlich gingen sämtliche Aktionen, die zu Jesu Rettung führten, einzig und allein von Julia aus. Es gab einige Stellen, an denen schon ein kleines Unglück dazu führen könnte, sie aufzuhalten oder abzulenken – was für die Heilige Familie das Todesurteil bedeuten würde.
Würde Julia dieses Risiko wirklich in Kauf nehmen, nur, um keine Hilfe zu benötigen? Es passte nicht zu ihrem Charakter als ausgesprochen kluge, bedachte Frau.
Beherzt griff sie zum Stift und begann, zuerst die Ideenskizze, dann das Drehbuch Szene für Szene zu überarbeiten.
Am Ende der letzten Szene holte sie einen neuen gesüßten Kaffee und las alles inklusive der Änderungen gründlich durch. Und das, was sie eigentlich nicht wirklich für möglich gehalten hatte, geschah: Die Geschichte gefiel ihr nun tatsächlich besser als zuvor!
Kurz schloss sie die Augen und lächelte. Sie dachte an den fremden Mann zurück, dessen Kritik sie zu den Änderungen angeregt hatte. Im Stillen leistete sie Abbitte für die Abfuhr, die sie seinen Vorschlägen entgegengebracht hatte. Was für ein Glücksfall, dass er zufällig in diesem Café gewesen war. Dass sie ihre Uhr seit dem Sommer nicht mehr getragen, daher die Zeitumstellung verpasst hatte und eine Stunde zu früh gekommen war. Dass ausgerechnet an seinem Tisch ein Platz frei war. Dass er ein Fantasybuch gelesen hatte, das sie zu einem Gespräch geführt hatte.
Das hörte sich an wie ein Drehbuch, nicht wie eine Szene aus dem wahren Leben. Als hätte da ein Regisseur die Finger im Spiel gehabt ...
Apropos Regisseur: Sie musste heute auch noch mal ran. Es war zwar Samstag, doch für den Nachmittag war eine Probe angesetzt. 14 Uhr. Ein kurzer Blick auf das Display ihres Telefons, um die Uhrzeit zu checken ...
Oh, verdammt! Noch zwanzig Minuten? Fluchend sprang sie auf, um sich so schnell wie möglich anzuziehen und das Haus zu verlassen. Die Regisseurin zu spät – was machte das nur für einen schlechten Eindruck!
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Mit zehnminütiger Verspätung betrat sie das Theater.
„Ich bitte um Entschuldigung“, sagte sie keuchend in die Runde – sie war das letzte Stück gerannt. Sie gestattete sich einen kurzen Augenblick, um Herzschlag und Atmung wieder zu beruhigen, bevor sie das Wort ergriff und direkt zur Sache kam.
„Ich stelle heute eure Flexibilität auf eine harte Probe. Ich habe das Drehbuch geändert.“
Die Schauspieler warfen ihr teils beunruhigte, teils verärgerte Blicke zu. „Wir haben nur noch zwei Wochen“, erinnerte Ulrich, ihr Herodes, sie.
„Das weiß ich natürlich“, antwortete sie barsch. Halt! Wenn das hier etwas werden sollte, ... Wie sagte der Fremde im Café? Die kleine Ritterin hätte es auch alleine geschafft – doch zusammen mit dem anderen Ritter gelang es leichter.
„Ich habe Vorschläge aufgeschrieben“, fuhr sie in ruhigem Tonfall fort. „Mit eurer Hilfe wird es aber sicherlich noch besser – würdet ihr mit mir den Plan durchgehen, statt heute zu proben? Wenn wir das schaffen, verspreche ich euch, dass ich morgen ein fertiges Drehbuch habe – und wenn ich die Nacht über durcharbeiten muss!“
„Wir dürfen uns beteiligen?“ Sandra, die Julia spielte, wirkte angenehm überrascht.
Heike lächelte. „Ich würde mich freuen.“
Für einen Augenblick, in dem die Schauspieler Blicke tauschten, war es still. Es folgte Aufbruchsstimmung, als sie entschlossen Stühle heranzogen und sich damit um Heike versammelten.
„Dann lass mal hören!“, forderte Ulrich sie auf.
Heike fasste ihre Änderungen kurz zusammen: Julia sollte geschickt Hilfe in Anspruch nehmen, um leichter und/oder besser an ihr Ziel zu gelangen. Optimalerweise würden sich ihre Taten gegenseitig absichern, sodass auch beim Ausfall einer Option die ganze Aktion weiterhin laufen konnte.
Dann sah sie nervös in die Runde. Wie würden ihre Schauspieler diese Veränderung aufnehmen?
Julia, also Sandra, ergriff als erste das Wort. „Also ... ich fand das Stück bisher ja schon ganz interessant. Wirklich ok. Aber jetzt fühlt es sich viel ... lebendiger an!“ Sie lächelte und Heike fiel ein Stein vom Herzen.
Auch die anderen stimmten zu. Man habe ja nichts sagen wollen, doch die Heldin wirkte ziemlich eindimensional, hörte Heike mit Staunen aus den vielen Kommentaren heraus. Mein Gott, warum war ihr bisher nie aufgefallen, was die Schauspieler von ihrem Stück hielten?
Sie hatte sie nie gefragt. Jetzt war das offensichtlich ... Sie schwor sich, diesen Fehler nie wieder zu machen!
„Warum lachst du?“, fragte Ulrich schmunzelnd.
„Ach – ich habe gerade endlich was verstanden“, antwortete sie lächelnd. Dann sagte sie an alle gerichtet: „Gut – lasst uns loslegen! Ich habe meine Ideen handschriftlich festgehalten – ich lese mal vor und wann auch immer ihr eine Idee oder einen Vorschlag habt, lasst ihn hören, ok? Was könnte Julia alles unternehmen oder veranlassen?“
Damit begann die intensive und ausgesprochen produktive Überarbeitungsphase.
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Selbst, als Heike vier Stunden später zuhause an ihrem Wohnzimmertisch saß, die Änderungen am Laptop ins Drehbuch einarbeitete, erreichten sie immer mal wieder weitere Ideen per Messenger und ließen ihr Smartphone klingeln. Natürlich war nicht alles umsetzbar oder sinnvoll, aber bei einigen Nachrichten staunte sie, welche Kreativität ihre Schauspieler doch an den Tag legten! Das Stück schrieb sich fast von selbst.
Ob es Igraine ohne Furcht mit der Hilfe des Ritters auch so gegangen war? Sie sollte sich das Buch bei Gelegenheit mal besorgen, um endlich genau zu verstehen, was der Fremde im Café gemeint hatte.
Wer war der Mann bloß? Er hatte innerhalb von Minuten so wunderbare Ideen für ihr Stück gehabt ... was käme wohl heraus, wenn sie sich weiter unterhielten? Das würde sie eigentlich gerne, denn er war wirklich nett gewesen. Ein bisschen schüchtern vielleicht, aber das machte Heike nichts aus.
Sie wünschte, sie könnte dem Fremden für seine Denkanstöße danken. Ob man ihn im Café wohl kannte? Sie würde nachfragen gehen – doch zuerst musste dieses Drehbuch fertig werden!
Mit einer neuen Tasse gesüßtem Kaffee machte sie sich wieder an die Arbeit.
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Vierter Advent. Noch zwei Stunden bis zur Aufführung. Nervös ging Heike erneut über die Bühne, überprüfte das Bühnenbild. Genauso perfekt wie vor fünf Minuten.
Sie schob die beiden Hälften des großen Vorhangs ein Stück auseinander und sah in den noch hell erleuchteten Saal. Später würden dort im Dunkeln die Zuschauer sitzen. Auf jedem einzelnen Sitzplatz. Die Karten waren seit heute Morgen ausverkauft.
Mit einem leichten Anflug von Panik schloss sie den Vorhang wieder und lehnte den Kopf an den samtweichen Stoff, den sie immer noch fest gepackt hielt.
Es war so weit.
Ihr erstes eigenes Stück.
In ihrer Stadt.
Vor ausverkauftem Haus.
Und es würde großartig werden – davon war sie überzeugt. Das neue Drehbuch war perfekt. Die Schauspieler hatten sich so engagiert beteiligt, sie auf ein paar letzte Fehler aufmerksam gemacht, ihre Rollen unglaublich schnell beherrscht und bei den Proben neben der üblichen Professionalität so viel Spaß an den Tag gelegt, dass die Zeit wie im Flug vergangen war.
Ihre Freunde hatte Heike seitdem nicht wiedergesehen, aber sie waren alle zur Aufführung eingeladen und hatten versprochen, zu kommen.
Ihre Eltern würden natürlich da sein.
Selbst ihr Vermieter hatte sich eine Karte gekauft!
Nur einer fehlte, und das machte sie ein wenig traurig. Der, der die Überarbeitung des Drehbuchs überhaupt erst angeregt hatte. Der Fremde aus dem Café.
Dort kannte man ihn leider nicht. Heike hatte gehofft, er wäre ein Stammgast, doch wie es aussah, war sein Besuch eine einmalige Angelegenheit. Na ja. Es wäre ja auch ein Wunder gewesen, hätte sie ihn wieder aufspüren können.
Entschlossen schob sie diese trübsinnigen Gedanken beiseite und konzentrierte sich aufs Hier und Jetzt. Bald würde es losgehen!
Sie eilte zur Garderobe, um nachzusehen, ob die Schauspieler bereits eingetroffen waren.
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Tosender Applaus erfüllte den Saal, als der letzte Vorhang fiel. Während das Publikum lautstark applaudierte, lagen alle am Stück beteiligten sich in den Armen – es war geschafft! Lachend und vor Glück weinend hielten sie einander fest, badeten im Geräusch des begeisterten Beifalls.
„Na los“, forderte Heike, die sich Freudentränen aus den Augen wischte. „Es ist Zeit zum Verbeugen!“
Den Anfang machte Julia-Sandra, gefolgt von Herodes-Ulrich, den Weisen, den Soldaten, dann der Heiligen Familie. Und ganz am Ende, als alle sich bereits mehrfach verbeugt hatten, trat auch Heike auf die Bühne.
Der Applaus der Schauspieler rührte sie erneut, doch sie wendete all ihre Willenskraft auf, um die Freudentränen zurückzuhalten. Auch sie verneigte sich.
Dann drückte ihr jemand ein Mikrofon in die Hand und sie sah ins Publikum.
„Vielen Dank“, sagte sie, und der Beifall verebbte langsam. „Vielen Dank für Ihren Beifall. Mein Name ist Heike Schreiber, Regisseurin dieses Stücks. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, auch meinen Dank auszusprechen. Zuerst an Sie, unser Publikum. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie viel sie uns allen, die am Theater arbeiten, damit schenken.“ Sie wartete einen Moment, bis der höfliche Applaus verstummte. „Dann vor allem unseren hervorragenden Schauspielern, die wesentlich mehr getan haben, als nur Regieanweisungen zu befolgen. Sie haben den Figuren Leben verliehen – das haben Sie sicherlich auch gespürt!“ Jetzt klatschen die Leute lauter und ausdauernder, sodass Heike länger warten musste, bis sie weitersprechen konnte. „Und dann möchte ich noch all den Menschen danken, die mir bei der Erstellung dieses Stückes geholfen haben: Den Darstellern, meinen Freunden und einem Fremden im Café. Danke euch allen – ohne euch wäre dieses Stück nicht, wie es jetzt ist! Ihr seid großartig!“
Sie gab das Mikrofon rasch wieder ab, weil sie spürte, dass sie doch in Freudentränen ausbrechen würde, wenn sie weitersprach. Alle zusammen verbeugten sie sich noch einmal, bevor der Vorhang ein letztes Mal fiel und sie aus ihren Rollen entließ.
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Im Foyer des Theaters fand im Anschluss an das Stück ein Sekt- und, jahreszeitlich passend, Lebkuchenempfang statt. Kaum verließ Heike die Umkleide, wo sie den Schauspielern noch einmal für ihre großartige Leistung gedankt hatte, war sie auch schon vor einer Schar Leute umringt, allen voran ihre Eltern.
„Das war wunderbar, Liebes!“, lobte ihr Vater und umarmte sie.
„So, wie du es gezeigt hast, war es bestimmt!“, sagte ihre Mutter lachend. „Es sind halt doch immer die Frauen im Hintergrund, die die Fäden in der Hand halten!“
Heike war emotional viel zu erschöpft, um sich mit ihrer Mutter darüber zu streiten, ob die Frauen solche Dinge nicht auch im Vordergrund machen könnten oder ihre Eltern darauf hinzuweisen, dass sich ihr Vorsatz, Theaterregisseurin zu werden, letztendlich eben doch gelohnt hatte. Sie genoss einfach ihre Umarmung und ihr Lob, bevor der Intendant sie rettete.
„Was für ein wundervolles Stück, Frau Schreiber! Herzlichen Glückwunsch zu diesem Erfolg!“ Dann zwinkerte er ihr freundlich zu und wandte sich an ihre Eltern. „Sie sind also Frau Schreibers Eltern? Wie schön, Sie kennenzulernen! Ich hoffe, Ihre talentierte Tochter noch häufiger beauftagen zu können. Darf ich Ihnen ein wenig unser Haus zeigen?“
Heike hatte kaum Zeit, ihnen hinterherzusehen, da ihre Freunde sich begeistert um sie scharten.
„Es war viel besser, als ich nach deiner Schilderung im Café dachte!“, gestand Paul und zog sie in eine feste Umarmung. „Richtig toll! Verzeih meinen Zweifel!“
„Warum hast du uns gedankt?“, fragte Jagoda strahlend. „Wir sind alle rot geworden!“
„Das erkläre ich euch ein andermal“, antwortete Heike lächelnd. „Ehrlich gesagt bin ich jetzt einfach zu platt. Das war ein wirklich nervenaufreibender Abend!“
„Ich fürchte, du bist noch nicht ganz durch“, murmelte Tanja ihr deutlich hörbar zu. „Da hinten drücken sich noch der Bürgermeister und ein paar andere Leute rum, die schon die ganze Zeit zu dir rüber schauen.“ Kichernd ließ sie sich wieder an Lukas‘ Seite ziehen, der einen bedeutungsvollen Blick in die Richtung warf, in der sich die Würdenträger versammelt hatten und sich nun auf den Weg zu Heike machten.
Eine halbe Stunde waren die Offiziellen endlich zufrieden. Alle hatten der vielversprechenden jungen Theaterregisseurin aus der eigenen Stadt die Hand geschüttelt, ein paar mehr oder minder kluge Worte über das Stück verloren und mit ihr anstoßen wollen. Zum Glück hatte sie keines der Sektgläser entgegengenommen, sonst wäre sie längst betrunken.
Während der Bürgermeister und sein Gefolge sich auf den Ausgang zubewegten, lehnte sich Heike im Schatten einer Säule seufzend an eine Wand. Endlich! Alles, was sie jetzt brauchte, war ein bisschen Ruhe. Nur ganz kurz die Augen schließen ... wie kam sie hier am besten unauffällig weg?
„Die waren ja ziemlich hartnäckig“, sagte eine leise Stimme in ihrer Nähe. Erschrocken hob sie den Blick.
„Ich habe lange warten müssen, um mich für die Dankesworte zu bedanken.“
Heike traute ihren Augen kaum. Da stand er vor ihr – der Fremde aus dem Café, die Hände hinter dem Rücken verschränkt und mit dem Anflug eines schüchternen Lächelns auf den Lippen, das sich in ein wahres Strahlen verwandelte, als sie zurücklächelte.
Sie wusste nicht, was genau sie sagen sollte. Das passierte nicht oft.
„Ich freue mich, dass Sie hergekommen sind“, sagte sie schließlich. Wie ausgesprochen kreativ! „Wie ... woher wussten sie, wann wir spielen? Und wo?“
„Oh.“ Verlegen blickte er zu Boden. „Das war ... Fleißarbeit.“
Verständnislos sah sie ihn an. „Fleißarbeit?“
Als er ihrem Blick begegnete, zeichnete sich eine leichte Röte auf seinen Wangen ab. „Ja ... ich bin in der letzten Woche einfach in jede Weihnachtsaufführung gegangen, die in der Umgebung gezeigt wurde. Da ich weder den Namen des Stücks noch Ihren kannte, musste ich einfach auf mein Glück vertrauen.“
Dann gab er sich einen Ruck und streckte ihr die Hand entgegen. „Ich bin übrigens Dennis. Dennis Neudorf. Freut mich sehr, Sie wiederzusehen, Frau Schreiber. Was für ein passender Name.“
Heikes Blick war immer noch ungläubig auf ihn gerichtet, als sie ihm mechanisch die Hand gab. „Sie waren in allen Stücken der letzten Woche? Hier?“
Wieder zuckte das schüchterne Lächeln über Dennis‘ Gesicht. „Ja, hier. Und möglicherweise auch in den beiden Nachbarstädten. Man weiß ja nie.“
„Das ... ich fühle mich geschmeichelt, Herr Neudorf!“
„Dennis, wenn Sie möchten.“ Ein erneutes Zögern. „Mir hat unser Gespräch im Café einfach sehr gut gefallen – ich hatte gehofft, sie noch einmal wiedersehen zu können. Jemanden, der Fantasy und Kakao mag und einem irgendwie sympathisch war, sollte man nicht einfach gehen lassen, fand ich.“
Heike lächelte. Jetzt war Dennis eindeutig rot. Aber seine schüchterne und dennoch direkte Art gefiel ihr. „Ja, das war ein wirklich nettes Gespräch, Dennis. Du warst der Einzige, der mir ehrlich gesagt hat, wo die Schwachstellen in meinem Plot lagen. Ich hatte schon befürchtet, dir gar nicht dafür danken zu können.“ Ein kurzer Augenblick der Stille, dann fügte sie an: „Im Café kannte man leider deinen Namen nicht. Ich hatte nachgefragt.“
Als sie realisierte, dass sie einander immer noch die Hände schüttelten, lockerte sie ihren Griff. „Hast du Lust, dich nach Weihnachten mit mir zu treffen?“, fragte sie spontan. „Wir könnten uns weiter über Fantasy austauschen.“
Die Melancholie, die sie im Café in seinen Augen entdeckt hatte, war verschwunden, als er ihr wieder ein Lächeln schenkte. „Sehr gerne! Wieder im Café? Gleich am 27. Dezember?“
Heike lachte freudig. Dennis‘ Art gefiel ihr immer besser. „Alles klar, so soll es sein! Wieder 18 Uhr?“
„So machen wir es! Ich freu mich drauf – und bis dahin frohe Weihnachten, Heike!“ Er hatte Heikes Freunde entdeckt, die sich ihnen näherten, lächelte ihr noch einmal zu und machte auf dem Absatz kehrt, um das Theater zu verlassen.
„War das nicht der Mann aus dem Café?“, fragte Jagoda neugierig, als sie neben Heike stehenblieb.
Doch sie erhielt keine Antwort. Heike sah immer noch zur Tür und lächelte.
Sie hatte ihn nicht wiedergefunden – aber er sie. Ihm hatte das Gespräch ebenfalls gefallen. Vielleicht gab es ja ab und zu doch auch außerhalb des Theaters Wunder.