Content Notes:
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„Was soll das denn jetzt?“
„So ein Mist!“
Laute Rufe begrüßten Mari, als sie mit vollgepackten Taschen die Rolltreppe hinunterkam. Eine Menschenmenge staute sich in dem großen Vorraum des IKEAs. Das war nicht das übliche Gedränge, das merkte Mari sofort.
Sie umrundete die Menschenmenge an der Seite und trat an die großen Scheiben, hinter denen der Parkplatz lag. Schon heute Morgen hatte es angefangen, zu schneien, doch nun lag der Schnee fast einen Meter hoch. Ein unglaublicher Anblick. Die parkenden Autos waren nichts weiter als Hügel im Weiß. Ein paar Laternen ragten aus der dichten Decke, und hinter dem Parkplatz waren noch blass einige Wohnhäuser zu erkennen. Dichtes Flockentreiben begrenzte die Sicht jedoch zusehend. Selbst unter dem schützenden Dach des Ganges vor dem IKEA lag mehrere Zentimeter hoher Schnee, dort, wo zwei Polizisten standen und ein Absperrband aufbauten. Ihr Fahrzeug stand auf der vorher offenbar freigeräumten Straße und versank im Schnee.
Die Taschen an ihren Handgelenken fühlten sich für Mari mit einem Mal doppelt so schwer an. Sie wandte sich an einen Mann in der Nähe. „Was … was ist los?“
„Sie sagen, es gab eine Sturmwarnung! Niemand darf raus.“ Der Mann bemühte sich hörbar, den gereizten Ton seiner Stimme abzumildern. „Ich muss eigentlich meinen Sohn von der Schule abholen. Jetzt versuche ich, meine Frau zu erreichen.“ Er hielt ihr das Handy vor die Nase.
Kein Empfang.
Wie betäubt drehte Mari sich um und ging auf wackeligen Beinen zurück. Ihr Herz pochte. In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander.
Sturmwarnung … eingeschneit … niemand darf raus … Du steckst fest!
Ihre Füße hatten sie zum Café hinter den Kassen getragen, doch auf diese Idee waren offenbar schon Andere gekommen. Jeder Platz war besetzt, viele aßen auch im Stehen. Unwillig, sich diesem Gedränge anzuschließen, lief Mari einfach weiter. Die Bewegung half ihr, ihre kreiselnden Gedanken in Schach zu halten. Ja, sie saß hier fest. Na und? Niemand wartete auf sie. Sie hatte keinen dringenden Termin. Und das Lebkuchenhäuschen und die anderen Einkäufe würden nicht verderben, während sie wartete. Nach ein, zwei Stunden wäre der Blizzard überstanden und dann könnte sie nach Hause. Es war wirklich kein Drama.
Sie wurde langsamer. Hier, im hinteren Bereich, befand sich die Abholzentrale für größere Möbel. Eine junge Familie – Vater, Mutter und zwei Kleinkinder – wartete auf ihre Bestellung. Doch auf den Sitzen saß noch eine junge Frau und schluchzte leise. Zuerst hatte Mari sie zwischen den vielen großen Taschen gar nicht gesehen. Jetzt trat sie mit leisen Schritten näher. Hinter dem vollbeladenen Wagen erspähte sie einen schwarzen Haarschopf. Die Frau sah jung aus, fast noch ein Mädchen. Ihre Kleidung war viel zu dünn für das Wetter und zerschlissen. Ebenso schien sie zwar große Sachen eingekauft zu haben, doch nicht viel. Die unzähligen Kleinigkeiten, die jeden Einkauf im Möbelhaus so kostspielig machten, fehlten in ihren Taschen, soweit Mari erkennen konnte.
„Entschuldigung“, sagte sie leise. „Ist alles in Ordnung?“
Erschrocken sah die Frau auf. Sie war wirklich jung, vielleicht gerade achtzehn. Mari erschrak vor dem Ausdruck von Panik in ihrem Blick.
„Ja! Ja, alles gut!“ Das Mädchen wischte sich nicht einmal die Wangen trocken, vielleicht aus Angst, diese Bewegung wäre zu verräterisch. Auf Mari wirkte sie wie ein wildes Tier, ein in die Enge getriebener Hase oder Vogel. Ihr war, als könnte sie die Flügel flattern hören.
„Entschuldigung“, sagte sie nochmal. „Ich wollte dich nicht erschrecken.“
„Mir geht es gut!“, behauptete das Mädchen trotzig und zog die Nase hoch. Sie zog die Arme vor die Brust, eine Mischung aus Abwehrhaltung und Umarmung. Mari bemerkte, wie dünn ihre Handgelenke waren.
Eines war sicher: Diesem Mädchen ging es absolut nicht gut. Und sie würde das garantiert keiner Fremden auf die Nase binden. Mari musste ihre Taktik ändern.
„Ich hatte eine Frage“, sagte sie, als würde sie die fadenscheinige Lüge des Mädchens glauben. „Ich rechne normalerweise immer den Kassenbon nach. Jetzt habe ich aber meine Lesebrille im Auto liegen gelassen.“ Mit einem gespielt nervösen Lachen zog sie den zerknitterten Bon hervor. „Ich Dummerchen. Jetzt komme ich natürlich nicht daran. Würdest du vielleicht …?“
Das Mädchen riss ihr den Bon förmlich aus der Hand und las drüber. Für einen Moment versank sie förmlich in Konzentration. Die Wandlung war bemerkenswert: Noch immer zusammengekauert, ähnelte sie für eine Weile mehr einer Katze kurz vor dem Sprung als einer geduckten Maus. Sie leckte sich abwesend über die Lippen. „Stimmt so.“ Viel zu schnell war der Moment vorbei und das misstrauische Wesen mit den weit aufgerissenen Augen kehrte zurück.
„Oh, vielen, vielen Dank!“ Mari verfiel ein wenig in die Rolle einer gutmütigen Großmutter. Das Mädchen schien ihr das nicht komplett abzukaufen. Siehst eben doch nicht so alt aus, wie du täglich vorm Spiegel denkst. „Hast du was dagegen, wenn ich dich mit einer Tasse Kakao entlohne?“, bot sie an.
Für jemanden, der log ohne zu zögern, war dieses Kind so einfach zu lesen wie ein offenes Buch. Mari konnte sehen, wie der Instinkt mit dem Hunger kämpfte. Der Hunger gewann. Bei diesem abgemagerten Kind hatte sie nichts anderes erwartet.
„Ja … gerne.“ Die Zustimmung kam zögerlich.
„Ich fürchte nur, drüben ist voll. Warte kurz, ich hole uns was.“ Mari eilte davon. Das Mädchen war sicher froh, seine Tränen trocknen zu können. Dass sie flüchtete, wäre überall sonst vielleicht eine Gefahr, doch wo sollte sie heute hin? Sich im IKEA verstecken?
Sie holte eine Tasse Macchiato für sich und eine heiße Schokolade für ihre neue Bekanntschaft. Als sie mit leisem Widerwillen bezahlte – völlig überteuert, die Preise hier – fragte sie sich, warum sie all das tat. Doch irgendetwas hatte dieses junge Mädchen an sich, das Maris Beschützerinstinkt weckte. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals jemanden so verzweifelt gesehen zu haben. Unbedingt wollte sie der Fremden ein wenig helfen. Noch lieber würde sie ihr ihr Geheimnis entlocken.
„Ich heiße übrigens Mari“, stellte sie sich vor, als sie sich setzte.
„Julia.“ Sie hatte ihre Augen getrocknet und die großen Pakete weggeräumt, um Platz für Mari zu schaffen. Wenngleich sie ihre abwehrende Haltung noch nicht aufgegeben hatte und immer noch die Kapuze trug, unter der nicht mehr als einige wirre, schwarze Strähnen hervor sahen, kam sie doch etwas auf Mari zu. Den Kakao trank sie so hastig, dass sie sich verbrühte.
„Langsam!“, rief Mari und lachte. „Der Kakao läuft dir nicht weg, Julia.“
„Tut mir leid.“ Eine zarte Röte kroch auf die blassen Wangen. Die dunklen Augenringe wurden dadurch nur deutlicher. Mari fragte sich unwillkürlich, ob Julia vielleicht drogenabhängig war. Sie sah so aus.
Trotz Maris Ermahnung leerte sich der Kakao zusehends. Julia hatte ihre Tasse bereits leer, als Mari nicht einmal die Hälfte ihres Kaffees geschafft hatte.
„Du bist aber nicht auf der Flucht, oder?“, fragte Mari nicht mehr vollständig scherzhaft.
„Nein, ich hatte … nur Hunger.“ Julia lehnte sich zurück, um zu demonstrieren, dass sie sitzen bleiben würde. „Du bist wirklich nett.“ Ihr zaghaftes Lächeln ließ ihr Gesicht schon heller und frischer aussehen.
„Möchtest du noch etwas?“, bot Mari sofort an. „Einen Hotdog? Ein Brötchen?“
Julia schüttelte vehement den Kopf.
Mari starrte dieses abgemagerte Ding an, das sich krampfhaft an die Tischplatte klammerte. Verdammt, es ging sie doch nichts an! Sie sollte sich nicht einmischen. „Sei ehrlich“, sagte sie trotzdem. Sie würde sich niemals verzeihen, wenn sie es nicht trotzdem versuchte.
„Ja, gerne“, gestand Julia leise. Mari nickte, erhob sich und kaufte fast mechanisch zwei Brötchen. Beide stellte sie vor Julia und sah ihr dabei zu, wie sie das Essen herunterschlang. Das Mädchen kämpfte sichtlich um Tischmanieren, doch der Hunger siegte.
Nachdem beide Teller leer waren, sah Julia auf und atmete tief durch. „Ich musste zuhause weg. Meine Eltern … naja, am Tag nach meinem achtzehnten Geburtstag hab ich mich geoutet.“ Ängstlich sah sie Mari an.
Und Mari lächelte warmherzig. ‚Outen‘ war ihr nur ganz oberflächlich ein Begriff, aber selbst sie wusste, dass solche Menschen auf viel zu viel Ablehnung stoßen wollten. Da Julia nun beschlossen hatte, ihre Geschichte zu erzählen – vielleicht als Bezahlung für das Essen oder einfach, weil sie irgendjemanden brauchte, der ihr zuhörte – wollte sie ihr auf keinen Fall das Gefühl geben, einen Fehler zu machen.
Mit mehr Selbstvertrauen fuhr Julia fort: „Ich hatte natürlich einen Notfallplan. So was wird ja im Internet geraten. Aber ich hatte wirklich nicht damit gerechnet, dass meine Familie damit ein Problem hat. Sie … sie hatten aber ein sehr großes Problem damit.“ Ein dunkler Schatten huschte über Julias Gesicht und einen Moment sah sie aus, als könnte sie beim nächsten Atemzug zerspringen. „Ich bin also weg. Habe einige Wochen bei einer Freundin gewohnt, doch deren Eltern haben Wind von der Sache bekommen und mich rausgeworfen. Man will jemanden wie mich … nein, etwas wie mich ja nicht in der Nähe seiner Tochter wissen!“
„Das ist schrecklich!“ Mari musste den plötzlichen Redeschwall einfach unterbrechen. Das bittere, von Verachtung geprägte Lachen des Mädchens zerschnitt ihr das Herz. Julias Hilflosigkeit, Zorn und Enttäuschung waren wie eine geballte Gewitterwolke, die sich jederzeit entladen konnte.
„Zu dem Zeitpunkt hatte ich mich bereits darauf eingestellt. Ich hab eine Wohnung besorgt. Einen Job. Jetzt warte ich auf meinen ersten Gehalt.“ Julia lächelte traurig. „Eigentlich sollte der Scheck gestern kommen, aber er kam nicht, und ich brauche unbedingt Möbel. Wenigstens eine Matratze und einen Tisch mit Stuhl.“
„Das hattest du gekauft?“ Mari versuchte, sich eine Wohnung ohne ein Bett vorzustellen. Vielleicht gab es noch eine Einbauküche, eine Toilette und nackte Rohre und Kabel an den Wänden. Aber keine Möbel.
Julia nickte. „Und dann hab ich gehört, dass ich hier festsitze. Der letzte Bus ist schon weg. Eine einzige Katastrophe.“
„Bus?“, echote Mari. „Du wolltest das alles mit dem Bus transportieren?“
„Woher soll ich denn ein Auto nehmen? Ich habe nicht einmal mehr Freunde, die ich fragen kann.“ Julias Stimme hatte einen verbitterten Unterton.
„Ich fahre dich.“ Die Worte waren über Maris Lippen, ehe sie überhaupt darüber nachdenken konnte. „Das heißt, wenn mein Auto gleich noch anspringt. Es ist etwas älter und verträgt Kälte nicht besonders gut.“
„Du willst mich aber nicht verschleppen oder so?“, fragte Julia mit einem nervösen Lächeln.
„Ich will dir helfen.“ Mari konnte Julia nicht einmal einen Vorwurf machen, weil sie misstrauisch war. „Nenn es Aberglauben, aber ich habe das Gefühl, dass nicht nur der Zufall uns heute zusammengeführt hat.“
„Du bist doch nicht von der Kirche, oder?“ Julia verzog das Gesicht.
„Ist das etwa ein Problem?“
Eine interessante Veränderung ging in Julia vor. Zuerst Überraschung, dann stärkere Ablehnung und dann ein Nachgeben … „Ich hab in der Vergangenheit nicht gerade gute Erfahrungen mit Kirchenleuten gemacht.“
„In diesem Fall hast du dein Vertrauen in Menschen, nicht in Gott gelegt“, antwortete Mari selbstbewusst.
„Ich weiß nicht …“, murmelte Julia und Mari beschloss, das Thema nicht unnötig zu vertiefen. Früher, so philosophierte sie, war der Glauben eine andere Form von Outing gewesen …
„Ich fahre dich jedenfalls. Ende der Diskussion.“ Mari lächelte. „Und wenn du willst, gibst du mir eine Handynummer, falls du wieder einmal Möbel kaufen fährst. Ich habe viel Freizeit.“
„Das ist wirklich lieb.“ Julia lächelte, zog die Serviette zu sich und förderte einen Kugelschreiber aus der Tasche ihres Hoddies zutage. Als sie den Zettel mit einer simplen Zahlenfolge darauf herüberschob, lächelte sie schwach. „Ich hätte nicht gedacht, dass meine erste Freundin im neuen Leben jemand wie du wird. Ich dachte, ich lerne eine erfahrenere Frau in der Szene kennen oder so was.“
Mari sagte gar nichts. Sie war viel zu gerührt von der Tatsache, dass Julia sie nun als Freundin betrachtete und steckte den Zettel umständlich weg, um ihre Sprachlosigkeit zu überspielen. Sie hätte selbst niemals damit gerechnet, beim Einkaufen auf eine neue Freundin zu stoßen.
Wenig später war der Blizzard abgeflaut und die Besucher durften auf den Parkplatz. Während ein Räumdienst die Straßen vom Schnee befreite, begann für die Kunden die fröhliche Suche nach ihrem Auto, das nun nichts weiter als einer von tausenden, weißen Hügeln war. Während Mari aus dem Gedächtnis nach der richtigen Reihe suchte, kamen sie an einem Mann vorbei, der gerade mühsam ein Auto freigeschaufelt hatte, nur damit ein anderer hineinsprang, sich knapp bedankte und davonfuhr. Der Mann fluchte halblaut und wandte sich dem nächsten Auto zu.
Mari fand ihre kleine Schrottkiste glücklicherweise auf Anhieb, da sie ganz am Ende einer Reihe von Parkplätzen stand. Sie schaufelten Schnee, luden die Einkäufe ein und dann kämpfte Mari ein wenig mit dem Zündschlüssel, bis das Auto beim dritten Versuch ansprang. Im Schneckentempo fuhr sie aus der Parklücke.
„Das ist die falsche Richtung“, bemerkte Julia.
„Ich dachte mir nur … siehst du den Herrn da drüben?“ Mari öffnete Julias Seitenfenster von ihrem Platz aus. „Wenn wir bei ihm sind, frag ihn doch, ob er jetzt ganz sicher das richtige Auto hat und ob er vielleicht zwei Paar helfender Hände gebrauchen kann.“
Julias nervöse Miene machte einem Grinsen Platz. „Bist du heute auf irgendeiner Mission?“
„Ich fühle mich in der richtigen Stimmung.“ Mari lachte und fuhr ruhig auf den verzweifelten Schaufler zu.
Immerhin hatte sie es wirklich nicht eilig.