Gemütlich und im Kerzenlicht erstrahlte der Raum, in dem sie wie immer Weihnachten feierten. Die Tanne, die er gefällt hatte, stand geschmückt in der kleinen Holzhütte umgeben von Unmengen an Geschenken.
Lachend unterhielt sich die Familie und es schien gar nicht mehr still werden zu wollen – anders als zu anderen Zeiten des Jahres, wo in der Hütte ein geselliges Schweigen herrschte.
Sein Blick war auf die Tanne gerichtet. Er dachte nach und beteiligte sich schon seit einigen Minuten nicht mehr an dem munteren Gespräch seiner Kinder oder der seiner Enkelkinder.
Sie hatten fast zu Ende gegessen, bald würden die Kinder endlich die Geschenke auspacken können – die freudige Erregung war seit Stunden zu spüren. Er konnte es verstehen, als kleiner Junge hatte er sich schließlich auch immer unglaublich gefreut.
Sein Blick folgte dem leisen Knistern des Kaminfeuers, welches er entzündet hatte, dann erhob er sich ächzend, um sich auf den großen Sessel am Kaminfeuer niederlassen zu können, und den Worten der Flammen zu lauschen. Er war sicher, seine Frau in dem Knistern zu hören, die schon vor einigen Jahren verstorben war.
»Vater?«, die Hand einer seiner Töchter legte sich auf seine Schulter und der alte Holzfäller hob den Blick und lächelte sanft, wodurch sie sich auf der Sesselkannte niederließ. Seine Familie bedeutete ihm alles, wodurch er geduldig auf die nächsten Worte seiner Tochter wartete, da in ihrem Blick schon ein stilles Verlangen zu sehen war.
»Würdest du den Kindern eine Geschichte«, fing sie stotternd an und er nickte langsam, als sie fortfuhr: »… die Geschichte hast du uns immer erzählt, als wir klein waren: Als du deine ersten Tannen gefällt hast. Immer hier in deinem großen Sessel, auf dem zwei von uns Platz fanden. Gebannt hast du dann immer in das Feuer gestarrt, bevor du uns die Geschichte erzählt hast – die… die Kinder würden sie bestimmt auch liebend gerne hören?«, seine Tochter sah ihn fragend an und er seufzte schwer.
Es stimmte, der alte Sessel war stets der Sessel der Geschichten für seine Kinder gewesen, viel zu selten erzählte er seinen Enkeln nun jene Geschichten. Aber wirklich dazu aufraffen wollte er sich nicht, da er die Ruhe des Knisterns suchte und damit das Flüstern seiner geliebten Frau.
»Mutter hätte sich auch gefreut, wenn du uns die Geschichte einmal mehr erzählst, Vater«, säuselte seine Tochter flehend und ein brummiges Lachen ertönte aus seiner Kehle.
»Soll ich sie denn wirklich den Kindern erzählen, oder möchtest du sie hören?«, fragte er mit funkelnden Augen, jedoch leise genug, dass die restliche Familie nicht zu viel von dem Gespräch mitbekam. Seine Tochter wiedersprach nicht, stattdessen ließ sie es dem Alten offen, was er daraus machen würde.
Sein ältester Sohn stand nun ebenfalls hinter dem Sessel. Er blickte seine jüngere Schwester an und schmunzelte: »Du hast die Geschichte ewig nicht erzählt Vater. Ella hat recht, du solltest sie uns einem mehr erzählen«, bat er und Ella nickte begeistert, durch die unverhoffte Hilfe.
Der alte Holzfäller sah seinen Sohn eine Weile nachdenklich an, dann nickte er Ella zu, die darin das volle Einverständnis ihres Vaters sah, dass er die Geschichte erzählen würde.
Ihren Platz auf der Sessellehne verließ sie nicht. Es war schon als kleines Mädchen Ellas liebster Platz gewesen, wenn ihr Vater wieder einmal eine Geschichte zu erzählen hatte. Ihr Blick flog zu ihrem älteren Bruder, der sich an den Rest der Familie gewandt hatte. Ein einziger Blick seinerseits, veranlasste den jüngsten seiner Brüder dazu das Licht zu löschen, während seine andere Schwester weitere Kerzen entzündete.
Der alte Holzfäller beobachtete das stille Einverständnis seiner fünf Kinder. Nun war alles einzig und allein von den Kerzen des Baumes und dem flackernden Kaminfeuer erleuchtet, ebenso wie den vielen anderen Kerzen, die den Raum nun in ein angenehmes Licht tauchten. Fast schon war es so leise geworden, wie es stets die Stille der Hütte für ihn hergab.
Theodor, sein Ältester, wandte sich an die Scharr an Enkelkindern, die sich unsicher ansahen, aber neugierig zu ihm und Ella herüberspähten. Dabei blitzte Erkenntnis in dem Blick von Theodors Frau auf und sie räusperte sich nach dem Nicken ihres Mannes.
»Euer Großvater möchte euch eine Geschichte erzählen. Na, geht schon, setzt euch zu ihm ans Kaminfeuer«, forderte sie die Kinderschar auf, die meisten von ihnen ließen sich das nicht zweimal sagen.
Schließlich blieb der Blick des alten Holzfällers an Ella hängen, die ihren Platz nicht verlassen wollte, also räusperte er sich und sah seine Tochter streng an, während er eines seiner jüngsten Enkelkinder hochhob und auf seinem Schoss platzierte.
»Ella, mach den Kindern doch Platz«, bat er seine Tochter nach einer Weile, die ein wenig traurig dreinschaute, während er sich durch den weißen Bart fuhr und einen Moment nachzudenken schien. Wiederwillig verließ sie ihren Platz.
Die kleinen Hände von Ellas Tochter ließen ihn wieder aufsehen und das kleine Mädchen auf den Platz ihrer Mutter heben. Sie betrachtete ihren Großvater eine Weile erwartungsvoll, während dieser nach wie abwesend schien. Dann seufzte er und räusperte sich, nach einem weiteren Blick in die Flammen.
»Die Geschichte, die ich euch erzählen möchte«, begann er langsam. All die Kinderaugen lagen gebannt auf ihm, aber auch das seiner eigenen Kinder war so sehr auf ihn fokussiert, dass er die ganze Aufmerksamkeit spüren konnte, »beginnt vor vielen, vielen Jahren. Als ich noch ein Jüngling war«, er nickte zu seinem ältesten Enkelkind Benjamin, welcher gespannt am Tisch sitzen geblieben war, seinen Kopf auf seine Hand gestützt.
Mit einer Hand deutete der alte Holzfäller auf den Baum, den er vor einigen Tagen eigens gefällt hatte und dann geschmückt hatte: »Damals hatten wir keinen Baum«, fuhr er fort. »In unserem Städtchen – nein, eher das Dorf, in dem meine Familie und ich wohnten, war fern von vielen Nadelwäldern. – Naja vielleicht nicht ganz so fern, wie man zuerst vermutete, aber eine Tanne konnte man dort nicht allzu schnell finden, wenn man das Waldstück nicht verließ, was zu dem Dorf gehörte.
Mein Großvater, der zu jener Zeit ebenfalls bei uns lebte und von dem ich liebevoll als Lehrling großgezogen wurde, erzählte immer Geschichten: Über eine kleine Tanne, die er jedes Jahr mit seinem eigenen Vater gefällt hatte, als er in meinem Alter gewesen war. Großvater war stets wehmütig und irgendwie wirkte er für mich immer ein wenig traurig, dass diese Tradition fehlte. Bereits mein Vater hatte mit ihm keinen Baum mehr geholt, also fehlte er ihm schon sehr lange.
Eines Tages fragte ich ihn, warum wir nicht auch eine kleine Tanne hätten, wie die in seinen Erzählungen, weil ich es nicht mehr aushielt, diese Trauer in seinem und Mutters Blick zu sehen. Schließlich schillerte und funkelte in den Erzählungen Großvaters, alles in den schönsten Farben und den schönsten Erinnerungen, die ich je in meinem Leben erzählt bekommen hatte.
Die Erklärung sollte meine Großmutter selbst sein, die zu diesem Zeitpunkt schon lange nicht mehr lebte. Ihre Worte müssen in etwa so gewesen sein:
»Du kannst doch keine Bäume fällen, du Mörder! Du bist vielleicht ein Holzfäller, aber was nützt schon so eine mickrige kleine Tanne? Sie wird niemals einen Nutzen für uns haben! Nicht einmal für ein gutes Feuer.
Das sind die Ressourcen des Waldes nicht richtig genutzt. Das Holz brauchen wir für den Bau von Möbeln, oder für ein Feuer, aber doch nicht, um einen ganzen Baum vor den Kamin zu stellen«, auch ich wusste von dieser Schimpferei, gar diesen Worten, da sie in der Streiterei zwischen meiner Mutter und meinem Vater die vergangen Jahre über immer wieder und wieder gefallen waren und doch schmerzte es mich umso mehr, als Großvater sie selbst zitierte«, erklärte der alte Holzfäller und er konnte das Bild vor sich in den Flammen erkennen, wie als wäre er jetzt selbst dort, zurückversetzt in seine jungen Jahre und sprach weiter:
***
Eingerichtet war auch die Hütte damals aus einem robusten dunklen Holze, die Möbel eigens gezimmert. Wir wussten was wir davon hatten und im Winter war es stets wohlig warm. Der große Kamin, in dem immer ein wenig von Vaters Holz brannte, loderte bereits im späten Herbst munter – so wussten wir, dass wir niemals freien müssten.
Mutter am Esstisch, stets am Stricken, meine Großmutter lebte, wie gesagt, schon lange nicht mehr, und doch wollte Großvater sie nicht verletzen. Ich muss in Benjamins Alter gewesen sein, als mich die Frage überkam, warum wir keinen Baum hatten und da sollte sie mich auch nicht mehr loslassen.
Gerade weil meine Mutter, genauso wie Ella, immer von alten Bräuchen ihrer Vergangenheit schwärmte. Ich wollte sie, gerade in der Weihnachtszeit doch nur einmal Lächeln sehen, etwas das ich in der Weihnachtszeit wirklich selten an ihr sah, denn der Baum fehlte ihr.
Seit sie mit meinem Vater zusammen war und in der Hütte meiner Großeltern lebte, hatte sie viele Einbußen in diesen Bräuchen machen müssen.
Auch sie erzählte immer wieder und wieder von einem Baum. Einer Tanne, bedeckt mit Goldenen Lichtern und Kugeln, die so Karminrot waren, dass sie fast das goldene Licht, um den Baum zu verschlucken drohten. Kleine Glasfigürchen, die sie mir hin und wieder zeigte, die sie von ihrer Mutter geschenkt bekommen hatte, als sie ausgezogen war. Für einen Baum, ihres Herzes, dass die Geschenke stets unter dem Baum liegen würden und alles viel friedlicher wäre. Leider besuchten wir ihre Eltern viel zu selten und so hatten wir bei ihren Eltern nie Weihnachten feiern können.
Mein Vater, wie meine Großmutter, war eher reserviert zu dem Thema. Keinen Nutzen sah er in einer kleinen Tanne und man solle seiner Mutter schließlich diesen Wunsch nicht verwehren und doch eine aufstellen, gerade dann nicht, wenn sie sich sosehr dagegen ausgesprochen hätte. Er selbst habe auch niemals einen Baum gehabt, unter dem die Geschenke lagen. Die Meinung meiner Mutter war eine völlig andere als seine.
Und so beschäftigte mich das wirklich sehr und ich fasste einen Entschluss. Gerade deshalb, weil ich mit Großvater selbst schon einige Bäume gefällt hatte und die Melancholie und die Trauer, dass dieser Baum nicht dastand wo er stehen sollte, immer größer zu werden schien.
Das Gebiet, für das Großvater zuständig war, bestand aus allerlei Laubbäumen, die nun schrecklich kahl waren und an das Fällen dieser Bäume dachte, bei dieser Kälte niemand. Sie waren auch nicht sonderlich schön, wenn ich ehrlich sein soll. Natürlich die Schneeflocken lagen dicht gedrängt auf den mächtigen Ästen, auf denen ich als kleiner Junge schon immer herumgeklettert war. Im Sommer hatten die Laubbäume für mich immer ihre Daseinsberechtigung, aber im Winter störte mich irgendetwas daran.
Auch das Holz, welches vor unserem Haus fein säuberlich aufgeschichtet worden war, wärmte uns den Winter hinweg, auch dieses stammte schließlich von jenen Bäumen. Auf der anderen Seite – es war nicht das gleiche. Sonst hätten Mutter und Großvater sich diesen Baum nicht so sehr gewünscht. Davon war ich überzeugt.
Als fleißiger Lehrling, hatte ich mit Großvater schon etliche Karten besprochen, in denen er mir gezeigt hatte, auf welches Waldgebiet ich zu achten hatte und auf welchem ich einen Baum erlegen konnte. Man sollte nicht unterschätzen, wie stur die Menschen sein konnten, wenn es um ihren Waldbesitz ging. Aber durch die Karten wusste ich, dass angrenzend, an unser Waldstück, sich ein großer Tannen- und Mischwald befand. Dort würde ich, wie Großvater selbst in jungen Jahren, einen Baum finden können, den er und Mutter schmücken konnten.
Den Entschluss, den ich gefasst hatte, hatte mich bereits im Herbst erfasst. Nachdem ich mühselig einige Tage Großvater nicht geholfen hatte, und meine Lehre hatte schweifen lassen, hatte ich den Mischwald ausgekundschaftet.
Er war düsterer und mir war nicht ganz wohl bei der ganzen Sache. Aber ich hatte die wunderschönen Tannen, von denen Großvater immer schwärmte gefunden. Sie waren groß. Unfassbar groß, dabei wollte ich ihn doch im Winter wieder nach Hause tragen! Also musste ich mir einen kleineren Baum suchen und ich war fest entschlossen diesen zu finden. Ihr könnt euch also vorstellen wie mühselig sich diese Suche gestaltete.
Es war schließlich nicht verboten mich auf diesem Gebiet herumzutreiben, erst das Mitführen einer Axt würde mir, wenn ich entdeckt würde, zum Verhängnis werden. Einem anderen begegnete ich in dieser Zeit nicht. Der Wald schien wie ausgestorben.
Die wenigsten Bäume, die es sicher nötig gehabt hätten, für die Versorgung des Dorfes, zu dem der Wald gehörte, wurden nicht gefällt. Etwas das mich nicht weniger überraschte und mich entsprechend mit einer großen Menge an Unbehagen erfüllte. Ich fühlte mich wie ein Räuber, der ich schließlich auch war.
In dem Jahr, wo ich das Vorhaben geplant hatte, sollte ein sehr abenteuerlicher Winter für mich werden. Zuerst hatte ich noch gezögert. Ich hatte gar nicht wieder in die Kälte gehen und mein Bäumchen suchen wollen. Insgeheim hatte ich die ganze Aktion wieder in den Sand gesetzt. Wohl wissend, was ich nicht tun würde: Einen Baum fällen.
Zu groß waren meine Zweifel und meine Ängste gewesen. Und das Unbehagen, welches mich bereits im Herbst erfüllt hatte, ließ mich allein bei dem Gedanken schaudern, was ich da eigentlich vorhatte. Ich konnte diesen Baum nicht fällen. Zumindest, wenn ich meinem Herzen traute.
Aber die Geister hatten etwas anderes vor.
An einem Schneeverhangenen Tag, die Wintersonne ließ den Schnee vor unsere Hütte leuchten, beschlich mich ein ganz neues Gefühl. Die Tage zuvor hatte ich schon oft am Fenster gesessen und den Schneekristallen dabei zugesehen, wie sie auf die Erde gefallen waren, in einem stillen Wettrennen, auch gegen die Zeit. Da war ich mir sicher gewesen.
Stets mit einer Tasse dampfendem Kräutertee, saß ich, wie hier, wenn ihr am Fenster sitzt, nicht weit vom Kaminfeuer entfernt und beobachtete das Schneetreiben aufmerksam. Damals in unsere kleine Hütte lag hinter dem Fenster, neben unzähligen Bäumen ein großer See, der jetzt natürlich völlig vereist dalag. – Ich und meine Geschwister badeten im Sommer, wie die anderen Kinder des Dorfes darin, oder aber, wir fuhren im Winter darauf Schnittschuh.
An dem Tag, an dem ich entschloss, meine Axt mitzunehmen, war der See wie leergefegt. Kein Kind befand sich dort und auch meine Geschwister hatten besseres zu tun. Aber eine leise Stimme, fast schon glockengleich schien mich nach draußen zu rufen. Eilig stellte ich die Tasse auf den Tisch und wirbelte hinaus.
Ich höre immer noch den warnenden Ruf, dass ich meine Jacke nicht vergessen solle, den meine Mutter mir hinterhergerufen hatte, als ich zum See gestapft war. Später sollte ich darum noch froh sein – seither habe ich sie auch kein eines Mal mehr vergessen.
Kaum war ich an dem See angelangt betrachtete ich ihn nachdenklich. Ich wusste noch nicht genau was ich hier sollte, erst als der Wind pfeifend um mich pfiff, es aber ansonsten herrlich still blieb erkannte ich, was ich zu tun hatte.
Da! Inmitten des Schnees befand sich ein Pfotenabdruck und ich wusste einfach, dass ich ihm folgen musste. Also lief ich zurück zu unserer Hütte und packte meine Axt, um dem Abdruck zu folgen. Es war wie ein Zeichen für mich, dem ich Folge leisten wollte. Wie ein Gefühl, das mich gemeinsam mit der Melodie aus Glockenklang zu sich rief.
Zwischen unzähligen Eiskristallen und Schneeflocken hindurch lief ich also über den See, die Spuren ließ ich dabei keinen Augenblick aus den Augen. Zwar schneite es auch, aber es war ein anderer Schnee als den, den ich sonst gewohnt war. Er verdeckte die Spuren nicht und so wurde es um mich immer dunkler und ich wusste, würde ich jetzt die Axt fallen lassen würde ich ihm eisigen Wasser des Sees erfrieren.
Zwar leuchtete der Schnee in der Dunkelheit strahlend weiß und ich konnte den Spuren folgen, aber an manchen Stellen war das Eis unter meinen Füßen so dünn, dass ich befürchtete, dass es bei dem Knirschen im nächsten Moment energisch einkrachen würde.
Mehrfach musste ich schlucken, um den Mut nicht zu verlieren, zumal der Mond weit über mir hing und mir Mut machte.
Auch traute ich mich in dieser Nacht nicht einzuschlafen. Selbst war ich überrascht, dass es überhaupt so dunkel war, also konnte ich nicht daran denken, wie spät es war. Dabei war die Dunkelheit gar nicht so abwegig, wenn ich daran gedacht hätte, dass wir Winter hatten. Aber auch ich konnte ja nicht an alles denken! Also stapfte ich ohne die Wintersonne durch den Schnee, an ein Ziel, was nur mein Gefühl zu kennen schien. Ich selbst wusste gar nicht so recht, wohin die Reise noch führen sollte.
Mein Atem ging schon lange schwer, als die Spuren im Schnee verschwunden waren und ich allein und verlassen inmitten einer kleinen Lichtung stand. Umgeben von immergrünen Bäumen, die ich schließlich als Tannen erkannte. Das einzige was ich bei mir hatte, war meine Axt, tief im Winter in der Dunkelheit ohne eine einzige Kerze, die mir Licht spenden konnte – die Idee eine der Tannen zu fällen verwarf ich mit dieser Ausgangslage recht schnell. In diesem Licht würde ich mich bloß verletzen!
In meinen Augen sollten die Tannen gar nicht größer sein als die der kleinen Lichtung, also ließ ich mich vor einem der Bäume nieder. In den eisig kalten Schnee um zu warten.
Ihr fragt euch jetzt bestimmt was ich gemacht habe, nicht wahr?
Naja, die Nacht war lang. Es war einer dieser ganz besonders kurzen Tage im Jahr, in der sich die Wintersonne ohnehin nur spärlich zeigte, also wartete ich in der Hoffnung es würde bald heller werden.
Und tatsächlich es wurde heller. Aber nicht etwa durch die Sonne, auf die ich so sehnlichst wartete, ganz im Gegenteil. Das wäre es sicher gewesen, was ich mir gewünscht hätte. Es war das Licht einer Laterne, die ich viel zu spät erst bemerkt hatte, genauso wie die lauten Stimmen, die ich erst dann wahrnahm. Da erst erkannte ich, dass ich eingenickt sein musste.
»Hast du die Spuren auch gesehen?«, eine dunkle unfreundliche Stimme, die erklungen war.
»Denkst ich sei blind, was?!«, herrschte eine andere Stimme wütend zurück, ein leises Aufprallen. Ich wagte es gar nicht mich zu rühren, weil ich gar nicht sagen konnte, woher die Stimmen kamen.
»HA!«, erklang wieder die erste Stimme.
Wieder ein dumpfer Aufprall. Allmählich bekam ich es mit der Angst zu tun. Eigentlich müssten es ja Menschen sein…, wenn sie mich gemeinsam mit meiner Axt hier fanden wäre ich verloren! Andererseits war ich nicht bereit meine Axt im Schnee zu verstecken, falls ich gleich zwei Ganoven gegenüberstehen würde, wäre ich froh um eine Waffe. Andererseits wohl oder übel restlos verloren.
»Wetten der Kerl hat sich verlaufen?«, fragte wieder die erste Stimme.
»‘türlich. Dummkopf!«
Und dann standen wir uns gegenüber, ich mit erhobener Axt und die zwei anderen Jungen, die ich gehört hatte. Sie waren viel älter als ich, das wusste ich sofort und ich fürchtete mich schrecklich vor ihnen.
Der eine hob sofort eine Braue und deutete auf die Axt: »Fallen lassen«, befahl er und mit wenigen Schritten war der andere bei mir und entriss mir diese. Meine einzige Hoffnung, sollte mir irgendetwas zustoßen, fort. Ich hatte meine Verzweiflung gekeucht, aber der Bursche, der mir die Axt aus der Hand gerissen hatte, drückte mich bereits hinunter in den kalten Schnee.
»‘ne Axt. Hat er sich doch net verlaufen«, meinte er und deutete auf die Axt, die der andere nun in der Hand hielt.
»Frag ihn doch was er hier will«, meinte der andere, während er das Werkzeug missmutig begutachtete. »Die Axt jedenfalls stammt von einem Holzfäller. – Jungchen, du weißt, dass man in fremden Gebieten keinen Baum fällen darf?«, fragte er mich mit hochgezogener Braue.
Voreilig hatte ich den Kopf geschüttelt und der Kerl, der mich auf den Boden gedrückt hatte, riss mich wieder zurück auf die Füße. »Die Alten werden wissen, was sie mit ihm machen. Los lauf!“, meinte er schließlich und stieß mich vorwärts.
Mein Hals war schrecklich trocken, am liebsten wäre ich fortgelaufen, aber ich konnte ja schlecht die Axt meines Großvaters in den Fängen dieser Jungen lassen. Er hatte sie mir schließlich geschenkt!
Ohne ein weiteres Wort war ich den beiden Jungen also gefolgt, unwissend, was mit mir nun geschehen würde – darüber hatten Großvater und ich nie gesprochen, weil er sich sicher gewesen war, dass ich so etwas niemals tun würde. Ich hatte eine Axt dabeigehabt. Wenn es heller gewesen wäre, wäre ich sicher auch im Begriff gewesen, dass ich einen Baum gefällt hätte, um meiner Mutter und meinem Großvater eine Freude zu bereiten – das konnte ich ja nicht einmal leugnen.
Die beiden stritten sich ständig, was zu einer anstrengenden Marsch führte. Kaum dass die Wintersonne wieder aufgegangen war, waren wir an ihrem Dorf angelangt. Ich lief schweigend neben ihnen her, vor einem großen Haus waren wir stehen geblieben, wo einer der Jungen klopfte:
»Holzräuber«, waren die einzigen Worte, die er sprach und der Mann auf der anderen Seite trat sogleich hinaus und nahm mich unter die Lupe, genauso wie die Axt, die ich mein Eigen nannte.
»Ich kenne alle Lehrlinge, der Holzfäller, meines Dorfes. Was wolltest du in unserem Wald?«, fragte er scharf und zerrte mich in sein Haus. Seine Augen waren dunkel und nicht wirklich begeistert.
»Ich habe… ich habe doch keinem Baum…«, wollte ich erwidern, doch der Mann hatte den Kopf geschüttelt.
»Tod«, meinte er dann und ich hörte, wie hinter mir ein Stempel, auf ein Dokument gehauen wurde – besiegelt, war mein einziger Gedanke gewesen. Mit großen Augen starrte ich den Mann an, der keinerlei Gefühlsregung in seinen Augen zuließ, als ich ihn völlig hilflos ansah. Also wollte ich wiedersprechen, versuchte es, aber ich hatte gar nicht die Möglichkeit etwas zu sagen, da mich der Herr direkt wieder vor die Tür setzte.
Er hatte mir gar keine Möglichkeit gegeben zu wiedersprechen und hatte wohl oder übel meinen Tod gerade damit besiegelt, zumindest hatte ich das so verstanden. Dennoch war mir das Urteil Schleierhaft – warum hatte er mich dann einfach vor die Tür gesetzt und warum folgte er mir nicht? Eigentlich sollte ich sogleich die Füße in die Hand nehmen und schnell verschwinden, riefen mir meine Instinkte zu, aber ich brauchte meine Axt zurück! Ich würde sie nicht zurücklassen.
Verzweifelt hämmerte ich gegen die Tür – jeder vernünftige Mensch wäre gerannt und eigentlich schrien meine eigenen Instinkte, um meine Vernunft. Doch alles sträubte sich in mir, meinen Großvater zu verraten.
Es war schließlich seine Axt gewesen. Seine Axt mit der er als Junge schon Bäume gefällt hatte. Nein das konnte ich so nicht auf mir sitzen lassen. Also hämmerte ich immer weiter unbeirrt gegen die Tür.
Doch die Tür öffnete sich nicht. Mit leerem Magen ließ ich mich irgendwann gegen die Tür sinken. Warum war ich diesem Ruf bloß gefolgt?!
Es ist deine Pflicht. Deine Winterpflicht, diese Tradition zurück zu bringen, also kämpfe, hatte ich die Worte schließlich im Wind vernommen. Eine leise beharrliche Stimme, die mir Mut machte und das war der Moment, in dem ich aufsprang und alles an diese Worte hängte. Fest entschlossen meine Axt wieder in meinen Besitz zu bringen, egal, ob ich dabei sterben würde oder nicht.
Nach gefühlten Stunden öffnete sich die Tür und der Herr, der dieses eine schlichte Wort gesagt hatte, vor dem ich mich fürchten sollte, trat mir verwundert und irritiert, aber auch unglaublich gereizt entgegen: »Was?«, fragte er mich.
»Meine Axt«, forderte ich kalt und er zog eine Augenbraue hoch.
»Die wird heute Abend verbrannt«, erwiderte er.
»Nein«, waren meine Worte und ich zwängte mich an ihm vorbei und sah mich nach Großvaters Axt um. Sie musste hier irgendwo sein, sie war mein Eigentum. Nicht die eines dahergelaufenen Meisters, der meinte, mir meine Axt abzunehmen.
Er räusperte sich zynisch hinter mir, doch das interessierte mich nicht: »Die Axt brauche ich wieder. Sie gehörte schon meinem Großvater«, meinte ich und kam damit auf den Punkt.
»Das geht nicht«, erwiderte er und schüttelte den Kopf, als habe ich den Verstand verloren. Etwas was ich gewiss nicht hatte, weshalb auch ich bloß den Kopf schüttelte. Wohin dachte er? Ich würde meine Axt auch selbst wiederfinden und umsonst hatte ich den ganzen Morgen bestimmt auch nicht klopfend vor der Tür verbracht.
Ich würde heute meine Tanne schlagen und meiner Mutter eine Freude machen, genauso wie Großvater. Daran würde ich mich nicht hindern lassen.
»Ich brauche meine Axt. Es ist meine Pflicht sie unversehrt wieder mit nach Hause zu nehmen. Außerdem brauche ich noch eine kleine Tanne«, meinte ich frei heraus, weil ich mir sicher war, dass mir eh nicht noch mehr passieren konnte und wenn, dann war ich bereit so schnell zu fliehen, dass sie mich nicht finden würden.
Der Mann musterte mich kalt und düster und schüttelte erneut den Kopf, doch ich hatte meine Axt bereits gefunden. Sie lag auf einem Tisch, auf dem lauter Äxte lagen: Alles Äxte, die sie heute Abend verbrennen werden. Warum eigentlich? Das ist doch absolut unlogisch, hatte ich bei mir gedacht und mir kurzum meine Axt genommen.
Ohne dem Mann auch noch nur einen Blick zu würdigen nickte ich und verschwand. Er tobte, das hörte ich, kaum dass die Tür ins Schloss gefallen war: »Er ist ein Jüngling! Das darf er gar nicht! Was fällt ihm überhaupt ein! Ihm nach!«, blaffte er, sodass auch die Passanten auf der Straße auf mich aufmerksam wurden.
Eine Frau betrachtete mich skeptisch, dann schüttelte sie den Kopf und wandte sich entschlossen dem Haus zu, in dem ich soeben meine Axt geholt hatte, als mehrere Männer hinausstürmten, um mir hinterher zu laufen, stellte sie sich ihnen entgegen – später, viel später sollte ich feststellen, dass diese Frau die Mutter meiner Frau sein sollte.
Noch während ich weiterrannte, tief in den Wald hinein, um meinen Baum zu fällen hörte ich sie scharf und entschieden rufen: »Lasst den Jungen seinen Baum fällen. Er wird seinen Grund haben. Henry, wird es ihm erlauben, Thomas!«
Henry war ihr Mann, ein guter Förster und angesehener Herr in jenem Dorf. Ich verstand mich später wirklich gut mit ihm. Die folgenden Jahre, sollte es Henry sein, der mich immer in dem Wald begrüßte und mit mir eine Tanne auswählte.
Noch am gleichen Tag, niemand folgte mir mehr, traf ich diesen wundervollen Menschen, der mich tatkräftig gemeinsam mit meiner zukünftigen Frau unterstützte, wie ich den Baum fällte.
***
Der alte Holzfäller blickte nostalgisch ins Feuer und betrachtete Ellas Tochter auf seinem Schoss, die ihm gebannt an den Lippen gehangen hatte, genau wie seine restlichen Enkelkinder.
»Ist das, dass Ende der Geschichte?«, nörgelte sie und Ella hob das kleine Mädchen hoch und nickte.
»Und so hast du Oma kennengelernt?«, wollte ein weiteres der Kinder wissen, der Alte gluckste leise und nickte, Kernaussage seiner Geschichte war für ihn eigentlich das Abendteuer gewesen, wie er an seine erste eigene Tanne herangekommen war, aber unter dem Aspekt hatten die Kinder natürlich auch recht.
»Aber noch schöner war das darauffolgende Weihnachtsfest, welches ich niemals wieder in meinem Leben vergessen werde. Der Baum, den meine Mutter gemeinsam mit Großvater schmückte, weil sie diesen Baum so lange vermisst hatten. – Ich bin froh, dass ich meinem Instinkt nicht vertraut habe und meine Axt zurückgefordert habe.
Die Jahre danach habe ich übrigens auch in weiser Voraussicht, wie Dunkel es werden kann, immer eine Laterne mit einer Kerze dabeigehabt«, erklärte er. »Einmal von der Dunkelheit überrascht zu werden hat mir dann doch gereicht, auch wenn ich bei Henry immer mit Speis und Trunk willkommen geheißen wurde.«
Immer noch fasziniert von der Geschichte, die ihr Großvater erzählt hatte lächelten die Kinder friedfertig, bevor Ella leise sagte: »Ich glaube ihr könnt die Geschenke auspacken, euer Großvater wird erst einmal nichts mehr erzählen«, sie drückte ihrem Vater einen Kuss auf die Wange, bevor das rege Treiben der Weihnachtszeit wieder im friedlichen Licht der Kerzen fortgeführt wurde und seine Enkelkinder, ebenso wie seine Kinder sich über die Geschenke unter dem Baum freuten, während er weiter in die Flammen sah und nachdachte.