Vinter Spøkelser
Der Schnee knirscht unter seinen Füßen. Die Spuren die er gerade im weißen Grund hinterlässt werden schon in ein paar Stunden nicht mehr zu sehen, und die Natur wird wieder unberührt sein. Denn es schneit schon seit geraumer Zeit. Der Wind weht ihm eiskalt ins Gesicht. Er seufzt. Bist in sein Dorf ist es noch ein weiter Fußmarsch und er wird mit jedem Schritt müder.
Seine Heimat liegt weit abgeschieden. Sein kleiner Stamm lebt zurückgezogen aber glücklich im tiefsten Norden. Sie sind ein Hirtenvolk mit vielen Ziegen und leben von dem was sie in der Natur finden und nutzen können. Es ist ein entbehrungsreiches, aber ein friedvolles Leben. Tjark kann sich auch nichts anderes vorstellen. Nur wenige Male im Jahr wandern einige von ihnen in die Stadt unten am großen Fjord. Um ihre Waren feil zu bieten und sich mit Vorräten und Rohstoffen einzudecken. Und ehrlich gesagt reicht ihm das auch. Der Trubel in der Stadt ist für ihn kaum auszuhalten. Das Wesen der Stadtmenschen scheint ihm unergründlich. Aber die Menschen dort kaufen die Buttermilch, die Tjark und seine Freunde aus der Milch ihrer Ziegen gewinnen, gerne und es lassen sich auch allerhand andere gute Tauschgeschäfte mit ihnen machen. Ein paar Mal im Jahr ist eine Reise dorthin also durchaus zu verschmerzen.
Da ihre Vorräte in diesem Jahr schneller zu neige gegangen waren als eigentlich geplant, hatten sie den Weg dieses Mal noch einmal vor der Wintersonnenwende zurücklegen müssen. Während seine kleine Schwester Ylva sich also auf den Besuch des Julenissen vorbereitet hat, machte er sich mit drei weiteren Männern und einem Karren auf den Weg in die Stadt. Er hatte darauf bestanden mitzugehen. Vor einigen Wochen war seine Mutter an einem Fieber erkrankt und seither erholte sie sich kaum von der Krankheit. Es ging ihr eher von Tag zu Tag schlechter und die Ältesten glauben nicht mehr an eine Genesung. Seine Tante kümmerte sich zwar um ihn und die Schwester, aber er ist dennoch überzeugt, dass eine Medizin aus der Stadt der Mutter wieder auf die Beine helfen würde. Die älteren Männer hatten ihn allerdings zunächst nicht mitgehen lassen wollen. Mit seinen Sechzehn Jahren zählte Tjark noch nicht als Erwachsener und der Marsch, der fast einen Tag lang dauerte, wurde von ihnen als zu lang und schwer erachtet, als dass er sie zurücklegen konnte. Er wehrte sich mit Händen und Füßen gegen diese Meinung und nur seiner Überredungskunst und den Namen seines Vaters war es geschuldet, dass er letztlich doch hatte mitgehen dürfen. Laurin Iversen war ein hoch anerkannter Mann in seinem Stamm gewesen. Und der einzige Seefahrer. Seine Abenteuerlust war unstillbar gewesen und seine Fantasie und seine Geschichten unerschöpflich. Wie oft hatte er Tjark und den anderen Kindern Geschichten erzählt. Auch die vom Gnom Julenissen, der den braven Kindern und den Tieren in der Winternacht Geschenke bringt. Am liebsten mochte er aber immer die Geschichte der Wintergeister. Sie leben hinterm Nordlicht und kommen nur selten zur Erde. Aber manchmal tun sie es, denn sie sind neugierig. Wenn sie es dann tun nehmen sie oft die Gestalt von Tieren an und geben sich nicht zu erkennen, aber sollte man doch mal einem Begegnen und ihm etwas Gutes tun, so gewährt er dir wohl einen Wunsch und er wird dir nie wieder ganz fern sein. So sagt es die Legende. Obgleich sein Vater viele Legenden von seinen Reisen mitbrachte, dies bleibt für Tjark die schönste. Egal wie alt er heute sein mag. Ja, das Reisen. Es hat seinen Vater nie lange an einem Ort gehalten und vielleicht ist es letztendlich diese Unruhe, die ihn auch das Leben gekostet hat. Eines Tages führ sein Vater nämlich zur See und kehrte nie zurück. Viel später erst haben Mutter und Kinder erfahren, dass das Schiff an einem Riff im Osten zerschellt sein soll.
Tjark schüttelt den Kopf. Er muss seine Sinne zusammenhalten und sich auf den Weg konzentrieren. Wenn die Tage doch zumindest nicht so kurz und es nicht schon wieder so dunkel wäre. Warum muss heute auch alles schief gehen? Es ist wirklich zum Haare raufen. Vermutlich wäre ihm wohler, wenn er nicht alleine unterwegs wäre. Aber wie gesagt, heute funktioniert eben gar nichts. Die gesamten letzten Tage geht schon alles schief, wenn man es genau nehmen will. Als sie vor zwei Tagen in der Stadt ankamen, war der Mediziner unterwegs, weshalb Tjark bis heute Mittag warten musste, bevor er Medizin für seine Mutter bekommen konnte. Weil es aber mit den Ältesten so ausgemacht war, hatten sich zwei der Männer gestern schon wieder auf den Rückweg gemacht. Gunderson war aber bei Tjark geblieben. Gemeinsam wollten sie die Heimkehr des Mediziners abwarten und sich dann auch auf den Weg zurück machen. Und als wäre das nicht Mühe genug, hatte sich der alte Gunderson dann heute Morgen noch am Fuß verletzt. Für ihn war es somit unmöglich die Strecke mit Tjark zu Fuß zurück zu legen. Während Tjark noch auf den Mediziner wartete, war aber ein fahrendes Volk vorbei gekommen, dass Gunderson mitnehmen und bei ihrem Dorf absetzen wollte. Aber auch sie hatten ihre Termine einzuhalten und da Tjark nicht bereit gewesen war ohne die Medizin zu gehen haben sie sich ohne ihn auf den Weg gemacht. Gunderson wollte ihn noch überreden mitzukommen, doch Tjark stellte sich Stur. So kommt es das er nun alleine ist. Eine schöne Bescherung. Ach, und das Kaninchen nicht zu vergessen! Wenn er nur daran denkt ärgert es ihn schon. Endlich hat er dann die Medizin bekommen, dafür hat er sogar eine der beiden alten Silberketten seines Vaters eingetauscht, und hätte nach Hause gehen können, da war ihm das Tier in einem Käfig an einem kleinen Stand aufgefallen. Es war eines von vielen. Ein Mann verkaufte Waren aus feinster Angorawolle und die Tierchen sollten wohl nichts weiter als possierlich aussehen. Nur konnte er einfach nicht an dem Angorakaninchen vorbei gehen. Täuschte er sich etwa, oder sah das Tier in seiner Gefangenschaft traurig aus. Ja, sahen diese Augen nicht geradezu verängstigt aus. Nun gut, dachte er bei sich, wieso Ylva nicht ein Geschenk machen und das Tier mitbringen? Nach allem was sie in der letzten Zeit durchgemacht hatte, sollte sie sich nicht nur auf den Yulenissen verlassen müssen. Dafür tauschte er also die zweiter Silberkette seines Vaters, sein Erbstück, schweren Herzens ein. Und was passierte? Als der Mann ihm das weiße Kaninchen übergeben wollte, befreute es sich aus dem klammernden Griff und spurte Haken schlagend davon. Viel schneller, als man es von dem Fellknäul hätte erwarten können. Nun, jetzt war es vielleicht frei, als Tjarks Laune hob das sicher nicht. Wert gewesen ist es das allemal nicht.
Und jetzt steht er hier, die Schritte fallen ihn immer schwerer, sein Dorf scheint noch immer nicht in Sicht und er muss gestehen er hat sich verirrt. Er will nicht darüber nachdenken und der ärger hat ihn zumindest kurz vergessen lassen, aber so langsam zweifelt er daran noch nach Hause zu finden. Er hat regelrechte Angst. Und das Schneegestöber scheint stetig schlimmer zu werden. Er sieht die Hand kaum noch vor den eigenen Augen. Unwillkürlich fasst er an seine linke Seite. Der Beutel mit der Medizin ist noch da, stellt er erleichtert fest. Aber wird seine Mutter sie bekommen? Er kneift die Augen zusammen. Da hinten! Ist dort nicht etwas? Tatsächlich. Die Schemen werden deutlicher, desto näher er ihnen kommt. Ist das etwa eine Person? „Hallo?“, fragt er in den Sturm hinein. „Hallo?“, kommt es zögerlich zurück. Plötzlich steht Tjark unvermittelt vor einem anderen jungen Mann.“ Was in Odins Namen machst du hier draußen?“, rutscht es ihm nicht gerade freundlich heraus. Der andere fährt sich nervös durchs helle Haar. Wenn er es nicht besser wüsste, würde er meinen es ist ebenso weiß wie der Schnee. Aber das täuscht sicher. „Ich habe mich wohl verlaufen, antwortet der Junge. Tjark mustert ihn von oben bis unten. Er trägt helle Kleidung, solche hat er noch nie zuvor gesehen, mit einem ebenso hellen Fellsaum. Auf den Ärmeln sind irgendwelche Runen gestickt, die er nicht entziffern kann. Er seufzt erschöpft und antwortet. „Ich fürchte ich auch, mein Freund. Ich bin übrigens Tjark. Und du bist?“ „Kanin“, stellt sich der fremde vor und reicht ihm ebenfalls die Hand. Kanin? Was für ein seltsamer Name. Aber er lässt es sich nicht anmerken. Es fühlt sich einfach gut an, nicht mehr alleine zu sein. „Wo musst du denn hin?“, will er neugierig wissen und fügt rasch hinzu. Mein Stamm wohnt hoch oben im Norden am Ford Nærøyfjord.“ Kanin stößt hörbar die Luft aus und antwortet traurig: „Ja, ich komme auch von hoch oben. Aber ich fürchte mein Weg ist noch weiter als der deine.“ Aber er sagt nicht, wo genau er herkommt und Tjark fragt nicht weiter nach. Irgendetwas sagt ihm, dass Kanin ihm ohnehin keine weitere Auskunft geben wird.
Sie laufen weiter und weiter. Und sie reden. Jedes Wort hält Tjark wach. Denn eigentlich redet nur er. Kanin erzählt wenig, aber er ist ein guter Zuhörer. Und in seiner Nähe fühlt Tjark sich besser. Doch mittlerweile sind sie in düstere Finsternis gehüllt. Das Schneetreiben hat zwar endlich aufgehört aber sie sehen nichts mehr. Während Kanin unerschütterlich voranschreitet und Tjark ermuntert es ihm gleich zu tun, ist er müde und erschöpft und die Kälte und die Feuchtigkeit fressen sich durch seine Kleider. Als er versucht Kanin mit zitternder Stimme einer der Geschichten seines Vaters zu erzählen bleibt er an einer Unebenheit des Bodens hängen und stürzt der Länge nach zu Boden. Seine Beine können ihn nicht mehr tragen. Sein Körper zittert. Mit letzter Kraft dreht er sich auf den Rücken. „Tjark!“, ruft Kanin entsetzt. „Komm! Steh auf! Es kann nicht mehr weit sein.“ Er schüttelt den Kopf. In ihm steigt Wut über seine eigene Unzulänglichkeit auf und er blinzelt mit aller Kraft die Tränen weg, die ihn zu übermannen drohen. „Ich kann einfach nicht mehr“, schluchzt er. Kanin kniet sich neben ihn. „Natürlich kannst du“, sagt er sanft. Und es klingt weder aufmunternd noch befehlend. Es klingt wie eine reine Feststellung. Er schüttelt abermals den Kopf, als er murmelt: „Nein. Kann ich nicht.“ Dann sieht er zu seinem neuen Freund und fragt: „wenn du weiter Richtung Norden gehst und an meinem Dorf vorbei kommst“, seine Glieder sind schon ganz starr vor Kälte und seine klammen Hände haben müh den Beutel an seiner Linken zu fassen zu bekommen „dann bringe die Medizin bitte meiner Familie. Du weißt ja jetzt, wie dringend meine Mutter sie braucht.“ Selbst das sprechen fällt ihm jetzt schon schwer. Doch Kanin verneint. „Ich gehe nirgendwo hin, Tjark. Du kannst ich die Medizin selber geben.“ Tjark will erneut ansetzten, um zu widersprechen, schließlich schmerzt jede Stelle seines Körpers, als Kanin ihn unterbricht. „Sieh nur!“, ruft er aufgeregt und blickt gen Himmel. Tjark wendet seinen Blick langsam von Kanins Gesicht ab und sieht empor zum Himmel. Wie konnte das vorher nicht sehen? Hoch oben thront rot strahlend das Nordlicht! Nein. Es strahlt nicht nur, es tanzt! „Wow“, entfährt es ihm. „Na, also“, flüstert Kanin. „Wir sind beide bald zuhause, Tjark.“
Als er zu sich kommt ist er von Wärme umgeben. Langsam macht er seine Augen auf. Versucht die Arme zu bewegen, die in einer Decke eingeschlagen sind. „Was…?“, will er wissen, als Ylvas Stimme an sein Ohr dringt. „Mama. Mama! Er ist wach. Tjark ist wieder wach.“ Dann tritt seine Mutter ins Sichtfeld. „Mama?“, fragt er erstaunt. Doch seine Mutter fällt ihm um den Hals, ehe er noch etwas sagen kann. „Odin sei Dank“, hört er seine Tante Helga sagen, die in der Ecke sitzt. „Der Junge muss mehr Glück als Verstand gehabt haben.“ „ Ylva?“, er sieht bittend zu seiner kleinen Schwester. Er versteht gar nichts mehr. „Die Männer haben dich draußen vor dem Dorf gefunden.“, erzählt sie. „Du warst zwar schrecklich unterkühlt aber sonst warst du trotz des Wetters unverletzt. Jetzt hast du ein paar Tage geschlafen, es ist Weihnachten und Mama ist wie durch ein Wunder wieder gesund!“ Sie sagt es leichthin, als wäre es nichts. „Kein Wunder.“, sagt Helga. „Es war deine Medizin, Junge“. „Aber die Ältesten haben gesagt das kann gar nicht sein!“, ruft die Kleine dazwischen. „Ach, auch die irren sich manchmal.“, schneidet Tante Helga ihr das Wort ab. „Genug jetzt“, sagt Mutter. „Das wichtigste ist doch, dass wir alle wieder beisammen und wohlauf sind, nicht? Da hat uns der Yulenissen ein schönes Weihnachtsgeschenk gemacht. Das sollten wir zu schätzen wissen“, sagt sie lächelnd. „Und jetzt schlaf' noch, mein Liebling.“
Erst in tiefer Nacht erwacht Tjark erneut. Alles schläft. Fast alles. „Du, Tjark“, flüstert seine kleine Svhwetser. „Ich glaube es ist doch ein Wunder.“ Tjark lächelt und flüstert „vielleicht.“ Da fällt es ihm plötzlich wieder ein. Vor seinen Augen sieht der den Jungen mit dem weißen Haar, Kanin, und die tanzenden Nordlichter. „Ylva…“, fragt er aufgeregt , war ich eigentlich allein, als die Männer mich fanden?“ „Ja“, bestätigt das kleine Mädchen und er seufzt. „Obwohl … die Männer meinten, sie hätten ein weißes Kaninchen fortlaufen sehen, als sie dich fanden. Aber Tante Helga sagt, die Männer haben nur einen über den Durst getrunken. Was immer das heißt. Denn weiße Kaninchen gibt es hier oben ja gar nicht.“ Tjark zittert, doch dieses Mal nicht vor Kälte. Es ist Aufregung. „Ylva, ich glaube du hast Recht. Es ist ein Weihnachtswunder. Nein. Eher ein Wunsch, denke ich. Aber seine Erfüllung haben wir nicht dem Yulenissen zu verdanken.“, flüstert er in die Stille hinein. Doch als er zu ihr blickt sieht er, dass sein kleines Schwesterchen schon wieder eingeschlafen ist. Er legt sich auch wieder nieder. Noch immer zittrig vor Aufregung. Oder ist das Glück? „Ich hoffe du hattest auch eine gute Heimreise, Kanin“, haucht er und driftet mit einem Lächeln auf den Lippen zurück in den Schlaf.