Soweit, so gut, dachte ich mir, als ich durch die Parkanlage schlenderte.
Ich hatte mich schon gewundert, dass das Tor zur Anlage noch offen gestanden hatte. Es würde bald dunkel werden, und eigentlich hatte der Park um diese Zeit geschlossen und nur die Vorbereitungen für die Landesgartenschau würden noch laufen. Schließlich musste alles bis zum Eröffnungsdatum funktionieren und an seinem Platz sein.
Nur hatte ich völlig vergessen, dass wir heute den dritten März hatten und der Park am ersten Montag des März immer etwas länger aufhatte. Warum wusste ich nicht, auch, wenn ich schon lange in der Stadt wohnte und auch den Park regelmäßig besuchte. Aber ich war nicht alleine damit wie es schien, denn auch sonst war niemand mehr vor dem Park zu sehen gewesen.
Doch dieses Mal war es anders. Denn dieses Mal war es kein einfacher Besuch um mich im Park zu entspannen, während die Vögel leise vor sich hin zwitscherten und ich den Duft der langsam erblühenden Blumen einatmete, während ich an dem kleinen See auf der Bank saß und mir mit einem schönen Roman die Zeit vertrieb.
Nein, dieses Mal hatte ich ein anderes Ziel; den eingezäunten Bereich des Parks.
Ich hatte schon allerlei Gerüchte um den Bereich gehört. Einige Leute behaupteten, dass es dort spuken würde. Wieder andere meinten, dass hinter dem hohen Zaun wilde Tiere gefangen gehalten werden, an denen man Experimente durchführte, und die zu gefährlich wären, um sie frei herumlaufen zu lassen.
Blödsinn. Mit solchen Gruselgeschichten konnte man mich nicht beeindrucken.
Trotzdem war ich neugierig, was sich nun hinter dem Zaun verbarg.
Mittlerweile war ich auch nicht mehr alleine. Auf dem großen Platz, auf dem ich nun stand, tummelten sich viele andere Menschen an den Ständen, die heiße Würstchen oder Getränke verkauften, und machten sich wohl ebenfalls einen schönen Abend. Das Bild wirkte irgendwie befremdlich auf mich. Vor dem Park keine Menschenseele, aber hier herrschte reger Betrieb.
Was solls, dachte ich mir einfach und zuckte dann mit den Schultern. Darüber muss ich mir nicht auch noch Gedanken machen.
Denn ungefähr in fünfzig Meter Entfernung lag mein Ziel bereits in Sichtweite. Der hohe Zaun, der das sagenumwobene Gebiet vom Rest des Parks trennte.
Also schlenderte ich gemütlich weiter. Ich wollte nicht, dass jemandem, der mich vielleicht zufällig sah, sofort klar war, dass ich unbedingt zu diesem Zaun wollte. Ich wusste nicht warum. Nur, dass ich es nicht wollte.
Ich will nur nicht, dass mir jemand folgt. Irgendwas in mir drin nagte an mir, sagte, dass ich das Geheimnis nicht mit anderen teilen wollte.
Doch meine Sorge war unnötig, wie sich schnell zeigen sollte. Denn aus irgendeinem Grund schienen die Menschen, die sich redselig unterhielten und dabei ihre Würstchen aßen und ihre Getränke tranken, den Zaun zu meiden.
Wird es gerade kälter, oder bilde ich mir das nur ein? Ich bekam eine leichte Gänsehaut und verfluchte mich leise dafür, dass ich meine Jacke im Auto liegen gelassen hatte. Es war schon ziemlich warm an diesem Abend, ungewöhnlich warm sogar für diese Zeit. Ob das nun am Klimawandel lag oder das Wetter einfach ein wenig ausflippte vermochte ich nicht zu sagen. Aber ich wusste, dass mir ein leichter Schauer über die Haut lief, sobald ich mich dem Zaun näherte.
Jetzt bild dir doch keinen Quatsch ein, mahnte ich mich selbst. Als ob mir diese Gruselgeschichten Angst einjagen würden. Jedem anderen vielleicht, aber nicht mir!
Schließlich stand ich vor dem Zaun.
„BETRETEN VERBOTEN“, stand dort Schwarz auf Gelb auf einem großen Warnschild, welches am Tor angebracht war.
Unschlüssig stand ich nun vor dem Tor und schaute mich um. Niemand war mehr in meiner Nähe, und die Menschen, an denen ich vorbeigegangen war, schienen mich nicht bemerkt zu haben. Oder es interessierte sie nicht, wenn sich jemand den Zaun näher anschauen wollte. Gefolgt war mir jedenfalls niemand.
Kennen die das Geheimnis vielleicht schon?, fuhr es mir durch den Kopf. Waren die schon hinter dem Zaun?
Ich schüttelte den Kopf. Selbst wenn die das Geheimnis schon kannten, was sollte es mich interessieren? Ich war schließlich hier, um es auf eigene Faust zu erkunden!
Vorsichtshalber schaute ich mich am Zaun um, ob vielleicht noch ein weiteres Warnschild aufgehängt worden war. Ich wollte nur sicher gehen, dass ich beim Berühren des Zauns nicht den Schlag meines Lebens bekommen würde. Das würde mein Herz sicher nicht mitmachen, die gute, alte Pumpe.
Da ich kein weiteres Schild finden konnte, streckte ich vorsichtig meine Hand nach dem Griff am Tor aus und hoffte dabei inständig, dass man das Schild nicht vielleicht einfach nur vergessen hatte.
Ich schloss die Augen und umfasste mit den Fingern den Griff.
Nichts geschah.
Langsam öffnete ich wieder die Augen. Kein Stromschlag. Kein Alarm. Kein Geheul von irgendwelchen mutierten Monstern, die mich mit Haut und Haar verschlingen wollten.
Ein kurzer Blick über die Schulter zeigte mir die Leute, die noch immer auf dem Platz standen und sich unbekümmert zeigten. Also waren auch die noch am Leben.
Gut. Gut. Ich konnte es nicht erklären, aber ich war aufgeregt. Ich glaube weder an Geister noch sonstige mystische Wesen und Legenden, aber in diesem Moment pochte mein Herz schneller als es sollte.
Ich drückte den Griff nach unten und zu meiner Überraschung schwang das Tor mit Leichtigkeit auf. Hätte es nicht verschlossen sein sollen?
Ehrlich gesagt hatte ich mir keine Gedanken darum gemacht, was ich getan hätte, wenn das Tor zugesperrt gewesen wäre. Der Zaun war zu hoch um einfach darüber zu klettern. Und ich war kein Räuber, also hätten mir selbst Dietriche oder sowas nichts gebracht. Als Bänker brauchte man keine Dietriche. Da hatte man die Schlüssel von Haus aus.
Ich öffnete das Tor ganz. Dahinter erstreckte sich der Weg weiter, auf dem ich die ganze Zeit schon gelaufen war. Doch es sah aus, als hätte die Natur sich diesen Ort zurückgeholt.
Bäume, Büsche und Gestrüpp wuchsen hier dicht an dich und versperrten einen weiteren Ausblick.
Doch das sollte mich nicht aufhalten, also kämpfte ich mich durch die Sträucher durch. Meinen Anzug und meine Schuhe konnte ich danach eh vergessen.
Wäre ich nach der Arbeit doch zuerst nach Hause gefahren um mich umzuziehen.
Ich wusste nicht, wie lange ich mich durch die Natur gekämpft hatte, doch am Ende hatte es sich gelohnt, denn diesen Anblick würde ich wahrscheinlich so nie wieder sehen.
Ich stand vor einem großen See. Blumen, Gräser und Sträucher sprossen in allen erdenklichen Farben aus der Erde. Dazu überfiel mich eine unglaubliche Fülle an sinnlichen Eindrücken, die ich kaum so schnell verarbeiten konnten, wie sie auf mich einprasselten. Ich sah Obstbäume, Akazien und Ginkobäume. Oleander, Hibiskus und Orchideen vermischten sich mit anderen Büschen voller Blüten und Blumen, deren frische Düfte durch die Luft wehten.
Auf meiner haut kribbelte es, als würde Elektrizität in der Luft liegen, um mir blieb beinahe der Atem weg.
Ich griff in meine Tasche und holte das Handy raus, um damit ein paar Fotos zu machen, doch aus irgendeinen Grund funktionierte es nicht. Vorhin hat das doch noch wunderbar funktioniert, dachte ich verwundert. Doch egal was ich tat, das Display blieb schwarz.
„Heiliger Holunderbusch“, entfuhr es mir laut, als ich plötzlich bemerkte, wie blind ich doch war. Ein Grinsen zeigte sich auf meinen Lippen.
Langsam schritt ich den Weg voran, der mich zu einer Parkbank führte. Ich nahm auf ihr Platz und atmet tief ein und aus. Ein merkwürdiges Gefühl der Freiheit überkam mich dabei.
Nicht nur hatte sich die Natur diesen Ort zurückgeholt, sie sorgte auch dafür, dass keine Technik sie störte. Wie auch immer sie das machte.
Von irgendwo kamen Enten geflogen, die sich schnatternd auf dem Wasser niederließen und dort nach den Fischen schnappten, die unter der Wasseroberfläche schwammen und zu fliehen versuchten.
Ich war mir sicher, dass sich die Mythen und Legenden um diesen Ort nur deshalb rankten, weil sich niemand die Mühe gemacht hatte, sich einen Weg durch das dichte Gestrüpp zu suchen. Weshalb sonst sollte man einen solch ruhigen Ort verheimlichen?
Dankbar, dass es diesen Flecken Erde gab, schloss ich kurz meine Augen und hörte den Geräuschen der Natur zu. Dabei lehnte ich mich zurück, und als ich nach oben in den Himmel schaute, sah ich die ersten Sterne aufblitzen.
Das sollte die schönste Nacht meines Lebens werden. Auf einer Bank an einen kleinen See inmitten der Natur.
Nur der Roman, der fehlte dieses Mal.