Prompt: Traumtänzer (05.01.2020) - nachgeschrieben 08.01.2020
Startzeit: 21:20 Uhr
Ende: 22:16 Uhr
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Wie oft haben wir diese Gespräche geführt?
In der Grundschule.
In der Musikschule.
Später.
Immer und immer wieder.
Unser Sohn ist nicht einfach ein Träumer.
Das wäre zu einfach.
Ja, er verliert sich gern in Tagträumen, in seiner Fantasie, vor allem der Musik.
Er begreift Töne und Schwingungen wie wir anderen Menschen Sprache und Worte verstehen.
Schon als kleiner Junge zogen sie ihn magisch an. Später tauchte er in die Fabel- und Märchengeschichten der Klassik ein. Erlebt beim Hören diese Geschichten.
Noch ehe er eine Note lesen oder später vom Blatt singen kann, hilft ihm sein absolutes Gehör.
Er muss sich wenig hart erarbeiten, lerne die Technik fast spielerisch. Trifft Töne, die er nur einmal gehört hat.
So wie sein älterer Bruder ein fast fotografisches Gedächtnis besitzt.
Oft flüchtet sich unser Jüngster in die Musik.
Sperrt alles andere aus.
Lässt nichts an sich heran.
Sie ist ihm Zufluchtsort und Trost.
Er drückt bis heute Gefühle darüber aus.
Verbindet Erinnerungen und Bilder daran.
Er braucht sie zum Leben.
Sie ist sein Atem.
Sein Wasser.
Weil ihm für vieles andere Geduld fehlt, haben ihn schon die Lehrer in den ersten Klassen als langsam abgestempelt.
Unkonzentriert, fahrig.
Einmal nennt ihn jemand dumm.
Faul.
Schulversager.
Zurückgeblieben, heißt es hinter vorgehaltener Hand.
Wie reagiert man als Mutter?
Viele haben mir vorgeworfen, dass ich vor der Wahrheit die Augen verschlossen gehabt hätte.
Mein Sohn ist empfindsamer.
Hochgradig sensibel gar.
Er spürt schon Stunden vorher, wenn etwas passiert.
Es ist eine Bürde, wenn sie noch so klein sind.
Es wird übrigens nicht leichter, wenn sie älter werden.
Wir haben versucht, ihm Mut mit auf den Weg zu geben.
Und immer wieder gesagt, dass man an seine Träume glauben darf.
Er hat sie wahr gemacht.
Nicht ohne Umwege.
Hier und da muss er auch heute aus den Wolken geholt werden.
Er ist schnell begeisterungsfähig.
Verliebt sich blitzschnell in eine Melodie oder eine Idee.
Genauso schnell kann er aber auch tief fallen.
Manchmal ist da kein doppelter Boden, kein Auffangnetz.
Dann trägt die Seele blaue Flecken davon.
In der großen Trauer um seinen Opa, damals, verlor er die Fähigkeit zu singen, zu musizieren. Aber nie, so hat er später gesagt, hat er das Gefühl verloren. Er spürt Musik, und so lange das so ist, hat er einen Anker.
In der großen Krise hat er dies fast verloren. Verschüttet unter Qual.
Auf einmal war Musik keine Heilung, kein Balsam mehr.
Das, so sagt er heute, hat ihm furchtbare Angst gemacht.
Beinahe hätte er sie aufgegeben und damit sich.
Er musste sie ganz neu kennen lernen.
Mitunter fürchtete ich, dass dieses Band zerschnitten sei.
Und wie grausam muss es sein, wenn man etwas so Elementares, die Begabung des Lebens verliert?
Für unseren Sohn hat es nie ernsthaft einen Plan B gegeben.
Die Musik ist sein Leben.
Ohne die Musik wäre er nicht am Leben.
Sie führt ihn hindurch und ist ihm ein Wegbegleiter.
Vielleicht verträumt er sich oft.
Manchmal mag er entrückt wirken, zu weich.
Aber er ist nicht nur einfach ein Traumtänzer.
Er hat diese Träumereien gebraucht.
Diese kleine Welt in sich, in seinem Herz und Kopf.
Und wenn er die Kunst leben darf, sie mit uns und der Welt teilt, dann gibt er unendlich zurück. Weil er es versteht, seine Emotionen und Begeisterung zu transportieren.
In der Musik, da muss man nicht jedes Wort verstehen.
Aber der Ton muss passen.
Dann versteht man auch mit dem Herz.
Sinn und Verstand.
Oft denke ich darüber nach, ob das nicht auch ein bisschen für die Welt an sich gilt.
Wir haben damals oft gezweifelt.
Lange für eine Lösung gekämpft und gesucht.
Es sind viele Tränen geflossen.
Die Hilflosigkeit des eigenen Kindes ist schwer zu ertragen.
Wenn es nicht in die Systeme passen will, fürchtet man die Zukunft.
Anderssein ist auch heute noch unpopulär.
Uniform wird gern genommen.
Dabei ist Individualität so viel bunter und spannender.
Das haben auch wir lernen müssen.
Es ist nicht schlimm, ganz im Gegenteil.
Beinahe hätte man auch unseren hübschen, talentierten und fantasievollen Sohn in ein graues Muster gepresst.
In dem er gnadenlos untergegangen wäre.
Weil er ungern die Ellbogen einsetzt, nicht gerne laut oder über griffig ist.
Er drängt sich nicht gern in den Vordergrund.
Lieber singt, summt oder pfeift er vor sich hin.
Betrachtet Wolken, die vorüberziehen und dabei eine Geschichte erzählen.
Seinem eigenen Kind erzählt er wundervolle ausgedachte Märchen oder Fantasiegeschichten. Sie erschaffen gemeinsam kleine Welten.
Die Träume, die man als Kind hat, darf man als Erwachsener nicht mit den Füßen treten.
Er lebt dies heute und ich bin stolz und dankbar dafür.
Gönnt euch Traumzeit.
Sie ist wichtig.
Sie stärkt.
Und sie gibt uns so viel Kraft.