7:00.00
Saffi erwachte.
Sie öffnete ihre Augen und wurde von totaler Schwärze empfangen. Nicht einmal Schatten waren erkennbar. So eine tiefe, schwarze, undurchdringbare Dunkelheit hatte sie noch nie gesehen. Sie setzte sich auf und tastete ihre Umgebung ab. Sie schien auf einem Bett zu sitzen, der Rahmen aus eiskaltem Metall und die Matratze etwas feucht und klamm. Ein kalter Windhauch fuhr ihre Haut entlang, und sie merkte, dass sie keine Klamotten anhatte.
6:36.11
Saffi versuchte, sich am Bettgestell hochzuziehen. Ihr war schwindelig, und der Mangel an Orientierung im Raum machte es nur noch schlimmer.
"Was zur Hölle ist das hier?", fragte sie sich laut, mit den Händen die kalten Wände abtastend. Ihre nackten Füße rutschten über die den alten, verbogenen Holzboden. Allein in den vielleicht zwei Metern, die sie zurückgelegt hatte, hatte sie sich bereits mehrere Splitter gefangen. Schließlich ertastete sie etwas, das sich anfühlte wie eine Türklinke. Saffi zögerte kurz, drückte sie aber dann hinunter und schwang eine schwere Holztür auf.
5:58.25
Auf der anderen Seite der Tür lag ein Raum, komplett in tiefrotes Licht getaucht. Vorsichtig trat sie ein und sah sich um. Drei verschiedene Türen, ein Tisch mit einem Blatt Papier drauf sowie eine digitale Uhr waren alles, was zu sehen war.
"Ist hier jemand? Irgendwer?", rief sie in den Raum hinein. Der rote Raum vor ihr schwieg sie aber genauso an, wie die Schwärze hinter ihr. Langsam trat sie in den Raum ein, an den Tisch heran. Zitternd aber neugierig hob sie den Zettel an. Sie rieb sich die Augen, um die Buchstaben auf dem Zettel entziffern zu können.
"Saffi Sahira"
Sie kniff die Augen zusammen und sah noch etwas genauer hin. Unter ihrem Namen wiederholte sich dasselbe Wort wieder und wieder:
"Hexe"
Sie schrak vom Zettel zurück. Eine kleine, handschriftliche Notiz fiel von der Rückseite des Papiers ab, während sie langsam Richtung Tischplatte segelte.
Saffi beugte sich über den Zettel. In einer ihr nicht bekannten Handschrift ergaben sich die Sätze vor ihren Augen.
"Und die Strafe für Hexerei ist das Feuer. Als du aufwachtest, hattest du noch sieben Minuten. Jetzt sind es weniger."
Sie wirbelte herum, um auf die Uhr zu schauen. Doch irgendwas stimmte nicht. Die Ziffern schienen rückwärts zu laufen. Dann dämmerte es ihr: Es war keine Uhr. Es war ein Timer.
4:42.03
Saffi rannte zur Tür ihr direkt gegenüber. Sie war nicht verschlossen, aber auf der Klinke war in rot eine Nachricht hinterlassen:
"Willst du es hier versuchen?"
Sie riss die Tür auf und starrte in einen Gang, so Finster wie das Zimmer, in dem sie erwachte. Nur das rote Licht des Raumes, in dem sie gerade stand, erleuchtete die ersten zwei, drei Meter, dahinter war sie blind. Einen Moment schaute sie noch zurück zum Tisch, zum Timer, aber sie wusste, sie hätte keine andere Wahl. Sie rannte so schnell sie konnte in die Finsternis hinein, ihre Füße über die splittrigen Bretter rutschend. Sie hielt sich schützend die Arme vor den Kopf, für den Fall, dass in der Dunkelheit eine Wand oder ein Hindernis liegt. Im Korridor schien keine Zeit zu vergehen. Irgendwann sah sie ein kleines, rotes Licht in der Ferne. Sie rannte schneller, getragen von ihrer Hoffnung auf einen Ausweg, tiefe Atemzüge in ihre brennenden Lungen ziehend. Das Licht kam näher und näher. Sie konnte schon eine Tür sehen, als sich ein schrecklicher, stechender Schmerz in ihrem Fuß breitmachte. Es war, als wären alle ihre Muskeln von einer Sekunde auf die andere erstarrt. Ihr blieb die Luft weg und sie fiel zu Boden.
Hinter sich sah sie einen spitzen Nagel aus den Holzbrettern hervorstehen, erleuchtet durch das rote Licht über der Tür vor ihr. Dunkelrotes Blut tropfte am rostigen Stahl hinab. Sie wollte einen Schmerzensschrei hervorstoßen, wollte fluchen, irgendwas, aber sie konnte nicht einmal mehr einatmen. Sie wandte sich um. Vor ihr lag eine schwere Stahltür. Auf die Front waren Buchstaben gemalt, rot wie das Blut am Nagel hinter ihr.
"Pech gehabt", las es.
Saffi riss an der Türklinke, doch das schwere Stahlkonstrukt bewegte sich keinen Millimeter. Tränen begannen, ihr Gesicht herabzuströmen, aber sie versuchte, sich wieder aufzurichten. Sie merkte, wie der Schmerz in ihrem Fuß tauber wurde, wie ihr Herz zu rasen begann, wie ihr schlecht wurde. Sie rannte zurück durch den finsteren Gang, weiter und weiter, wie eine Maschine. Tränen benetzten ihre Augen und ihre Sicht wurde schlechter, als sie endlich die Tür zum roten Raum wiederfand. So schnell ihre Füße es ihr erlaubten trat sie ein und schaute zum Timer.
2:51.58
Für eine Sekunde verlor sie sich im Gedanken, wie nur zwei Minuten vergangen sein konnten, in einem Sprint, der ihr wie eine Stunde vorkam. Aber sie hatte keine Zeit zu verlieren. Wie aus Reflex wandte sie sich nach rechts, wo eine weitere Tür verschlossen lag. Sie zögerte nicht und riss sie auf. Diesmal blickte sie nicht zurück sondern rannte direkt in die Finsternis hinein. Sie merkte nicht einmal mehr den Schmerz in ihrem durchbohrten Fuß, oder die dutzenden Splitter, die sich mittlerweile in ihre Fußsohlen gebohrt haben müssen. Sie rannte einfach.
Schließlich tauchte wieder ein rotes Licht am Ende des Korridors auf. Sie wurde langsamer. Jetzt, da sie wieder sehen konnte, achtete sie auf den Boden vor sich. Keine Nägel oder andere Fallen waren zu sehen. Sie trat an die Tür heran. Wieder war ein blutiger Schriftzug über die stählerne Front gezogen.
"Kälter"
Sie griff frustriert an die Türklinke, versuchte, sie aufzureißen. In ihrem Schock dauerte es zu lange, bis sie erschrocken die Hand zurückzog. Die Türklinke war glühend heiß. So heiß, dass der Stahl bei genauem Betrachten schon einen leicht orangefarbenen Schimmer hatte. Binnen Sekunden fühlte sich ihr ganzer Arm verbrannt an, dann ihre ganze Seite. Sie schaute auf ihre Handflächen. Die oberen Hautschichten waren komplett verkohlt abgeblättert, sodass das darunterliegende Fleisch sichtbar war. Tränen rollten ihre Wangen hinab und tropfte auf ihre Hand. Der Schmerz spannte erneut alle Muskeln ihres Körpers an. Aber sie musste hier raus, und es gab nur noch eine Option.
Sie rannte wieder den Gang zurück, dem roten Raum entgegen, getrieben von nichts außer reinem Überlebensinstinkt. Im Vorbeirennen warf sie einen kurzen Blick auf den Timer.
0:58.01
Sie hatte keine Zeit, kurz inne zuhalten, nachzudenken oder einfach nur Luft zu holen. Sie musste rennen. Schneller rennen. Ihr Kopf schaltete sich komplett aus, während sie schon beinahe über den Boden schwebte. Sie merkte, wie ihr die Sicht entglitt als endlich das rote Licht am Ende des Korridors sichtbar wurde.
0:10.00
Sie musste sich zusammenreißen. Es war nicht mehr weit. Sie konnte jetzt nicht aufgeben.
0:09.00
Sie kniff die Augen zusammen und riss sie wieder auf, kniff sie wieder zusammen und riss sie wieder auf, in der Hoffnung, es würde sie wach halten.
0:08.00
Langsam konnte sie die groben Umrisse einer Tür am Ende erkennen.
0:07.00
Sie erlaubte sich einen tiefen, erzwungenen Luftzug, nur, um nicht sofort in Ohnmacht zu fallen.
0:06.00
Auf der Tür war kein großer Schriftzug zu sehen. Das musste der richtige Gang sein.
0:05.00
Sie konnte die Tür nun genau erkennen, sie war nur noch wenige Meter von ihr entfernt.
0:04.00
Sie blieb vor der Tür stehen und Griff nach der Klinke.
0:03.00
Sie drückte die Türklinke nach unten. Sie ließ sich betätigen, und ein mechanisches Klicken war aus dem inneren der Tür zu hören. Sie zog an der Tür, doch sie bewegte sich keinen Millimeter.
0:02.00
Ein Bluttropfen fiel ihr auf den Kopf. Sie schaute nach oben.
0:01.00
Über ihr war ein roter Schriftzug zu sehen.
"Falsche Tür"
0:00.00