Zum Input dieses Monats:
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Es war einmal ein junger Kater. Sein Fell war getigert in einem dunklen Braunton, unterbrochen von einem verzweigten, schwarzen Muster, und auf der stolz geschwellten Brust prangte ein eleganter weißer Fleck in der Form eines Tropfens. Außerdem hatte sich unter seine Vorfahren wohl einmal eine Wildkatze geschlichen, denn davon zeugten seine Reißzähne, die etwas größer waren als bei einer gewöhnlichen Hauskatze. Die Zweibeiner in seinem Zuhause nannten ihn Rakan, den Charmeur, doch in den Katzenrevieren trug er viele unterschiedliche Namen.
Rakan hatte eine Freundin. Es war eine nachtschwarze Katze, deren seidiges, mittellanges Fell im richtigen Lichtschein einen beinahe violetten Schimmer annahm. Aus ihrem zierlichen Gesicht blickte ein klares, gelb leuchtendes Augenpaar in die Welt hinaus, das ihm immer wieder den Kopf verdrehte, und kein einziges helles Härchen zierte ihr schattenhaftes Antlitz.
Die hübsche Kätzin wohnte ein paar Häuser von Rakans Heim entfernt. So oft es ihnen möglich war, traf sich das Katzenpärchen und sie streiften gemeinsam durch die weitläufigen Gärten, jagten Mäuse oder Vögel, wobei sie als Team außerordentlich erfolgreich waren, oder räkelten sich einfach nur in der Erde und ließen sich aneinander gekuschelt die Sonne auf den Pelz scheinen.
Eines Tages, es war ein lauer Frühlingsmorgen, sprang Rakan voller Vorfreude hinaus in den Garten. Die schwarze Kätzin, die von ihren Zweibeinern Xayah genannt wurde, die Rebellin, hatte ihm an diesem Tag einen besonderen Ausflug versprochen und der Tiger konnte es kaum erwarten, was sie ihm wohl zeigen würde. Nach mehreren grauen und verregneten Tagen freute er sich nun unbändig darauf, sie wieder zu sehen. Als er zu ihrem üblichen Treffpunkt streifte, glitzerte noch der Tau auf den hellgrünen Blättern und zarten Knospen, der in winzigen Tropfen an seinem weichen Fell abperlte.
Als Rakan bei dem alten Apfelbaum ankam, auf dessen Ästen sie oft gemeinsam herumkletterten und der ihnen im Sommer wertvollen Schatten spendete, war Xayah noch nicht da. Also ließ sich der Kater auf einem kühlen Erdflecken nieder und seine giftgrünen Augen glitten aufmerksam über seine Umgebung. Kein raschelndes Blatt und kein Insekt entging ihm, als er wartete. Er wartete und wartete und drehte dabei hin und wieder eine Runde durch den Obstgarten. Schließlich kletterte er auf einen dicken Ast, um einen besseren Überblick über den Garten zu haben. Vögel hüpften durch das niedrige Gras, immer auf der Suche nach den Insekten, die sich im lockeren Erdboden tummelten, um sie an ihre Jungen zu verfüttern, doch heute interessierte sich der Jäger nicht für diese leichte Beute. Während er wartete, unterbrach er die aufmerksame Wache nur durch durch etwas halbherzige Fellpflege. Die Sonne begann schon wieder, sich zu neigen, doch von Xayah war weit und breit keine Spur zu sehen. Schließlich verschwanden die wärmenden Strahlen hinter den umliegenden Häusern und Rakan beschloss, dass es nun wohl vergebens war. Er schärfte ein letztes Mal seine Krallen an der rauen Rinde des Apfelbaumes und machte sich traurig auf zu seiner üblichen Abendrunde.
Die Nacht verbrachte Rakan im Haus bei seinen Zweibeinern, doch er schlief wenig. Meistens verschlossen sie die Katzenklappe, wenn sie selbst ins Bett gingen, und so blieb dem gutmütigen Kater nichts weiter, als am Fenster zu sitzen und sehnsüchtig in den Garten zu starren, der vom Mond in ein fahles Licht getaucht wurde. Als er am nächsten Morgen, wie schon am Abend zuvor, nur wenige Bissen fraß, wurde er mit sorgenvollen Minen gestreichelt, doch so sehr er die Zärtlichkeiten seiner Zweibeiner sonst genoss, wandte er sich nun nur voller Hoffnung nach draußen. Vielleicht war sie ja gestern nur verhindert gewesen.
Als er an diesem Tag ihren gemeinsamen Treffpunkt erreichte, erwartete ihn nur ein Eichhörnchen, das geschwind im Gipfel des knorrigen Apfelbaumes verschwand, als es den herannahenden Tigerkater erblickte. Von der schwarzen Kätzin allerdings war noch immer keine Spur zu sehen. Rakan machte sich inzwischen große Sorgen. Xayah war zwar im Allgemeinen sehr scheu, doch leider auch unglaublich neugierig. Wenn sie sich etwas in ihr Köpfchen gesetzt hatte, vergaß sie gerne einmal die Vorsicht und dann war es beinahe unmöglich, ihre Sturheit zu durchbrechen. Allzu oft war es an ihm, ihre Neugier und ihren ungebändigten Entdeckungsdrang zu zügeln, um sie vor gefährlichen Situationen zu schützen. Was, wenn sie ohne ihn in ein Schlamassel geraten war?
Als die Sonne wiederum begann, sich zu senken, und der Schatten des alten Baumes immer länger wurde, hielt es Rakan nicht länger aus. Normalerweise hielten sie einen gewissen Abstand vor dem Zuhause des jeweils Anderen, denn die Zweibeiner sahen es nicht gern, wenn die Katzen «fremde» Häuser betraten und verscheuchten sie in diesen Fällen zumeist mit lauten Rufen. Doch das kümmerte den Kater an diesem späten Nachmittag nicht, als er den Zaun zu Xayahs Grundstück mit geschickten Sprüngen überwand. Die Sorgen um seine Freundin waren zu groß.
Die gläserne Tür, die vom Haus hinaus in den Garten führte, stand weit offen. Auf leisen Pfoten schlich Rakan durch den Garten. Als er die Terrassentür erreichte, blickte er scheu hinein. Drinnen, nur wenige Schritte von ihm entfernt, stand ein Zweibeiner, in dessen Gesicht sich bei seinem Anblick Erstaunen abzeichnete. Rakan wollte gerade die Flucht ergreifen, als er bemerkte, dass der Zweibeiner nicht etwa auf ihn zulief, sondern sich an Ort und Stelle hinhockte und ihm freundlich zuzwinkerte.
«Rakan!», säuselte er mit weicher Stimme, «bist du hier, um Xayah zu besuchen?»
Der Kater vermochte die Worte nicht zu verstehen, doch der Tonfall verriet ihm, dass es der Zweibeiner nicht böse meinte.
«Hey, du brauchst keine Angst zu haben», sprach der Zweibeiner weiter auf ihn ein und schnalzte aufmunternd mit der Zunge, «komm nur herein. Du darfst herein kommen, dir passiert nichts.»
Rakan blickte ihn skeptisch an. Die lockenden Gesten kannte er von seinen eigenen Zweibeinern, doch von Fremden hielt er in der Regel einen respektvollen Abstand. Andererseits war dies hier Xayahs Zuhause, was konnte ihm hier schon passieren? Jetzt wegzulaufen käme einem Verrat gleich. Was, wenn der schwarzen Kätzin etwas zugestoßen war?
Nach einigen Momenten, in denen sich keiner der beiden rührte, nahm der Tiger all seinen Mut zusammen. Mit zögerlichen Schritten setzte er seine Pfoten über die Türschwelle und erstarrte, als der Zweibeiner sich seinerseits erhob. Doch dieser lief mit langsamen Bewegungen auf eine Tür hinter ihm zu und machte dabei weiterhin lockende Geräusche. Rakan spannte seine Muskeln an und atmete noch einmal tief durch, dann folgte er ihm vorsichtig ins Haus.
Der Weg war nicht weit. Sie durchquerten einen fensterlosen Raum, dann öffnete der Zweibeiner eine weitere Zimmertür und trat hindurch. Die Neugier des Katers wuchs, als er ebenfalls auf die nun geöffnete Tür zusteuerte, aus der heraus seine empfindlichen Ohren ein leises Miauen vernahmen.
Rakan mochte seinen Augen nicht trauen. In einer mit weichen Decken gepolsterten Kiste lag seine Xayah und blinzelte ihm zufrieden zu. Dann wanderte sein Blick zu den winzigen Körpern, die neben ihr herumtapsten. Ungläubig trat er näher, sodass die Kätzin ihn mit ihrer dunklen Nase aufmunternd anstupsen konnte, dann packte sie eines der Kleinen am Genick und setzte es behutsam vor den Kater an den Rand der Box. Augen und Ohren des kleinen Dings waren noch verschlossen, doch auf dem dünnen Fell, unter dem die zarte, rosa Haut durchschimmerte, zeichnete sich bereits ein charakteristisches Tigermuster ab. Das Kleine fiepte unsicher und Rakan erfüllte ein warmes Gefühl des Glücks, als er seiner Freundin zärtlich über den schwarz glänzenden Kopf leckte.