Zum Input dieses Monats:
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Das schrille Geräusch der Klingel holt meine Gedanken zurück in die Gegenwart. Ich reiße mich zusammen und laufe in freudiger Erwartung zur Tür. Unsere Gespräche vor und nach dem gemeinsamen Kinobesuch am vergangenen Wochenende waren so unglaublich intensiv gewesen, und trotzdem habe ich so wenig über sie erfahren. Sie heißt Jocey, zumindest hatte sie sich so vorgestellt. Ein seltener Name, wenn ich so darüber nachdenke. Mediendesignerin von Beruf. Das ist eigentlich alles, ich weiß nicht einmal ihren Familiennamen oder ihr Alter. Ich dagegen habe geredet wie ein Wasserfall. Das ist eigentlich überhaupt nicht meine Art. Aber sie strahlt eine Aura aus, in der ich mich sofort wohlgefühlt habe, schon damals auf dem Flohmarkt. Als wir bereits am Zusammenräumen waren, sprach sie mich auf die historische Ausgabe von Mary Shelleys “Frankenstein; or, The Modern Prometheus” an, die ich just in diesem Augenblick in der Hand hielt. Das Buch war abgegriffen und hatte einige lose Seiten, weshalb der Flohmarkt meine letzte Hoffnung war, noch etwas Geld herausschlagen zu können. So kamen wir ein wenig ins Gespräch über Literatur im Allgemeinen und Shelleys Erzählung im Besonderen. Jocey verfolgte wirklich interessante Interpretationsansätze rund um Frankensteins Monster und so tauschten wir schließlich unsere Nummern aus, um das Gespräch zu einem passenderen Zeitpunkt fortzuführen.
Da es Jocey bei unserem letzten Treffen allerdings nicht so gut ging, fand es nach dem Kinofilm ein jähes Ende. Umso mehr freue ich mich nun, endlich auch etwas über diese faszinierende Frau zu erfahren. Als meine Finger die Türklinke berühren, wird mir bewusst, dass die Handfläche vor Nervosität ganz feucht ist. Fluchend streife ich sie notdürftig an meiner Jeanshose ab, bevor ich die Wohnungstür endlich aufreiße.
Die eisblauen Augen, die mich auf der anderen Seite der Türe erwarten, habe ich noch nie gesehen. Irritiert klappe ich meinen Mund auf und wieder zu, ohne ein Wort gesagt zu haben, denn die unangenehme Überraschung hat mir die Sprache verschlagen. Tonlos mustere ich das kantige Gesicht, dessen Wangen von einem blonden Fünftagebart bedeckt sind. Es können nur Sekunden vergangen sein, als sich die Mundwinkel meines Gegenübers zu einem wissenden Grinsen verziehen. Dann gehe ich von einem dumpfen Schlag getroffen zu Boden.
Als meine Umgebung langsam wieder bis zu meinem Bewusstsein dringt, wird alles von dem Pochen in meiner Stirn überdeckt. Mein Mund ist staubtrocken und meine Zunge klebt am Gaumen. Ein leises Stöhnen entfährt mir, als ich versuche, mich zu regen. Träge will ich mir übers Gesicht fahren, doch kann ich meine Hände nicht bewegen. Die Erkenntnis verleiht mir einen Adrenalinschub, sodass ich entsetzt die Augen aufschlage.
Verwirrt blicke ich um mich und stelle fest, dass ich mich in meinem Wohnzimmer befinde. Genauer gesagt sitze ich auf einem Küchenstuhl, der mitten im Raum platziert wurde. Meine Hände sind offenbar an die Rückenlehne gefesselt und meine Füße an die Stuhlbeine. Ich bin absolut unfähig, mich zu bewegen.
Leise kriecht mir die Panik in den Nacken. Was geht hier nur vor? Meine Gedanken sind noch immer vernebelt und ich versuche vergeblich, sie zu ordnen. Was ist nur passiert? Ein leises Klirren lässt mich innerlich zusammenzucken. Im nächsten Moment tritt der fremde Mann aus meiner Küche und setzt sich lässig auf mein Sofa.
Tausend Fragen schießen mir durch den Kopf. Was soll das alles? Ein Überfall in meiner eigenen Wohnung? Was will dieser Typ von mir? Lösegeld? Weder mich noch meine Familie könnte man auch nur ansatzweise als wohlhabend bezeichnen. Aber was sonst? Noch immer scheine meine Zunge wie gelähmt. Verzweifelt versuche ich, Worte zu formulieren, doch bringe nur ein unverständliches Stottern zustande.
“Na, endlich wieder da?”, schmunzelt der Fremde, doch seine Augen starren mich bitterernst an. “Sei am besten still, mach keinen Ärger und dir wird auch nichts passieren. Das hier geht nicht um dich. Wenn du keine Probleme machst, bin ich hier schneller wieder weg, als du dich überhaupt an mich erinnern kannst.”
“Was…” Endlich will mir meine Stimme gehorchen. “Was zur Hölle willst du von mir? Wer bist du?” Meine eigenen Worte klingen schrill und erscheinen mir selbst fremd.
“Wie gesagt. Es geht nicht um dich. Aber du bist da in etwas hineingeraten, von dem du besser die Finger hättest lassen sollen. Mehr musst du nicht wissen.” Seine Finger streichen beinahe zärtlich über ein gewaltiges Messer, das mir bis jetzt überhaupt nicht aufgefallen ist, obwohl es direkt neben ihm liegt. Die Klinge ist bestimmt so lang wie mein Unterarm. Was ich noch hätte sagen wollen, bleibt mir im Hals stecken.
Es können nur Minuten vergangen sein, in denen ich tonlos um meine Fassung ringe. Plötzlich fährt mir das schrille Klingeln der Haustür durch Mark und Bein. Jocey! Die Erkenntnis trifft mich wie ein Schlag in die Magengrube. Ich ringe um Luft und versuche zu schreien, um sie zu warnen.
Das Gefühl eiskalten Metalls an meinem Hals erstickt den Ton lässt mich jäh erstarren. “Keinen Mucks. Oder wir werden hier doch noch ein Problem bekommen”, zischt es neben meinem Ohr. Dann höre ich, wie sich die Schritte hinter meinem Rücken Richtung Wohnungstür entfernen.
Obwohl ich meinen Kopf so weit zur Seite drehe wie möglich, kann ich nicht sehen, was dort hinter mir passiert. Ich vernehme nur ein leises Flüstern, dann fällt die Türe ins Schloss. Wieder nähern sich Schritte. Im Augenwinkel erkenne ich Jocey, die mit versteinerter Mine vor meinem Kidnapper herläuft. Als unsere Blicke sich kreuzen, zucken ihre Mundwinkel kaum merklich. Auf ein Kopfnicken des Mannes hin stellt sie sich mit dem Rücken zu uns vor das Bücherregal, die Hände hinter dem Kopf.
“Sie hier reinzuziehen ist das Allerletzte”, faucht sie ihn an. “Sie hat nichts damit zu tun. Sie weiß von nichts. Lass sie gehen.”
“Die Kleine geht erst, wenn wir hier fertig sind.” Seine tiefe Stimme jagt mir erneut Schauer über den Rücken. Ich hole Luft und will zu Reden ansetzen, doch sein scharfer Blick lässt mich verstummen. “Dachtest du etwa, du könntest mir auf de Nase herumtanzen?”, fährt er an Jocey gewandt fort. In seiner Stimme liegt eine unheimliche Ruhe.
“Na komm. Du hast mich. Lass mich deine Klinge spüren, das ist es doch, was du willst. Ich werde mich nicht wehren, wenn du sie dafür in Ruhe lässt.” In Joceys Worten schwingt ein beinahe flehender Unterton mit. “Lass. Sie. Gehen.”
Die Mundwinkel des Mannes verziehen sich zu einem fratzenhaften Lächeln. “So ist das also. Liegt dir etwa tatsächlich was an ihr? Kannst du überhaupt etwas fühlen?”
Joceys Kehle entfährt ein Knurren, das mir die Haare aufstellt. Ohne ihre Füße zu bewegen dreht sie langsam ihren Oberkörper und funkelt den bewaffneten Mann mit ihren fast schwarzen Augen an. Ihre Mimik ist nicht länger ausdruckslos. Es spiegeln sich Wut und Hass darin, vielleicht auch ein Funken Verzweiflung.
“Ich habe dich also erwischt.” Die Stimme des Mannes klingt nun eindeutig triumphierend. Einen Augenblick lang scheint er nachzudenken, dann nähert er sich wieder mir. “Vielleicht steckt die Kleine doch schon weiter drin, als ich angenommen habe.” Mit diesen Worten fahren seine Finger an meiner Kehle entlang und greifen mir grob in die Haare.
Die Berührung reißt mich aus meiner Schockstarre. “Lass deine Drecksfinger von mir!”, brülle ich ihn an, während ich meinen Kopf heftig zur Seite werfe.
Die ruckartige Bewegung war zu viel für den einfachen Küchenstuhl. Wie in Zeitlupe sehe ich den Boden auf mich zu rasen, bevor mein Körper unsanft aufprallt. Zum Glück stehe ich auf diese hässlichen alten Teppiche, schießt mir es durch den Kopf, als ich Fusseln ausspucke.
Ich sehe die Füße meines Bedrohers rückwärts taumeln. In meiner hilflosen Position am Boden wandert mein Blick nach oben, wo Jocey den Mann offenbar von hinten angesprungen hatte. Ihre Arme umklammern seinen Nacken, während er mit seinem Messer fahrig nach hinten sticht. Er muss Jocey getroffen haben, denn mit einem kurzen Aufschrei lässt sie den Klammergriff los und weicht einige Schritte zurück. Einen Atemzug lang stehen sich beide Kontrahenten stumm gegenüber, dann macht die junge Frau einen Satz nach vorn. Mit einer fließenden Bewegung weicht sie der Klinge aus, fängt den bewaffneten Arm ab und verpasst ihrem Widersacher einen Tritt gegen das Knie. Ein unschönes Knacken ist zu hören und er gerät ins Taumeln. Ein weiteres Mal holt der Mann mit seiner Klinge aus, doch wieder gleitet Jocey geschmeidig unter dem Hieb hindurch und verpasst ihm einen Tritt in die Seite, sodass er strauchelt. Diesen Moment nutzt die Frau, um sich mit einer leichten Drehung hinter ihren Gegner zu manövrieren. Ihre rechte Hand krallt sich in sein Kiefer. In diesem Augenblick ist mir klar, dass es vorbei ist.
Das Geräusch der brechenden Halswirbel fährt mir durch Mark und Bein. Der Körper des Mannes fällt schwer zu Boden. Die Klinge gleitet aus seinen leblosen Fingern und schlittert nur wenige Zentimeter vor mein Gesicht. Es ist das letzte, was ich sehe, bevor mir erneut schwarz vor Augen wird.
Als ich diesmal wieder zu mir komme, blicke ich auf die Rückenlehne meines Sofas. Ich kann nicht sagen, wie viel Zeit vergangen ist. Das Pochen in meinem Kopf lähmt meine Gedanken und mein Blick ist verschwommen. Träge drehe ich mich um und versuche, mich zu orientieren. Der leblose Körper inmitten von Blutflecken neben dem umgeworfenen Stuhl lässt die Erinnerung auf mich einprasseln. Mit einem Ruck setze ich mich auf. Es war kein Traum. Die Bewegung bringt meine Umgebung ins Wanken. Während ich versuche, mich aufzurichten, stoßen meine Finger auf etwas Hartes. Verwirrt starre ich auf das alte Buch neben mir. Es ist meine historische Ausgabe von “Frankenstein”, die ich Jocey verkauft hatte. Einer Eingebung folgend schlage ich den Einband auf. In hastigen Lettern wurde dort eine Nachricht hinhingekritzelt.
Es tut mir so unendlich Leid.
Ich hätte es niemals zulassen dürfen.
Bitte vergib mir und vergiss mich.
J.