Prompt: Eine neue Chance - Beitrag zur 60min Challenge
Erika zögerte nur kurz, ehe sie die elektrische Türklingel betätigte. Sie hatte sich bereits entschieden.
Es dauerte nicht lange, und das große Tor öffnete sich geräuschlos.
Natürlich! Die Freunde hatten sie schon lange entdeckt. Wofür gab es die Überwachungskamera oben auf der Mauer?
Rasch stieg sie in ihren Golf und fuhr hinein.
Das Gitter verschloss sich geräuschlos.
Dies schreckte sie jedoch nicht. Schließlich war sie nicht das erste Mal hier. Zügig folgte sie dem angelegten Kiesweg, bis sie schließlich vor großen alten Gebäude Halt machte.
Nein, das war nicht richtig. Dies hier war neu, nur auf alt gemacht. Der Architekt hatte sich austoben dürfen. Das Gebäude ähnelte entfernt an ein Schloss, hatte aber auch etwas von einem Herrenhaus.
Unmöglich, es zu beschreiben oder einzuordnen.
Genauso wie seine Bewohner.
Einer von ihnen -Patrick – wartete bereits neben dem Eingang auf sie. Sie konnte ihn in der Dämmerung nicht sonderlich gut erkennen, erkannte ihn aber an seiner Statur.
Sie parkte ihr Auto auf dem vorgesehenen Parkplatz, stieg aus und beeilte sich, zu dem Bruder ihres Freundes zu gelangen.
Wenn Marco denn noch ihr Freund war – sie war sich dessen nicht sicher. Und auch nicht wirklich, ob ihr Plan aufgehen würde.
Aber sie hatte sich bereits entschieden. Es gab keinen Weg zurück.
„Erika?!“ Wie immer umschmeichelte die Stimme des Mannes warm und weich ihren Körper. Etwas, was er mit Marco gemein hatte.
„Grüß dich, Patrick.“
„Du bist also gekommen“, stellte dieser fest und umarmte sie kurz. „Komm doch rein.“
Statt einer direkten Antwort nickte sie und folgte ihn ins Haus.
Innen war alles in ein schummriges, gemütliches Licht getaucht.
Patrick führte sie direkt ins Wohnzimmer, wo bereits alle Beteiligten an der großen ovalen Tafel saßen.
Die Verschwörer, wie die Frau sie in Gedanken nannte.
Erika wäre es lieber gewesen, einfach in die Runde zu grüßen, stattdessen zogen es die anderen jedoch vor, ihr einzeln persönlich die Hand zu geben.
Anne, George, Lukas, Ramon und Carmen – alle waren sie gekommen.
Bald schon würde sie zur Familie gehören.
„Setz dich doch, meine Liebe“, bat Anne mit einem aufmunternden Lächeln.
Sie zwang sich, zurückzulächeln. Auch wenn ihre Entscheidung feststand, so war ihr ein wenig mulmig zumute. Was angesichts des Kommenden durchaus verständlich war.
„Möchtest du etwas trinken?“
Höflich und zuvorkommend wie immer. Erika hatte von ihren Gastgebern aber auch nichts anderes erwartet.
„Ja, gerne. Ein Schnaps wäre nicht schlecht.“
Normalerweise trank sie nicht. Aber es würde helfen, ihren aufgeregten Magen zu beruhigen.
Patrick schlenderte nach rechts zu der eigenen Bar, die gut bestückt war, und kam nach wenigen Minuten mit einer ganzen Flasche und einem kleinen Glas zurück.
Dankbar schenkte sich Erika ein und schluckte den Obstler mit einem Zug hinunter. „Danke!“
Sollte sie sich noch ein Glas genehmigen? Sie war kein Alkoholiker, aber sie hatte einfach Angst.
„Warte!“ George hielt ihren Arm fest und hinderte sie somit daran. „Wir sollten erst nochmals darüber sprechen. Und dafür solltest du noch bei klarem Verstand sein!“
Sie schüttelte energisch den Kopf. „Das brauchen wir nicht! Ich habe mich entschieden!“
„Bist du sicher?!“ Carmen, die trotz ihres Namens strohblond war, musterte sie nachdenklich. „Es gibt kein Zurück. Bist du sicher, dass du es dir gut überlegt hast!“
Erika seufzte. Ihr Magen rebellierte trotz des Alkohols immer noch. „Ja, das habe ich.“
„Das ist keine leichte Sache!“, widersprach Ramon mit kühler Stimme. Wie immer wirkte er etwas steif und es war schwer, seine wirklichen Gedanken zu erraten – von Gefühlen oder dergleichen mal abgesehen. „Du solltest eine solche Bitte nicht leichtsinnig äußern.“
Sie spürte einen Unwillen in sich aufsteigen. Ramon war ihr mit seiner emotionslosen Art schon immer etwas suspekt vorgekommen. Er wirkte auf sie arrogant. Sie wusste, dass Marco große Stücke auf ihn hielt, aber trotzdem.
„Ich weiß, was ich tue“, antwortete sie daher trotziger, als sie es beabsichtigt hatte. „Du kannst mich nicht überreden. Ich bin mir sicher!“
„Ganz ruhig, alles ist in Ordnung!“ Anne spürte offensichtlich ihre Abneigung – war auch keine große Kunst – und bemühte sich, mögliche Differenzen schon im Keim zu ersticken. „Ramon versucht nur, sicher zu gehen. Es gibt kein Weg zurück. Und das weißt du!“
Diesmal hinderte keiner Erika daran, sich erneut ein Glas zu genehmigen. „Alles, was ich will, ist doch nur eine zweite Chance.“
Patrick meldete sich nun wieder zu Wort. „Du weißt, dass mein Bruder damit nicht einverstanden wäre. Wenn wir tun, um was du uns bittest, wird es für uns alle nicht einfach.“
„Ich dachte, ihr wolltet genau das tun – mir helfen? Oder nun doch nicht?“
„Wir halten seinen Entschluss für falsch“, erläuterte Carmen. „Einfach verschwinden, nur weil er keine Zukunft sieht, ist nicht die Lösung. Er hat über deinen Kopf entschieden, und das ist nicht richtig. Aber es wird eine Zeit dauern, bis er es dir – uns – verzeiht.“
Erika vermied es, die anderen direkt anzusehen. So starrte sie auf einen imaginären Punkt auf der Tischplatte, ehe sie stockend erklärte: „Er sagte, er verlasse mich aus Liebe. Damit ich jemanden suchen kann, der auch zu mir passt.“
Nun erhob sie doch den Kopf. Stolz blickte sie den sechs nacheinander in die Augen, ehe sie entschlossen erklärte: „Er hat mich verlassen, weil er anders ist. Er gibt uns keine Chance. Also werde ich dafür sorgen, dass wir eine neue bekommen.“
Lukas nickte. „So ist es entschieden. Wir werden dir den Weg bereiten.“
Die Frau nickte. „Wer…?“
Zu ihrem Schrecken stand ausgerechnet Ramon aus.
Jeder andere wäre ihr lieber gewesen.
„Ramon ist der Erfahrenste von uns“, erklärte Carmen, die fast mitleidig wirkte. „Du bist bei ihm in den besten Händen.“
Erika hütete sich, zu widersprechen. Sie musste dankbar sein, dass Patrick samt Cousins und Frauen ihr halfen. Wählerisch durfte sie das nicht sein.
Davon abgesehen, hatte man ihr von anderer Seite erklärt, dass in der Tat ein Risiko bestand, insbesondere, wenn sich die eine Seite nicht im Griff hatte. Bei Ramon, dem unterkühlten Arschloch, hatte sie so gesehen wohl wirklich die besten Chancen, dass alles glatt lief.
Wie sie mit diesem Kerl zukünftig umgehen sollte, wusste sie noch nicht. Aber sie hatte genug Zeit, einen vernünftigen Weg zu finden.
Seufzend erhob sie sich. Ihre Beine fühlten sich an wie Wackelpudding.
„Keine Sorge! Du bist nicht alleine.“ Carmen war neben sie getreten und nahm sie freundschaftlich in den Arm. „Alles wird gut.“
Erika wusste nicht, was sie darauf antworten sollte, so nickte sie nur.
Würde Marco ihr jemals verzeihen?
Von der ganzen Gruppe begleitet, machte sie sich langsam auf den Weg in den Raum zu ihrer Rechten. Die Türe des Zimmers stand sperrhangelweit auf.
Es war ein geräumiges Schlafzimmer, mit einem großen Doppelbett in der Mitte.
„Es macht Sinn, sich etwas Bequemeres anzuziehen. Wir warten draußen. Oder soll ich helfen?“
Ramon konnte sie mal, und sein spöttisches Lächeln konnte er sich sonst wo hinstecken!!
Mit einer unwilligen Geste winkte sie ihn heraus und schaffte es tatsächlich, den bereitliegenden Jogginganzug ohne große Schwierigkeiten anzuziehen.
Betrachtete man es nüchtern, hatte dieser Kerl recht. Trotzdem konnte sie ihn nicht leiden.
Sie hatte kaum „Ich bin fertig“ gerufen, als der Mann, begleitet von übrigen Trupp, schon wieder im Türrahmen stand.
„Leg dich bitte hin, Liebes!“ Gut, dass Carmen und Anne dabei waren. Weiblicher Beistand würde ihr helfen, die nächsten Stunden zu überstehen, sobald sie wieder bei Bewusstsein war.
Oder Tage.
Monate!
Jahre!...
So lag sie auf der weichen Matratze, schloss die Augen und versuchte, soweit dies möglich war, sich ein wenig zu entspannen.
Ramon hatte sich bereits neben sich gelegt. Sie spürte seine langen Haare auf ihrer Wange, während er überraschend behutsam ihren Kopf nach oben und auf die Seit drehte.
Trotzdem zuckte sie zusammen.
Denn es schmerzte mehr als sie es erwartet hatte, als sich seine spitzen Zähne in ihren Hals bohrten…