„Firlefanz!“ Alle lachten. Dann traten sie einen Schritt zurück und schauten zu, wie der Sarg in das ausgehobene Loch gelassen wurde. Oma hatte es so gewollt. Wenn man sich hier umsah, dann konnte man niemanden sehen, der schwarz trug. Vor allem quietschgelbe Kleider waren zu sehen, mein Bruder trug einen grünen Anzug. Wieso auch immer alle diesen Unsinn mitmachten. Ach ja, es stand in ihrem Nachlass. Es gab gefühlt 10.000 Auflagen, die wir erfüllen mussten, um an das Erbe zu kommen. Vielleicht wurde mir ja der Wasserkocher überlassen? Oder die Kaffeemaschine? Oma hatte mich nie wirklich gemocht. Ich war er zu hochnäsig, zu intelligent für eine Frau. Aber vor allem war ich ihr zu ambitioniert dazu, dieses Mistloch an Kaff für immer zu verlassen, sobald ich mit der Schule fertig war. Tja, hatte ich getan. Und doch war ich heute wieder hier, um bei ihrer Beerdigung dabei zu sein und meine Eltern dabei zu unterstützen, ihr Haus auf Vordermann zu bringen. Das hatten sie natürlich schon lange tun wollen, aber meine Großmutter, wie sie immer hatte genannt werden wollen, hatte sich eine lange Zeit sehr erfolgreich gewehrt. Ihre Bedingung war immer: „Nur über meine Leiche!“.
Naja, das war es ja jetzt auch, also vielleicht schaute sie gerade vom Himmel runter und nippte an ihrem Whiskey, den sie immer in der Hand gehabt hatte, während sie mit der anderen eine Zigarette hielt und schimpfte mit irgendjemandem darüber, wie unglaublich taktlos wir alle doch waren. Ja, ich würde sie vermissen. Die Frau, die mir immer ein schlechtes Gefühl gegeben hatte, immer gesagt hatte, dass alles gar nicht so kommen würde. Und die immer alles als Firlefanz abstempelte. Sie hatte nie etwas wirklich ernst genommen und sie hatte auch nie etwas anderes als ihre Familie gebraucht. Wenn sich diese erweiterte, war sie immer skeptisch gewesen. Das erste was uns Kindern beigebracht wurde war, dass man unserer Großmutter nicht zu nahe kommen sollte, denn im Zweifelsfall würde sie versuchen uns eine Lehre zu erteilen indem sie uns fast mit ihrem Zigarettenrauch erstickte.
„Firlefanz! Vielleicht sollte ich mir das aneignen? Ich meine, jetzt wo der Spruch frei ist?“, schlug mein großer Bruder vor, der sich gerade einen Whiskey geholt hatte.
„Nein, bei dir kommt das nicht so gut rüber wie bei ihr. Das ist ein wenig komisch, wenn du sowas sagst, weil es immer ihr Spruch war, findest du nicht?“
„Nein. Vielleicht hatte sie ja recht, huh? Soll ich mal was in dieses Wort hineininterpretieren, was ich dank meines Philosophiestudiums ja kann?“, wollte er wissen, stieß mich dann mit seinem Ellbogen und gab mir einen Kuss auf die Stirn, bevor wir uns wieder gefangen hatten. Unten aßen alle ganz fröhlich, sie unterhielten sich und lachten, mehr noch als wir es taten. Aber im Grunde waren sie alle nur froh, dass unsere Großmutter tot war. Das Testament würde auch gleich, nach dem Essen noch verlesen werden. Da mein Vater das einzige Kind von ihr gewesen war, welches sie nicht gehasst hatte, waren die Chancen von mir und meinem großen Bruder, etwas zu erben, gar nicht Mal so schlecht. Vielleicht das alte Haus? Das wäre was für mich, da könnte ich sofort einziehen, wenn ich nur ein wenig streiche und mir Öl liefern lasse. Oder einige der Sachen, die sie besaß. Wie gesagt, die Kaffeemaschine. Oder der Trockner? Den könnte ich auch gut gebrauchen!
„Firlefanz, was für ein dummes Wort, oder?“, kam es plötzlich wieder von rechts.
„Du weißt echt nicht, was du empfinden sollst, oder? Deswegen hat Daniela sich auch von dir scheiden lassen!“, schimpfte ich ihn.
„Das stimmt nicht! Sie hat sich von mir scheiden lassen, weil meine Familie die Hölle ist und ich ihr dafür, dass sie es mit euch aushalten müsste, nicht genug Geld verdiene!“
„Du hast Philosophie studiert, was erwartest du? Einen Führungsposten bei thyssenkrupp?“
„Soll ich dir tausende Gründe nennen, warum ich da sowieso nicht hin will?“
„Nein, lass Mal. Ich kanns mir auch so denken!“
„Ist sowieso alles Firlefanz!“
Gerade war ich dabei gewesen, die Treppe nach unten zu gehen und ihn dort oben stehen zu lassen. Aber bei dieser Vorlage?
„Es hört sich immer noch scheiße an, wenn du es sagst!“, schrie ich ihn beinahe an, nahm ihm seinen Whiskey und kippte ihn in einem Zug runter. Ein verschmitztes Lächeln erschien auf seinem Gesicht.
„Ich weiß. Du bist ziemlich cool, kleine Schwester, weißt du das?“
„Hab ich noch nie so gesehen!“
„Du weißt, wie geschmacklos das war, was ihr beide da getan habt, oder?“, wies mein Vater mich zurecht, als ich wieder neben ihm auf meinem Stuhl saß.
„Ich habe keine Ahnung, was du damit meinst aber ich fand es bestimmt sehr unterhaltsam, wenn es für dich geschmacklos war!“, erwiderte ich. Von meiner Mutter bekam ich ein aufmunterndes Lächeln gefolgt von einem Zwinkern zugeworfen. Sie liebte mich, im Gegensatz zu meinem Vater, wirklich sehr. Und meinen Bruder ebenfalls. Wieso auch immer sie das Elternteil war, welches wir lieber mochten, ich konnte es mir gar nicht erklären? Tat sonst auch niemand, war aber so. Die Dame in ihrem wundervollen orangen Kleid mit den künstlichen Federn, die unordentlich an den oberen Rand geklebt waren, war mir tatsächlich ein lieberer Gesprächspartner als der Mann, der seit dreißig Jahren nichts anderes als Anzug in seiner Freizeit getragen hatte. Man hätte ihn mit Mycroft Holmes aus der Serie vergleichen können, wenn man diesen nicht einmal in einem Trainingsanzug durch sein Haus hätte spazieren sehen. Naja, war ja auch egal. Bei meinem Vater konnte man sich sowieso ziemlich sicher sein, dass er nicht einmal wusste, wer Mycroft Holmes überhaupt war. Immerhin war im Literatur, Film und alles andere was auch nur im geringsten mit meinen Interessensgebieten zu tun hatte, absolut nicht das was er mochte. Nein, er verteufelte es mehr noch als Zeitverschwendung, die er nicht gebrauchen konnte. Firlefanz hätte meine Großmutter es genannt. Wenn sie seiner Meinung gewesen wäre. Was sie nicht war. Wenn es um Allgemeinwissen ging, dann war ihr das tatsächlich wichtig. Meine Mutter hatte immer gesagt, deshalb mochten wir beide uns auch so gerne. Aber das hatte ich nie so empfunden. Für mich war sie eine alte Frau gewesen, die mich und ich sie nicht verstanden hatte. Was ja auch an sich kein Problem darstellte, wir lebten in verschiednen Welten und verstanden uns nur, wenn es um Diskussionen ging, die man sonst mit niemandem außer meinem Bruder führen konnte.
„Möchtest du noch ein paar Worte sagen?“, fragte meine Mutter mich. Mein Vater schüttelte nur den Kopf und mein großer Bruder stand hinter mir, die Hand auf meiner Schulter.
„Freut mich, mir in Zukunft mit dir ein Haus teilen zu dürfen!“, erinnerte er mich.
Sie hatte es tatsächlich getan. Ihren einzigen Enkelkindern alles zu hinterlassen, weil sie den Rest der Familie noch weniger leiden konnte als sie es bei uns tat, das war schon ziemlich nach unser aller Geschmack. Vor allem, weil ich dadurch nur Vorteile hatte. Ebenso wie mein Bruder.
„Fährst du gleich bei mir mit?“, schlug er mir vor.
„Klar, wieso nicht?“
„Weißt du, was ich am meisten an ihrer Entscheidung mag?“, wollte er von mir wissen, als wir gemeinsam in seinem Audi saßen, den ich schon immer gehasst hatte. Aber bisher wollte er ihn auch auf mein Drängen hin nicht zum verschrotten geben.
„Nein, ich kann es mir aber eigentlich vorstellen, wenn ich ehrlich sein darf!“
„Ok, dann rate Mal. Ich wette, du schaffst es nicht, den Gegenstand zu erraten!“, wettete er.
„Um nen fünfer. Es ist der Schreibtisch!“
„Na gut, dann kriegst du halt nen Fünfer von mir, wo ist das Problem?“, schimpfte er schon fast. Anscheinend nahm er es nicht so gut auf, dass ich ihn gerade geschlagen hatte.
„Denkst du, wir werden jetzt viel Arbeit damit haben?“ Diesmal war ich diejenige, die die Fragen stellte. Aber das war ja auch ok so, oder etwa nicht? Zumindest Benjamin störte es nicht.
„Nein, das wird schon. Willst du drin wohnen? Du hattest doch Mal was in die Richtung gesagt, oder?“
„Du meinst, als ich ungefähr fünf war und gesagt hab, wie sehr ich ihr Haus doch mag?“, riet ich.
„Ja, wieso nicht? Hat sich das geändert? Oder magst du es gar nicht mehr und bist bereit es mir für immer zu überlassen?“
„Firlefanz! Natürlich mag ich es immer noch! Ich liebe das Haus! Aber es gehört ja auch zur Hälfte dir, also hab ich nicht wirklich die Wahl, wenn du auch drin wohnen willst!“, erinnerte ich ihn.
„Ach was, ich bleib gerne draußen, wenn mein kleines Mädchen dafür einen Platz zum schlafen direkt unter den Sternen hat!“
„Du weißt…“
„Firlefanz Schneeweißchen, halt die Klappe und versuch nicht immer alles besser zu wissen als ich!“, schimpfte er.
Als wir also die Schlüssel in das Schloss steckten und umdrehten, hörte man das Schloss nur unnachgiebig zurückschnappen. Als hätte es jemand angeklebt. Naja, am Ende standen wir also in unserer neuen Küche und schauten auf einen Stapel Zeitungen, einige gedrehte Zigaretten und noch Tabak, der hier rumlag. Zwar verbrachte meine Großmutter kaum mehr Zeit hier, aber ein Mal die Woche hatte sie sich von jemandem hierherfahren lassen, um sich eine Zigarette zu drehen, einen Whiskey zu trinken und sich an den Küchentisch zu setzen, wo sie dann die Zeitung durchblätterte. Mit diesem trinken und rauchen wie ein Schlot hatte sie es immerhin zu dem guten Alter von 93 gebracht und irgendwie hatten alle nur darauf gewartet, dass sie abkratzte. Aber das alles jetzt hier liegen zu sehen, das brachte doch Emotionen hoch.
„Ich werd niemals diesen Tisch wegwerfen können, weißt du das?“ So sanft ich konnte, als würde der massive Eichenholztisch sonst einstürzen, legte ich meine Hand darauf und strich die Fläche entlang. Er hatte viele Kerben und einige kleine Löcher, die auch von uns kamen. Einmal hatte ich ein Buch so hart auf der Oberfläche aufschlagen lassen, dass es einen tiefen Dumpf hinterlassen hatte. Das war aber nie schlimm für unsere Oma gewesen. Der Tisch wäre alt und würde sowieso bald gegen einen neuen ausgetauscht werden, hatte sie dann immer zu meinem Vater gesagt, wenn dieser mich wieder ermahnt hatte. Auch er war ihr nie der liebste gewesen, mit meiner Mutter hatte sie sich hingegen immer wunderbar verstanden. Immerhin hatten beide Frauen gemeinsame Leidenschaften. Uns.
„Ja, es wäre schwer. Wir wollen das doch gar nicht, oder? Willst du auch nur ein einziges Stück hier wegwerfen oder wegbringen? Niemals, oder? Aber Veränderung ist gut für uns!“
Benjamin ließ sich auf einen Stuhl fallen, schnappte sich eine der Zigaretten und ein Feuerzeug mit einer nackten Frau drauf, um sich die Glimmstange anzuzünden.
„Seit wann rauchst du denn wieder? Hast du nicht aufgehört?“
„Firlefanz! Ich rauche schon immer und ich werde auch nicht mehr damit aufhören wollen, wenn man damit über neunzig werden kann!“, erklärte er lachend und hustend gleichzeitig. Das letzte Mal hatte ich ihn eine rauchen gesehen, da waren wir beide noch in der Schule.
„Du bist wirklich unübertrefflich, Benjamin.“
„Kannst du glauben, dass sie jetzt weg ist? Wir werden das niemals mehr hören können, nicht mit dieser Stimme, nicht mit dem Blick, der immer etwas anderes als der Mund gesagt hat. Wie sollen wir das nur aushalten?“
Er sprach mehr zu sich selbst als zu mir, aber das war ihm relativ egal, weil ich ihm sowieso nicht antworten würde.
„Weißt du, ich vermisse sie jetzt schon. Vielleicht hätten wir noch mehr Zeit mit ihr verbringen sollen?“
„Firlefanz, wir haben so viel Zeit mit ihr verbracht, dass ich mich sogar noch an den Geruch ihres Shampoos erinnere!“, erwiderte ich.
„Das ist der Zigarettenrauch, da bin ich mir ziemlich sicher!“ Wir mussten lachen und er reichte mir ein Buch, welches er gerade aus dem Wohnzimmerschrank gezogen hatte.
„Sie ist jetzt schon länger tot, aber weißt du was, es ist, als hätte sich seitdem sie hier ausgezogen ist, nichts verändert!“
„Darf ich dich was fragen?“, warf ich plötzlich ein.
„Klar, frag was immer du willst!“, gestand er mir zu.
„Wusstest du, dass sie das tun würde? Uns das ganze Zeug zu hinterlassen? Weil du es ja anscheinend einfach so hinnehmen kannst?“
„Wieso nicht? Wem hätte sie sonst alles hinterlassen sollen? Unserem Vater? Der Mann, der wirklich denkt, dass ´Firlefanz´ für etwas steht, was ihr unwichtig ist? Oder ihren Brüdern, vielleicht deren Kindern? Die sie niemals besucht haben? Wir waren gute Enkelkinder! Und sie hat uns mehr geliebt als die ganze restliche Familie!“, erklärte er.
„Woher willst du das wissen?“
„Ich weiß es einfach. Sie hat sich so viel Mühe mit uns gegeben und uns immer bei allem unterstützt. Wir waren das, was sie sich von ihren Nachkommen erhofft hat. Und sie war so stolz auf dich, weißt du das?“
„Für was steht ´Firlefanz´, wenn nicht für das, was es heißen sollte?“
„Es hat keine Bedeutung, weißt du? Sie hat es einfach benutzt, wenn sie nicht über ein bestimmtes Thema sprechen wollte und eigentlich haben das auch immer alle akzeptiert. Aber sie hat sich auf jeden Fall mehr für das alles interessiert, als wir immer gedacht haben!“
„Also war Firlefanz immer genau das Gegenteil?“
„Nein, sie hat es einfach gerne benutzt!“
Er zwinkerte mir zu und als ich auf das Buch schaute sah ich, dass ich wirklich eine Abhandlung über Vogelarten war, die man bei uns finden konnte. Was war nur mit diesen Menschen los?
„Firlefanz! Firlefanz! Firlefanz!“, warf Benjamin mit Wörtern um sich, während er die Arme in die Luft streckte. Kopfschüttelnd folgte ihm ihm nach draußen auf den Balkon.
„Das wirkt jetzt wie aus einem schlechten Roman!“, schrie ich ihm nach, als er nach unten ging um dort weiter seine Wörter vor sich hinzubrüllen. Was für ein Idiot.