„Wie sehe ich aus?“, fragte Naomi, während sie sich vor dem großen Spiegel von Seite zu Seite drehte, um ein möglichst vollständiges Bild von sich selbst zu erhalten. Damian, der mit steinerner Miene und vor den Brust verschränkten Armen im Türrahmen ihres Zimmers wartete, zuckte nur mit den Schultern. „Wie sonst auch?“
Naomi schnaubte kurz und ließ ihre Augen rollen. Es war leise und heimlich genug, dass er es nicht hätte hören oder sehen können, doch Damian hatte gute Ohren und sie stand vor einem Spiegel.
„Ja, hübsch“, murmelte er schließlich und straffte kurz die Schultern, nur um sich gleich wieder gegen den Türrahmen zu lehnen.
„Danke“, murmelte Naomi leicht verlegen und drehte sich noch ein letztes Mal von Seite zu Seite. Seit sie dieses Kleid das letzte Mal getragen hatte, hatte sie deutlich abgenommen. Das viele Training der letzten Wochen hatte sich ausgezahlt. Und das obwohl sie sich selbst am Anfang noch dafür verflucht hatte, Rove nach ein paar gemeinsamen Übungsstunden gefragt zu haben. Seither hatte sie ihr keine Ruhe mehr gelassen und alles gefordert, was Naomis ungenutzte Muskulatur zu bieten hatte. Nun war sie nicht nur deutlich beweglicher und wusste, wie sie sich verteidigen konnte, auch die deutliche Wohlstandswampe war beinahe vollständig verschwunden. Wie sie sich anfangs noch geschämt hatte, neben der durchtrainierten, schlanken, schönen Frau zu stehen, spürte sie nun ein zufriedenes Kribbeln in ihrem Bauch, den sie nun nicht mehr einziehen musste. Nun gut, vielleicht noch ein bisschen.
Auch ihr Gesicht hatte deutlich an Masse verloren. Wie es vorher noch rund und voll gewirkt hatte, traten nun ihre Wangenknochen deutlicher hervor. Ihre Augen wirkten offener und noch größer, als sie ohnehin schon waren. Selbst an Hals und Schlüsselbein war der Fülleverlust zu erkennen und ihre Oberarme winkten nicht mehr zurück, wenn sie sie schüttelte.
„Hast du’s dann bald?“, riss Damians entnervte Stimme sie aus ihren Gedanken. Wortlos nahm sie die Arme nach unten und begann, nervös an ihrem Kleid zu zupfen. Wieso machte sie sich nur so viele Gedanken? Sie sah gut aus. Sie war wirklich hübsch. Auch vor dem Training. Wirklich dick war sie ja nicht gewesen, aber eben auch nicht ganz schlank. Ihre Form hatte sie nie gestört und im Grunde war diese es auch nicht, weshalb sie Rove um das Training gebeten hatte. Doch sie mochten den Effekt, den es auf ihren Körper hatte.
Schon wieder! Naomi kniff ihre Augen zusammen und schüttelte ihren Kopf. War sie denn so nervös, dass sie sich selbst in Frage stellte? War das normal, wenn man sich verliebt hatte?
War die denn verliebt?
Sie hörte Damian seufzen und sah ihm Spiegel, wie er leise näher trat.
„Ist dieser Typ den ganzen Aufwand überhaupt wert?“, wollte er mit hochgezogenen Brauen in dem sonst reglosen Gesicht wissen.
Ein Schulterzucken war die einzige Antwort. Woher sollte sie das auch wissen? Sie kannte diesen Typen doch noch gar nicht. Nicht richtig, zumindest.
Wir kennen uns kaum, rief sie sich in Gedanken um die Unruhe zu vertreiben. Wieso sollte sie sich so viele Gedanken um jemanden machen, den sie noch gar nicht kannte? Und der sie noch gar nicht kannte?
Aber er hat mir eine Überraschung versprochen. Dieser Gedanke brachte ihr Herz zum Flattern. Es klang nach etwas, für dass er sich Mühe geben würde. Oder gegeben hatte. Nach etwas, worüber er sich Gedanken gemacht hatte. Und das gefiel ihr, irgendwie.
In Gedanken ging sie noch einmal ihre bisherigen, wenigen Begegnungen durch.
Ihr erstes Treffen war nur vor wenigen Wochen gewesen. Sie hatte zusammen mit einigen Freunden einen der begehrten Stände des jährlichen Hallenflohmarkts ergattert und war gerade dabei gewesen, nach Ende der Veranstaltung den übrigen Krempel wieder zu verstauen, als er sie angesprochen hatte. Er hatte sich für das Buch interessiert, dass sie in diesem Moment in den Händen gehalten hatte.
Dass so spät noch jemand gekommen war, wo doch klar ersichtlich war, dass die Stände bereits abgebaut wurden, hatte sie damals gewundert. Und ein bisschen verärgert. Sie war nach dem Tag müde gewesen und wollte nach Hause. Da kam er wie einer dieser Kunden aus ihrer Buchhandlung, in der letzten Minute vor ihrem Feierabend in den Laden gestapft um zu stöbern… Glücklicherweise waren sie sich schnell einig geworden.
Das Gespräch war sogar so angenehm verlaufen, dass sie ihm ihre Handynummer gegeben hatte.
Vergangenes Wochenende waren sie abends zusammen im Kino gewesen und hatten anschließend noch im angrenzenden Lokal gegessen. Er hatte wohl an einer Magenverstimmung gelitten, wie er ihr entschuldigend erklärt hatte. Daher war es bei ihm nur bei einem stillen Wasser geblieben und sie hatten sich bald voneinander verabschiedet.
Ob er ihr diesmal mehr erzählen würde?
Während sie so darüber nachdachte, läutete es an der Tür.
Oh nein! Ihr Herz begann mit einem Mal so heftig zu schlagen, dass sie es in ihrer Kehle spüren konnte. Hektisch warf sie noch einmal einen Blick in ihren Spiegel. Würde sie sich so vor ihm zeigen können?
Was machte sie sich solche Sorgen um ihr Äußeres? Ein ganz anderer Gedanke drängte sich mit ihrem schnellen Herzschlag hinauf. Seit allem, was im letzten Jahr passiert gewesen war, war das hier die erste ‚normale‘ Situation in ihren Leben. Ein Date mit einem Menschen, der nichts von der Welt wusste, in die sie selbst hineingeschleudert worden war. War sie überhaupt in der Lage, sich der absurden Normalität zu stellen, in der er lebte?
„Naomi, dein Gast.“
Sie stand immer noch wie angewurzelt vor dem Spiegel in ihrem Zimmer, als sie durch diesen Damian und ihren Gast erkannte. Mit vor Schreck geweiteten Augen drehte sie sich zu den beiden um. Fassungslos blieb ihr Blick auf Damian hängen, bis er energisch auf den jungen Mann zu seiner Seite nickte und sie langsam verstand, dass sie reagieren sollte.
„Marlin… hallo…“ Sie fasste sich kurz an die Stirn und trat einige Schritte auf ihren Gast zu, der ebenfalls etwas verunsichert wirkte. Er sah immer wieder zwischen ihr und Damian, der ihn um fast zwei Köpfe überragte, hin und her. Als sie sich ihm näherte, schien er sich zu entspannen und setzte ein Lächeln auf. „Hallo Naomi. Er… ähm…“, er deutete auf Damian „hat mich reingelassen und hierher gebracht. Ich kann aber draußen warten, wenn du noch nicht fertig bist.“
„Nein, nein, alles gut. Tut mir leid. Ich bin nur… nervös.“ Mit einem kurzen Lachen versuche sie besagte Nervosität zu überspielen. „Wollen wir gehen … oder was hast du vor?“
„Oh. Ja. Wenn du fertig bist, können wir gehen“, antwortete er mit einem weiteren Blick auf Damian und trat aus der Tür heraus, so dass Naomi ihm folgen konnte.
„Dieser Typ, der mich in deine Wohnung gelassen hatte… war das ein Freund von dir?“, fragte Marlin, während sie gemeinsam die Straße entlang liefen.
„Nein, nein“, antwortete Naomi lachend. „Er ist mein… Bruder.“ Irgendwie… passend.
„Wirklich? Ihr sehr euch überhaupt nicht ähnlich.“
„Findest du?“, fragte Naomi und hoffte, dass ihre hektische Stimme sie nicht schon verraten hatte.
„Naja, eure Hautfarben. Er ist so hell und du so dunkel…“, meinte Marlin verlegen.
„Ach so… ja. Meine Mutter kommt aus dem Süden, mein Vater aber nicht.“
„Ah, verstehe… Ich muss mir also keine Sorgen wegen ihm machen?“
Naomi wandte sich mit großen Augen zu Marlin um. „Sorgen?“ Inwiefern? Was meint er damit? Was kommt jetzt?
„Naja, so von wegen, dass er mich nicht leiden kann, weil ich mich mit seiner Schwester treffe. Dass ich Angst haben muss, von ihm verfolgt zu werden oder so.“
Oh. Haha. Alles gut. „Damian? Nein… er ist harmlos.“ Solange man ihn nicht provoziert.
„Bist du dir sicher?“
„Ja, wieso? Ich weiß, er kann ganz schön einschüchternd wirken, aber…“ Naomi folgte dem deuten seiner Hand hinter sie. Und erblickte Damian unweit von ihnen entfernt, wie er die gleiche Straße entlangging, wie sie. Das konnte doch wohl nicht sein Ernst sein.
Sie wollte schon wütend auf ihn zustampfen, als Marlin sie sanft an ihrem Unterarm zurückhielt.
„Schon in Ordnung. Lass ihn nur“, meinte Marlin mit einem kurzen Lächeln.
„Ich schwöre dir, er meint es nur gut“, stammelte Naomi und warf Damian, der ihnen immer noch folgte, wütende Blicke zu.
„Du kannst dich glücklich schätzen, so einen Bruder zu haben. Immerhin schert er sich um dich.“
Irgendwie klang es süß, wie Marlin das so sagte. Und er hatte Recht, irgendwie. Nur, dass Damian eigentlich gar nicht ihr Bruder war. Naomi schüttelte den Kopf.
„Bist du bereit für die Überraschung?“
„Was? Oh… stimmt, du hattest so etwas erwähnt.“ Das hast du gut gemacht, Naomi. Sehr schön überspielt, dass du dir schon die ganze Zeit den Kopf darüber zerbrochen hast.
Wie sie so nebeneinander hergegangen waren, hatte sie völlig vergessen, wie nervös sie zuvor gewesen war. Es fühlte sich so angenehm an, so natürlich.
„Hier, ich wollte dich einladen. Also, ich weiß nicht, ob man es ‚einladen‘ nennen kann…“, meinte er und steuerte auf eines der Autos zu, das neben dem Park stand, an dem sie gerade vorbei kamen. Er öffnete den Kofferraum und holte einen Korb und eine zusammengerollte Decke heraus. Naomis Augen begannen zu leuchten, bevor er erklären konnte.
„Ich dachte, nachdem unser letztes Essen nicht so gut gelaufen ist…“ Er drückte ihr die Decke in die Hand und nahm den Korb. „Anstatt wieder essen zu gehen, dachte ich, koche ich etwas. Meine Freunde sagen, ich könnte das gut.“
Oh wie süß. Oh wie süß… Oh wie süß! Oh was für ein Glück muss ich haben… ein Picknick, für mich! Am Valentinstag! Dabei kennen wir uns doch kaum…Wie viele Männer gibt es schon, die sich die Mühe machen würden? Ist das nur ein Traum? Bin ich noch in der Realität?
„Ist das… war das keine gute Idee?“, fragte Marlin, die Stirn in breite Sorgenfalten gelegt.
„Was? Nein, das ist sehr schön. Ich freue mich sehr“, antwortete Naomi wahrheitsgemäß.
„Gut“, antwortete Marlin sichtlich erleichtert mit einem kurzen lachen.
„Ich fürchte nur, dass ich zu wenig vorbereitet habe…“, meinte er mit einem kurzen Nicken zu Damian, der sie immer noch aus der Entfernung beobachtete.