Ganz alleine saß er da und schaute auf das Tal hinab. Die Sandalen waren ihm zu klein, sie schnitten ihm in die Füße, denn er hatte sie unten viel zu eng gebunden. Überall lag dicker, weißer Nebel. Nicht nur im Tal, sondern auch auf dem Berg, auf welchem er stand, konnte man kaum die Hand vor Augen sehen. Nur wenige Meter hinter ihm, ein wenig den Abhang hinab, baute sich die weiße Wand bedrohlich hoch auf und drohte jeden zu verschlingen, der es wagte, sie zu betreten. Gerade jetzt saß er hier fest! An dem Tag, an welchem er sich eigentlich hatte gegen seinen Rivalen im Schwertkampf beweisen wollen! Normalerweise ging er immer hier hinauf, um den Göttern näher sein zu können, die auf ihren Wolken über die Menschen wachten. Er bat um ihre Hilfe, in schwierigen Zeiten und bei Aufgaben, deren Bewältigung er sich nicht für mächtig hielt. Der Kampf war genau das gewesen. Wenn er schon hätte verlieren müssen, dann wenigstens mit dem Segen der Götter. Heute war ihm nicht einmal mehr bewusst, warum er sich auf den Kampf eingelassen hatte! Eigentlich war es doch dumm gewesen, einen Mann herauszufordern, der mindestens einen Kopf größer war als er! Aber auf der anderen Seite konnte er sich das alles nicht mehr gefallen lassen! Er war auch ein Mann! Ein Mann, der sich zu wehren wusste und mit Köpfchen, auch wenn das für jemanden mit seinem Stand nicht wirklich Bedeutung hatte. Mist! Er wollte doch unbedingt diesen Kampf austragen! Andererseits konnte er den Abstieg einfach nicht wagen! Das ging nicht! Es gab hohe Klippen und wenn er den Weg vor sich nicht sehen konnte, dann konnte er sich auch nicht sicher sein, dass er nicht geradewegs auf einen Abgrund zulief!
Die Haare waren vom Morgen noch verwuschelt, er machte es mit seinem ständigen ziehen an ihnen nur noch schlimmer. Wie gerne er sich einfach einen Schritt nach vorne gestürzt hätte! Aber Selbstmord war nichts ehrenwertes und man würde ihm kein Begräbnis geben. Andererseits, wenn er die Klippe hinuntergefallen wäre? Nein! Auch dann nicht! Wer wusste schon, dass hier oben immer noch Nebel war, während sich der, der noch über dem Tal und der darin befindlichen Stadt gelegen hatte, langsam lichtete. Immer mehr konnte man sehen, die Häuser, das Theater und die Tempel. Dort, am Ende des Tals, arbeiteten einige Sklaven auf den Feldern, die schon wieder in der Sonne lagen. Ganz klein konnte er die Menschen erkennen. Die Stadt war zum Leben erwacht, auch wenn der Nebel zu Teilen noch vorhanden war, er zog sich immer schneller zurück, als wäre er von den Menschen vertrieben. Vielleicht empfand er ekel vor ihnen. Oder Scham? Scham gegenüber den Göttern, dass er sich so lange zwischen diesen Häusern der Sünde aufgehalten und diese Sünden verdeckt und begünstigt hatte? Wie gerne er über solche Dinge nachdachte. Seit Jahren lebte er hier. Als einer der wenigen, die hier geboren waren und nicht für ihre Ausbildung oder ähnliches herkamen. Er selbst war ein Produkt reiner Sünde gewesen! Seine Mutter, eine Prostituierte, war von einem Soldaten schwanger geworden und hatte ihn schließlich zusammen mit ihrem aus Not geheiratetem Mann großgezogen. Wer auch immer sein Erzeuger gewesen war, er konnte nicht der größte Krieger aller Zeiten gewesen sein. Ihm selbst war es leider nicht vergönnt gewesen, einen halbwegs anständigen Körperbau zu erhalten. Seine Muskeln wuchsen kaum, er war sein Leben lang schmächtig und eher kränklich gewesen. Hätte ihn sein Großvater -der als einer der wenigen Männer in dieser Stadt wirklich ansehen als großer Krieger genoss- damals nicht gerettet, hätten sie ihn sicher genau von der Klippe gestoßen, vor welcher er nun stand. Der Mann hatte an ihn geglaubt, das tat er immer noch, mit jedem Tag mehr. Aus welchem Grund auch immer. Die Ausbildung war nicht das, in was er glänzte und eigentlich war er ganz und gar nicht dazu gemacht, ein Schwert und Schild in den dünnen Fingern zu halten. Und doch hatten sie ihn aufgenommen. In all den Jahren war das einzige, was er jemals gemocht hatte, die Aufnahme bei seinem Mentor gewesen. Ach, er träumte manchmal noch heute davon, wie schön dieser Mann war, wie geschmeidig er sich bewegte, wie seine Muskeln unter dem Schweiß geglänzt hatten und wie er sich jedem Gegner ohne jede Scheu gegenübergestellt hatte, selbst wenn dieser überlegen schien. Nur aus diesem Grund hatte er den Kampf angenommen! Er wollte sein wie sein Mentor, der ihn immer Stolz und Selbstvertrauen gelehrt hatte! Er wollte dieses Erbe weiterführen und er wollte nicht vor der versammelten Mannschaft als Feigling dastehen! Voller Übermut war er aufgesprungen und sah sich nun wieder mit der Gefahr des Fallens konfrontiert. Auch hier hatte sich das ganze ein wenig gelichtet, aber so wirklich sehen? Nein, das konnte man auch jetzt nicht! Und er wollte ja unbeschadet unten ankommen!
Beinahe hätte er sich wieder auf den Stein fallen lassen, wenn er sich nicht selbst daran erinnert hätte, was er wollte. Er kannte den Weg, wusste welche Stellen er meiden musste! Wie oft war er schon hier oben gewesen und hatte es beinahe blind wieder sicher ins Tal geschafft? Ein wenig weißer Nebel konnte ihm da nichts anhaben! Rein gar nichts!
„NEIN!“, schrie er in die Leere hinein. Eine Antwort erwartete er natürlich nicht. Es war mehr an sich selbst gerichtet gewesen. Kneifen war nicht! Das konnte er sich selbst, seinem Stolz, seinem Ehrgeiz, nicht antun! Diese Genugtuung hatten die Menschen, die ihn jahrelang als den Sohn einer Hure gemieden und beschimpft hatten, nicht verdient! Die Menschen, die ihn als nicht stark genug bezeichneten, nur weil er schmächtig war! Die Menschen, die ihm eine Liebesbeziehung zu dem älteren Mann nachgesagt hatten! Und ja, wenn sie auch richtig lagen, dann hatten sie noch lange nicht das Recht, ihn deswegen zu beschimpfen! Wütend stampfte er einmal auf, dann atmete er tief durch, um sich zu sammeln. Er würde jetzt da runter gehen, seinen Peinigern unter die Augen treten, seinen Herausforderer fertig machen (oder zumindest bei dem Versuch nicht sterben) und seinem Mentor zeigen, dass er ein guter Schüler war! Noch immer zaghaft setzte er einen Fuß vor den anderen, als er den Berg hinabstieg. Je weiter er kam, desto sicherer wurden seine Schritte. Immer mehr verließ er sich auf seine Kenntnisse und vergaß völlig seine Eingeschränkte Sicht. Als er unten im Tal ankam, war er die letzte Distanz gerannt. Und er hatte absolut keine Angst mehr, seinen Kampf zu bestreiten.