Tief im Tal, wo niemand je verweilt, teilt der Nebel die Welt in Licht und Schatten ein. Von oben, von den Bergen aus, ist er weiß wie Schnee in der Sonne. Doch unten, da ist er grau und blau, fast schwarz an manchen Stellen.
In dieser dunklen Nebelsuppe wohnt ein Wesen, so alt, dass niemand weiß, wann es geboren wurde oder woher es kam. Dieses Wesen verlässt das Tal nicht, niemals. Bis zum heutigen Tage.
Mit raschen Schritten, feinem Getrippel, huscht es über den Waldboden. Es taucht ins Zwielicht ein, mal klein wie ein Hase, mal größer als ein Bär, doch nie höher als die Baumwipfel. Der Nebel zieht mit ihm, weiß im Licht und aschfarben im Schatten.
Am Rand des Tals hält das Wesen inne, hier wächst nur Gras, keine Bäume mehr. Aufrecht steht die Kreatur am Zenit des kleinen Passes, der zwischen den Bergen hindurch führt und dann wieder hinunter, zum Reich der Menschen. Im Mondlicht und unter Sternen ist der Körper der Kreatur dunkel, ein Schimmer von blau im seidenen Fell. Hinter ihm wallt der Nebel, wie ein Mantel und eine Krone umgeben sie das Wesen.
Die Kreatur reckt die lange Schnauze empor, schnüffelt in die Luft, saphirblaue Augen blitzen in der Dunkelheit. Die drei Schwänze wedeln, der Nebel bewegt sich wogend mit ihnen. Ein hohes, klirrendes Heulen schickt das Wesen in den Nachthimmel, den Sternen entgegen. Dann nimmt es Anlauf, rast auf leisen Pfoten die Passstraße entlang. Der Nebel folgt, als wäre er selbst lebendig geworden, fließt den seichten Abhang hinab. Leise kommen sie näher, mit Wucht werden sie einschlagen.
* * *
Auf der weiten Ebene sieht nur ein Mensch den Nebel kommen. Er ist draußen in der kühlen Nacht, um die Sterne zu beobachten. Der Nebel rast den Pass hinab, wie noch nie zuvor in seinem Leben. Unaufhaltsam, durch Bäume und über Geröll und Steine hinweg.
Rasch wendet er sich um, rennt in sein Dorf hinein. Er ruft und schreit, Gefahr sei im Anmarsch, es gehe nicht mit rechten Dingen zu!
Die Menschen wachen auf, wundern sich und taumeln aus den Häusern. Der Schrecken weckt sie auf, der Nebel – er kommt näher, als hätte er ein Ziel.
Die Kreatur wird langsamer, die Pfoten treten sanft auf Gras und festgetretene Erde. Der Nebel wallt hinter ihr her, breitet sich aus. Vor dem ersten Haus, auf der Hauptstraße, bleibt das Wesen stehen. Die Brust nach außen, die Schwänze sanft wedelnd, blickt es mit wachsamen, blau glühenden Augen zu den Menschen.
Die ersten Menschen hatten Steine in die Hand genommen, doch zögern sie noch. Die Kreatur war stehen geblieben, keiner weiß, wieso.
Die Kreatur spitzt die Ohren, wendet sie hin und her. Sie öffnet den Mund und singt eine kurze, trällernde Melodie. Dann wartet sie. Betrachtet die Menschen vor sich aufmerksam. Als niemand reagiert, trällert das Wesen die Melodie erneut, wieder und wieder.
Die Menschen nun sind nicht sicher, was das alles sollte. Der Müller ist der erste, der vortritt, ausholt und einen Stein auf das Wesen wirft.
Die Kreatur faucht, stellt das Fell auf. Aus dem Rachen kommt blaues, funkelndes Glühen. Das Wesen stürzt sich auf den Müller, der Nebel folgt ihm auf den Fersen. Knurrend zerreißt sie dem schreienden Mann den Arm, mit dem er den Stein geworfen hatte. Den am Boden liegenden Menschen zischte das Wesen an, bevor es sich geschwind an den Dorfeingang zurückzieht, als sei nichts gewesen.
Wieder trällert die Kreatur die Melodie, eindringlicher als zuvor.
Die Menschen sind noch immer ratlos, was die Kreatur denn will. Selbst die Heiler, welche den Müller versorgen, und die Magier wissen nicht weiter. Immer lauter, immer ungeduldiger trällert das Wesen die Melodie. Plötzlich dringt eine Antwort durch den Nebel.
Ein leises, fiependes Trällern schallt durch das Dorf. Die Nebelkreatur springt auf, tänzelt ungeduldig von einer Pfote auf die andere und trällert weiter.
Die Leute des Dorfes gehen auf die Suche und finden schließlich den Ursprung der Melodie. Ein kleiner Junge ist es, er sitzt unter den Dorflinden, in der Hand einen zerbrochenen, hohlen Stein. Der Stein in seiner Hand schimmert außen dunkelgrau, von innen ist er mit blau glänzenden Linien durchzogen.
Bemerkenswert ist jedoch, was sich auf dem Stein befindet, geborgen in den Händen des Jungen. Ein kleines Wesen, ähnlich einem Fuchs mit drei Schwänzen. Das kleine Wesen ist nur so groß wie die Hand eine erwachsenen Mannes lang ist. Der Junge streichelt es, redet beruhigend auf es ein.
Die Erwachsenen treten zu dem Jungen. Sie verlangen das Wesen von ihm, doch er will es ihnen nicht geben, er schützt es mit seinen Händen. Die Melodie vom Rand des Dorfes wird immer ungeduldiger, bis sie in ein glockenhelles Knurren übergeht. Auf das Knurren folgen menschliche Schreie, den Leuten am Dorfplatz wird mulmig zumute. Sie stellen sich um den kleinen Jungen auf, um ihn zu schützen.
Auf den Dorfplatz tritt die Kreatur, groß wie ein Bär und größer als der größte Mensch des Dorfes. Die Lefzen sind zurückgezogen, die nadelspitzen Zähne den Menschen zugewandt. In den saphirblauen Augen steht Entschlossenheit und Wut.
Das kleine Wesen in der Hand des Jungen fiept. Zittrig singt es die Melodie von vorher ein weiteres Mal.
Die große Kreatur hört auf, zu fauchen. Die Nase zuckt, mit den Augen fixiert sie den kleinen Jungen, in dessen Händen ihr Kind geborgen ist.
Der kleine Junge erwidert den saphirblauen Blick. Er tritt aus dem Ring der Erwachsenen hinaus, lässt sich von keinen Armen oder Händen behindern. Langsam nähert er sich dem Nebelwesen. Als er direkt vor ihm steht, blickt er auf seine Hände hinab. Dann streckt er sie aus, das kleine Wesen auf dem zerbrochenen Stein blickt neugierig auf alles, was es umgibt. Dann trällert es die Melodie, freudig und voller Zuversicht.
Das Nebelwesen senkt den Kopf. Es stupst das kleine Wesen mit seiner Schnauze sanft an, schließt die Augen. Dann fällt der Nebel in sich zusammen, wogt hin und her. Vor dem kleinen Jungen steht dasselbe Nebelwesen mit den saphirblauen Augen, doch sein Kopf ist auf derselben Höhe wie der Kopf des Jungen.
Behutsam nimmt die Kreatur sein Junges, nimmt es in sein Maul, ganz zärtlich. Dem Menschenkind sieht es tief in die Augen, dann wendet es sich um und verlässt das Dorf. Mit der Kreatur zieht der Nebel zurück über den Pass und ins Tal. Weiß-blau reflektiert er das Mondlicht.