Prompt: https://www.pinterest.de/pin/406520303868356749/ (12.02.2020)
Startzeit: 18:30 Uhr
Ende: Uhr
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Der Winter hatte spät nochmal zugeschlagen. So grau und warm es rund um Weihnachten gewesen war, so kalt war es jetzt Mitte Februar.
Zudem hatte es geschneit. Über Nacht waren Unmengen an Neuschnee gefallen. Dafür hatte sich die Sonne gezeigt. In jener ließ es sich gut aushalten, an diesem frühen Nachmittag.
Es war ruhig auf dem Grundstück.
Ich gönnte mir ein paar Minuten in der Sonne. Hatte es mir mit einem Kaffee und dick eingepackt auf der Holzbank vor der Werkstatt gemütlich gemacht. Joschi, der zweijährige Schäferhund hatte mich träge beobachtet und sich dann unter der Überdachung zusammengerollt. Jetzt aber hob er den Kopf, hatte die knirschenden Schritte als erster gehört. Dabei waren sie federleicht. Die Person, zu der sie gehörten, war nur noch ein Schatten ihrer selbst.
Ihr Gesicht wirkte wie das einer Puppe. Fast ebenso zerbrechlich ihre Hand, die sie mir scheu zur Begrüßung reichte. Dünn war sie immer gewesen. Nun hätte ihr Körper aus Porzellan bestehen können. Dazu die dunklen Augen, die spröden Lippen.
Ich bat sie ins Haus, aber sie wollte ebenso wie ich die Sonnenstrahlen genießen. Also holte ich ihr eine warme Decke und setzte frischen Tee auf. Mit einem Schuss Rum, wie sie leise mit einem Augenzwinkern angemerkt hatte.
Als ich mit dem Tablett nach draußen trat, lehnte sie an der Holzwand und hatte die Augen geschlossen. Mit der rechten Hand kraulte sie Joschi. Der saß neben ihr und hatte den Kopf auf ihrem Oberschenkel abgelegt. Ich schenkte ihr Tee und und reichte ihr den Becher. Lächelnd griff sie danach.
"Ellis Service", stellte sie fest.
In der Tat stammte das Geschirr aus dem Nachlass meiner Schwiegereltern. Jahrelang hatte damit Elli Tee auf der Veranda ausgeschenkt. Niemals Kaffee, denn das gehörte sich ihrer Meinung nicht. Eine Teekanne war für Tee da, Kaffee kam in eine andere.
Mit einer dieser Emailletasse hatte Jakob fast jeden Morgen am Fenster des Kotten gestanden. Von unserer Küche hatte man ihn gut sehen können. Das hatte er auch nach Ellis Tod beibehalten. Es war jene Tasse gewesen, die benutzt an der Spüle gestanden hatte, weil er nicht mehr zum Abwasch gekommen war. An diesem Tag, als auch er uns verließ.
Und nun hatte ich das Gefühl, dass der Tod wieder auf dem Grundstück lauerte. Ich musterte Anna, die vorsichtig am Tee nippte, die Tasse mit beiden Händen umgriffen hielt.
"Seit wann bist du hier?", wollte ich wissen.
Anna pustete und sah nachdenklich in die Ferne.
"Vorgestern. Ich möchte hier sein, wenn es zu Ende geht", antwortete sie.
Mich hatte ihre sachliche Art erschreckt.
Vollkommen schien sie ihr Schicksal akzeptiert zu haben.
Mit gerade mal Anfang 20.
Noch heute bewundere ich ihren Mut und ihren offenen Umgang.
"So darfst du nicht denken", warf ich ein.
Sie schüttelte den Kopf.
"So oft hatte ich mein Leben wegwerfen wollen, da dachte Gott wahrscheinlich, er muss sich jetzt auch nicht anstrengen. Es gibt keine Rettung für mich, Anke. Auch diese Chemo schlägt nicht an. Mir fallen nur die Haare aus, kann nichts mehr essen und dämmere meistens vor mich hin. Die Prognosen waren von Anfang an schlecht. Vielleicht die gerechte Strafe dafür, dass ich jahrelang nicht hatte leben wollen."
Es war das erste und einzige Mal, dass wir darüber sprachen. An diesem sonnigen Februartag im Schnee ließ Anna nichts aus.
Es rührte mich sehr, dass sie mich ins Vertrauen zog. Im Grunde war es ihre Lebensbeichte, über die sie mit niemand anderem reden konnte. Weder mit ihrer Mutter, noch mit dem Menschen, der ein Teil davon gewesen war. Unser Sohn.
Als die Sonne sich früh hinter den Bäumen versteckte, zogen wir in die Bibliothek um. Den Raum hatte Anna schon früher sehr geliebt. Sie betrachtete auch an diesem Tag die zahlreichen Fotos an den Wänden und bemerkte sofort, welche wir ausgetauscht hatten. Sie war immerhin einige Monate nicht hier gewesen. Sie schmunzelte, als sie trotz allem noch ein Foto von sich und ihm entdeckte. Ich mochte es sehr. Es war am Abend der Abiturfeier aufgenommen worden. Die beiden strahlten um die Wette. Ein seltener Anblick. Gerade einmal 18 Monate war das her.
Anna ging durch den Raum, hob den ein oder anderen Bildband an und blätterte darin, dann zog es sie an das Klavier. Es trieb mir Tränen in die Augen, als sie zu spielen begann.
In diesem Moment haderte auch ich mit dem Schicksal. Töricht, dass ausgerechnet dieses Talent vom Krebs eingefangen werden sollte. Bis heute habe ich keine anmutigere Pianistin gesehen. Ihre Finger tanzten regelrecht über die Tasten.
"Weiß er es?", fragte ich, als sie endete.
Sie blieb am Klavier sitzen, legte die Hände in den Schoss.
Ihre Augen schimmerten.
Wortlos neigte sie den Kopf.
"Noch nicht in letzter Konsequenz. Ich weiß nicht, wie ich es ihm sagen soll. Da steht im Moment so viel zwischen uns."
Sie zog ihre Mütze vom Kopf und entblößte ihre Glatze.
"Wie lange?"
Bei der Frage kippte meine Stimme ein wenig.
Seufzend betrachtete sie ihre Hände. Holte tief Luft.
"Drei Monate vielleicht."
Ihre Stimme war fast nur ein Flüstern.
"Ostern schaffe ich auf jeden Fall. Wenn er heimkommt, zu euch, dann werde ich es ihm sagen. Derzeit reicht, dass ich krank bin. Das nimmt ihn genügend mit."
Nickend sah ich sie an.
Fast hatte ich befürchtet, dass sie gekommen war, um uns zu bitten, es ihm zu sagen. Aber ihr Besuch hatte andere Gründe.
"Anke, ich möchte, dass ihr wisst, dass ich das alles damals nicht böse gemeint habe. Ich war ein dummes Kind. Ein völlig überforderter Teenager. Ich erwarte von euch keine Absolution, dazu haben wir zu viel Blödsinn angestellt. Aber es wäre schön, wenn ihr ihm nicht böse seid. Er braucht euch, mehr als er je zugeben würde. Er liebt euch, auch wenn er es nicht sagt oder es euch nicht spüren lässt. Seid für ihn da, helft ihm. Er braucht diese Hilfe. Vielleicht nicht nur von euch. Lasst nicht zu, dass auch er seinen Weg zu spät findet. Ich bereue zutiefst, dass ich so spät zur Einsicht gekommen bin. Jeder hat nur ein Leben und ich habe meines nicht zu schätzen gewusst."
Ihre Worte berührten mich sehr. Schon bei den letzten Sätzen war ich zu ihr gegangen und sie war aufgestanden. Nun hielt ich sie im Arm. Streichelte ihr über den Rücken und beruhigte sie.
Sie war uns wie eine Tochter gewesen, ein Teil dieser Familie.
Erst jetzt begriff ich langsam, wie sehr dieses Mädchen gelitten hatte.
Zu vieles hatten auch wir übersehen.
Und sie mahnte uns.
Rief mir ins Bewusstsein, dass wir auch bei unserem Sohn hinsehen mussten.
Als es zu dämmern begann, machte sich Anna bereit für den Heimweg. Ich bot ihr an, sie zu fahren, aber sie lehnte lachend ab.
Sie wollte den Weg bewusst gehen. Die schöne Schneeluft einatmen.
An all die Abende denken, an denen sie diesen Weg mit ihm gegangen war. Fast jeden Tag hatte er sie nach Hause gebracht, wenn sie den Nachmittag bei uns verbracht hatten.
Nie wieder sollten wie die Gelegenheit bekommen, nochmal so zusammen zu sitzen. Sie hatte ein gutes Gespür gehabt.
Es ist nicht fair, heißt es immer wieder, wenn junge Menschen früh sterben müssen. Im Falle Annas ist es zudem tragisch. Als sie sich für das Leben entschied, schlug das Schicksal zu. Das Mädchen mit den langen schwarzen Haaren, das immer viel Melancholie versprühte, hatte kaum richtig zu lachen gelernt. Sie durfte nicht zur Frau werden, ihr Glück nie richtig auskosten. Und wir blieben zurück. Mit Scherben, die wir so nicht erwartet hatten. An ihre Worte musste ich später oft denken und habe erst später verstanden, wie klug sie waren.
Klug und mutig - das war Anna in ihren letzten Monaten.
Es macht mich traurig, dass ihr der Mut davor so oft gefehlt hatte.
Nun ist sie nicht mehr hier, viele Jahre schon, und ihr Geist ist dennoch hier bei uns. Und das ist gut so.