Lange Zeit starre ich aus dem Fenster und beobachte die Regentropfen, die sich ein wildes Rennen die Scheibe hinab liefern. Das stetige Prasseln des Regens beruhigt mich und lässt meine Gedanken weniger einsam wirken. Außerdem wird im Regen wenigstens nicht erwartet, dass man hinaus geht und den wunderbaren Tag genießt.
»Es ist Valentinstag. Da kannst du doch nicht alleine drinnen sitzen«, sagen sie. Doch warum macht es einen Unterschied, an welchem Tag ich alleine herumsitze? Sonst interessiert es auch niemanden! Ich verstehe gar nicht, was an diesem Tag so besonders sein soll. Wie kann man sich so sehr auf einen solchen Tag freuen? Was macht Spaß, daran erinnert zu werden, dass man ein weiteres Jahr alleine gewesen ist?
Ich öffne das Fenster und spüre den kühlen Regen auf meinen nackten Armen. Ich schließe meine Augen und versuche dem Gesang des Wetters zu lauschen.
Doch noch bevor es mir gelingt ihn zu genießen, reißt mich ein Geräusch aus meinen Gedanken. Ich zucke zusammen, als plötzlich eine schneeweiße Eule durch das Fenster in mein Zimmer fliegt.
Tropfend lässt sie sich auf dem Schreibtisch nieder und ich starre sie einige Augenblicke an.
»Woher kommst du denn jetzt?«, frage ich, ohne jedoch eine Antwort zu erwarten. »Was suchst du hier?«
Sie schüttelt sich, sodass sich Wassertropfen im ganzen Zimmer verteilen. »Draußen ist ätzendes Wetter. Da ist es hier schon wesentlich angenehmer«, vernehme ich und starre die Eule mit offenem Mund an.
»Was? Noch nie eine sprechende Eule gesehen?«, fragt sie und flattert mit ihren Flügeln.
Ich bin viel zu verwirrt, um antworten zu können. Jetzt werde ich auch noch verrückt! Eine sprechende Eule! Warum bin ich heute morgen nicht einfach liegen geblieben?
»Was machst du hier?«, frage ich schließlich um das unangenehme Schweigen zu brechen. »Warum kommst du gerade zu mir?«
»Du bist einsam«, stellt sie fest, als sei dies die Antwort auf alle Fragen.
Ich zucke mit den Schultern und setzte mich auf mein Bett.
»Du fühlst dich in dieser Welt nicht wohl und sehnst dich nach einer anderen Welt.«
Ich seufze und lasse mich nach hinten fallen, versuche aber dabei die Eule im Auge zu behalten. »Weißt du...ich habe gerade wirklich keine Lust darauf und will einfach alleine dem Regen lauschen.«
»Aber, aber«, die Eule flattert plötzlich über meinen Kopf hinweg. »Heute ist ein besonderer Tag. Die Grenzen zwischen den Welten verschwimmen miteinander. An keinem anderen Tag kann man so gut zwischen den Welten wandern.«
Erneut seufze ich. »Und was genau hat das alles mit mir zu tun?«
Die Eule setzt sich neben mir auf das Bett. »Das ist eine einmalige Chance für dich. Überlege es dir gut. Durchquere heute Nacht den Wald der Finsternis und folge dem Pfad der Dunkelheit. So wirst du das ewige Licht erreichen und deine Einsamkeit wird verschwinden. Aber sei vorsichtig, auf deinem Wege lauern einige Gefahren auf dich. Gefahren, die dich prüfen sollen, ob du bereit bist, zwischen den Welten zu wandern. Zeige Mut und bewahre ein reines Herz, so wirst du mit Glück belohnt werden.«
Verirrt starre ich auf die Eule, die sich jedoch wortlos wieder vom Bett erhebt und kurz darauf durch das Fenster im Regen verschwindet.
Was war das? Werde ich nun wirklich verrückt?
Anderseits? Was habe ich schon zu verlieren? Wenn das stimmt, was die Eule gesagt hat...nein, das kann nicht sein. Das ist unmöglich. So unmöglich wie sprechende Eulen.
Als ich nach draußen sehe, stelle ich fest, dass die Sonne kurz vor dem Untergang steht. Die Zeit ist schneller vergangen, als ich gedacht habe. Sogar der Regen hat nun aufgehört und das Wetter wirkt beinahe einladend.
Wald der Finsternis. Pfad der Dunkelheit. Die Wortfetzen klingen seltsam vertraut, doch ich kann mich nicht mehr daran erinnern woher.
Ich ziehe mich an und husche unauffällig hinaus, damit mich meine Eltern nicht bemerken. Zwar glaube ich, dass es sinnlos ist, aber es ist besser als nur drinnen herumzusitzen.
Ich husche zwischen den Häusern entlang. Zwar wäre es nicht dramatisch, jemanden zu begegnen, dennoch will ich darauf verzichten. Ich erreiche den Zaun und bleibe stehen. Mein Blick schweift über die Umgebung. Die Sonne verschwindet schon beinahe am Horizont, wirft noch einen letzten Blick auf die Häuser hinter mir. In dem Wald vor mir ist es bereits dunkel – wie immer. Die Menschen erzählen sich unzählige Geschichten über diesen Wald.
In diesem Wald sollen die seltsamsten Wesen leben. Das war auch der Grund, warum sie eines Tages diesen Zaun errichtet haben. Früher habe ich mich dort so wohl gefühlt und war so oft in diesem Wald, weil niemand anderes herkam. Ich weiß selbst nicht mehr, warum ich irgendwann nicht mehr wiederkam.
Mit einem kräftigen Ruck ziehe ich mich nach oben und lasse mich auf der anderen Seite auf den Waldboden fallen.
Ich versuche etwas in der Dunkelheit zu erkennen, doch dies gelingt mir nur bedingt. Ich kann die Bäume nur erahnen, bewege mich dennoch Zielsicher zwischen ihnen hindurch. Die Einsamkeit, die mich schon nach wenigen Schritten empfängt, ist angenehm. Denn hier in diesem Wald erwartet niemand etwas von mir. Niemand, der etwas von mir möchte. Nur ich alleine.
Lange Zeit wandere ich einfach nur zwischen den Bäumen umher. Warum war ich so lange nicht mehr hier? Was hat mich davon abgehalten, herzukommen?
Ich wandere immer weiter, ohne ein festes Ziel im Sinn. Angst mich zu verlaufen habe ich nicht, denn bisher habe ich auf magische Weise jedes Mal den Weg hinaus gefunden, selbst wenn ich mir sicher war, dass ich mich verlaufen habe. Dieser Wald ist wirklich besonders. Vielleicht war ich früher auch deshalb so oft hier. Ich hatte einfach das Gefühl, hierher zu gehören. Mehr als in mein Leben. Diese sinnlose, kalte Existenz, die sich Leben nennt. Dort, wo man Dinge tun muss, weil sie von einem verlangt werden. Niemand sieht einen Nutzen darin, aber es muss so getan werden, weil man es schon immer so tat. Man muss an Valentinstag verliebt sein, weil es sich gehört. Sonst wird man bemitleidet. Als ob man nicht auch alleine glücklich sein könnte. Diese Welt, die versteht doch niemand! Niemand wird in ihr glücklich.
Die Worte der Eule kommen mir in den Sinn. Durchquere heute Nacht den Wald der Finsternis und folge dem Pfad der Dunkelheit.
Wald der Finsternis. Pfad der Dunkelheit. Dort scheine ich bereits zu sein.
So wirst du das ewige Licht erreichen und deine Einsamkeit wird verschwinden.
Aber ist nicht gerade diese Einsamkeit gerade das, was ich mir gewünscht habe? Eine angenehme Einsamkeit. Will ich wirklich, dass sie verschwindet?
Aber sei vorsichtig, auf deinem Wege lauern einige Gefahren auf dich. Gefahren, die dich prüfen sollen, ob du bereit bist, zwischen den Welten zu wandern. Zeige Mut und bewahre ein reines Herz, so wirst du mit Glück belohnt werden.
Doch aus diesen Worte werde ich nicht schlau. Was für Gefahren lauern auf mich?
Schnell schiebe ich diese Gedanken beiseite und gehe weiter durch die Finsternis. Nach einigen weiteren Schritten höre ich ein leichtes Geräusch in der Ferne. Ich bleibe stehen und versuche herauszufinden, woher es kommt. Doch es bleibt still, also entscheide ich mich kurz darauf dazu, weiter zu gehen.
Ich bin froh, dich wieder zu sehen, höre ich plötzlich eine bekannte Stimme, die ich aber nicht zuordnen kann.
»Wer bist du?«, frage ich in die Dunkelheit und bleibe stehen.
Ich bin der Wächter des Waldes. Wir sind uns schon oft begegnet, obwohl du mich wohl nicht kennst.
Ich mache einen Schritt in die Richtung, aus der die Stimmer ertönt. »Wächter des Waldes?«
Nun, die Stimme macht eine kurze Pause, eigentlich ist das nicht ganz richtig. Denn ich überwache das Portal in die andere Welt. Meinen Boten hast du bereits kennengelernt.
»Die Eule?«, frage ich.
Ich spüre wie dieses Wesen nickt, obwohl ich es nicht sehen kann.
Sie ist manchmal etwas übereifrig. Aber ja. Wir haben dich beobachtet und du gehörst nicht in diese Welt.
»Wohin sonst?«
Doch die Stimme schweigt und ich stehe wieder alleine in der Dunkelheit. Ich warte einige Zeit auf eine Antwort, bevor ich schließlich weiter durch die Dunkelheit wandere.
Als ich einen Schrei höre, zucke ich zusammen und beginne in die Richtung zu laufen, aus der der Schrei kam.
Obwohl ich in der Dunkelheit wenig erkennen kann, werde ich immer schneller. Dieser Schrei hat etwas in mir ausgelöst. Eine Erinnerung, die ich am liebsten verdrängt hätte.
Endlich erreiche ich sie.
Ich kann spüren, dass sie vor mir steht und mich anstarrt.
»Da bist du ja«, flüstert sie sanft. »Ich bin froh dich wieder zu sehen.«
»Nein«, ich schüttele meinen Kopf. »Das bist du nicht. Wir beide wissen es!«
Sie schweigt einige Zeit, bevor sie antwortet. »Damals waren wir beide noch jung.«
Vorsichtig mache ich einen Schritt in ihre Richtung. »Du wolltest mich ausnutzen. Ich weiß es noch genau. Ich war in dich verliebt, aber du...«
»Das stimmt nicht«, widerspricht sie. »Ich wollte dich nicht gehen lassen. Es tat mir weh, immer wieder sehen zu müssen, wie du in diese Welt zurückkehrst, die nicht deine eigene ist. In der du so sehr leidest.«
Ich mache noch einen Schritt in die Richtung, in der ich sie vermute. »Aber...?«
»Aber es ist deine Heimat. Ich konnte nicht verlangen, dass du dein Leben wegen mir aufgibst. Ich hatte das Gefühl, du würdest nur wegen mir hier sein und nicht mehr die Wahrheit sehen. Diese Welt ist nämlich nicht nur schön. Sie ist auch brutal und tödlich.« Mit jedem Wort wird ihre Stimme leiser und brüchiger. »Es war einfacher dich gehen zu lassen, dich zu vertreiben, als all die Verantwortung für dich tragen zu müssen.«
»Aber wäre nicht alles besser, als in meiner Heimat zu bleiben? Wie lange lag ich dort und habe an dich gedacht. Mich danach gesehnt, bis ich es nicht mehr ausgehalten habe und alles vergessen wollte. Einfach nur noch durch das Leben kriechen, ohne ein Ziel. Doch jetzt beginne ich zu verstehen.« Leise füge ich den wichtigsten Satz hinzu: »Wo bist du?«
»Hier«, höre ich flüstern und im nächsten Augenblick liegen wir uns in den Armen. Ich spüre Tränen, weiß aber nicht, ob es ihre oder meine sind.
Als ich kurz darauf meine Augen wieder öffne, werde ich von einem grellen Licht geblendet. Erst nach kurzer Zeit erkenne ich den verschneiten und hellen Wald. Die Nacht ist vorbei, die Dunkelheit besiegt.
»Ist es nicht wunderbar hier?«, höre ich sie fragen, doch als ich zur Seite blicke, entdecke ich nur die schneeweiße Eule.
»Komm erheb dich in die Luft!«, fordert mich die Eule mit ihrer Stimme auf.
Verwirrt sehe ich herunter. »Was?«
Ich höre sie lachen. »Du brauchst aber auch wirklich lange oder? Schau an dir herunter!«
Doch anstatt meinen Körper entdecke ich bloß Federn. Weiße Federn. Erstaunlicherweise es sich so an, als sollte es so sein, als sei es normal. Ich wundere mich nicht darüber, wie ich es von mir selbst erwarten würde. Stattdessen breite ich meine Arme aus, die nun Flügel sind und beginne mich fast automatisch immer weiter vom Boden und dem Schnee zu entfernen. Nebeneinander schrauben wir uns immer weiter in die Höhe und sausen anschließend zwischen den Bäumen hindurch.
Wir brauchen keine Worte mehr, denn ich habe verstanden, dass dies meine Heimat, mein Leben ist. Hier gehöre ich hier. Hier bin ich willkommen.