Alles begann damit, dass Margaret eines Morgens auf ihrer Terrasse saß und Zeitung las. Sie las die Zeitung sehr aufmerksam, wie jeden Morgen. Sogar ihren Ehemann George, der um diese Zeit unerträglich war, wenn er noch keinen Kaffee getrunken hatte, konnte sie ohne große Mühe ausblenden. Es war unglaublich, wie viele Dinge auf der Welt gerade passierten! Während sie auf der Terrasse ihres Hauses saß, wurden in Europa Schlachten geschlagen, in Washington D.C. wurde über das Wahlrecht für Frauen geredet -wie schon gefühlt die letzten zwei Jahrzehnte lang- und Russland erlebte unheimlich turbulente Zeiten. Schrecklich, dass das alles in der Zeitung stand und sie es mitbekommen musste! Ihrer Mutter hätte das sicher nicht gefallen!
„Mag, was machst du denn schon wieder für Gesichtsausdrücke? Tut dir was weh? Ist dir übel? Vielleicht hat es ja endlich geklappt?“
Nun gut, sie musste zugeben, er war auch mit dem Kaffee, den er immer trinken musste, unerträglich. Seit Monaten schon dachte er über nichts anderes nach als die Kinder, die er unbedingt in die Welt setzen wollte! In diese Welt! Diese schreckliche, verkommene Welt in der das Böse regierte!
„Mir geht es gut. Ich musste nur gerade über den Krieg nachdenken.“
Sie nahm sich die Zeitung, stand auf und ging in das Haus hinein, um nicht mehr mit ihrem Mann darüber reden zu müssen, wie es ihr ging. Stattdessen setzte sie sich an ihre Arbeitstisch und laß den Brief, den ihre Schwester ihr geschrieben hatte. Viel zu lange waren sie nun schon getrennt und am liebsten wäre sie auf der Stelle zu ihr gefahren, wenn der Weg nur nicht so weit wäre! Susan war die einzig wahre Konstante in ihrem Leben, die ihr Halt und Zuversicht gab. Trotz ihrem Altersunterschied von knapp fünfzehn Jahren verstanden sich die Frauen sehr gut und hegten einen regen Briefwechsel miteinander. Die Ältere der beiden war dabei eine sehr starke Frau, die sich gegen den Willen des Vaters nicht hatte verheiraten lassen und sich mittlerweile für Veränderungen einsetzte, die sie als notwendig empfand. Auch sie hatte sich für das Wahlrecht für Frauen eingesetzt und war laut ihrer letzten Briefe sehr zuversichtlich, was das anging. Außerdem schrieb sie von einem Mann, der ihr das Herz gestohlen hatte, mit seiner liebevollen Art und den zarten Händen. Früher, da wäre Susan nie auf die Idee gekommen, einen Mann heiraten zu wollen. Und dabei war es immer Margaret gewesen, die unbedingt eine Familie hatte haben wollen! Und jetzt? Sie saß hier, mit einem Ehemann, der weder sie noch irgendetwas anderes verstand, während ihre Schwester das Leben genoss und das tat, was sie liebte! Sie wollte sich auch für Menschenrechte einsetzten! Es gab genug, was sie tun konnte! Keiner musste untätig zuhause herumsitzen und sich von den Leuten herabstufen lassen! Ihr war es doch schon immer egal gewesen, welche Hautfarbe ein Mensch hatte! Oder welches Geschlecht! Wieso sollte sie dieses Geschenk der Offenheit, welches Susan ihr gemacht hatte, nicht weiter in die Welt hinaustragen?
„Liebste Schwester,
ich schreibe dir, weil ich beschlossen habe, mich auf den Weg zu dir zu machen. Du hattest recht, meine Ehe macht mich krank und ich fühle mich wie ein Mensch, dem man Scheuklappen aufgesetzt hat, um ihn davon abzuhalten, die Wahrheit zu erkennen. Die Befriedigung von der ich dachte, ich würde sie in der Verbinden mit George, den gemeinsamen Kindern, die ich mir immer gewünscht hatte, finden, hat sich nicht eingestellt. Vielleicht bin ich nicht zur Ehe gemacht, bin keine geborene Mutter, aber ich weiß, dass ich deine Schwester bin und ich kann nicht länger untätig sein und das Bild leben, gegen das du seit Jahren ankämpfst! Ich möchte dir helfen, in deiner Nähe sein, denn du bist die einzige Familie die ich habe und du bist der Mensch, der mich vor der Blindheit gegenüber den Missständen die bei uns herrschen bewahrt hat. Vielleicht werde ich dann auch wieder in der Lage sein, etwas mit ganzem Herzen zu lieben!
Deine Margaret“
Nur wenige Tage später hatte sie den Koffer neben sich auf dem Sitzplatz des Wagens liegen und fuhr mit diesem durch die unheimlich große Stadt. Sie wusste, wo sie ihre Schwester finden würde, denn sie war auf ein schönes Landhaus eingeladen worden, in welchem der Liebhaber Susan’s wohl lebte. Schon als sie die Treppe zum Haus hinaufstieg hörte sie von drinnen Lachen, aber auch die durchdringende Stimme ihrer Schwester, durch welche diese sich schon immer hatte Eindruck verschaffen können. Die Lichter, die durch das Glas der Tür einen Schatten auf sie warfen, wirkten so einladend und es kam ihr vor, als wäre sie wieder zu Hause angekommen. Kurz überschatteten die Schuldgefühle George gegenüber, der nun alleine Zuhause saß und darauf wartete, dass seine Frau wieder zu ihm zurückkommen würde, die wohlige Wärme in ihrer Brust. Doch keine Minute später wurde die Türe geöffnet und Susan stand vor ihr. Sie trug eine Hose und eine Bluse, für die ihr Vater sie sicher bestraft hätte.
„Hallo Margaret, ich freue mich, dass du da bist!“
Sie fiel ihrer jüngeren Schwester um den Hals, die das Gewicht der Größeren kaum halten konnte. Nur mit Mühe schafften sie es zu zweit und rückwärts durch die Tür, bis Susan sie endlich wieder losließ und ihr den Koffer abnahm.
„Komm doch zu uns ins Wohnzimmer! Wir diskutieren gerade ein wenig. Ich weiß, dass es dich interessieren wird. Immerhin bist du Familie und ich bin mir ziemlich sicher, dass das, was wir machen, dir auch passen wird. Feminismus liegt bei uns im Blut.“