Die Sonne streckt gerade ihre zarten Strahlen über die Hügel der Glencoe Mountains, als Carlotta ihren Rucksack auf die Schultern hebt. Noch einmal geht sie in die Hocke und überprüft ihre Schnürsenkel. Sie sind fest zu einem Doppelknoten gebunden. Carlotta erhebt sich. Sie streckt sich. Atmet die frische, frühmorgendliche Luft ein. Freiheit.
Dieses Gefühl, hatte sie schon lange nicht mehr. Carlotta lässt ihren Alltag an sich vorbeiziehen. Die Arbeit. Die Ehe. Die Kinder. Sie lässt alles los. Nichts davon hat hier Bedeutung.
Es ist wunderbar still - hier. Außer dem Geräusch des Windes der an ihr vorbei weht, hört sie nichts. Die feinen Härchen an ihren nackten Beinen und Armen stellen sich auf. Um sie herum tobt ein Meer aus rauschenden, saftig grünen Grashalmen. Wie Wellen bewegen sie sich im Wind. Der Reif der sich an den Halmen gebildet hat schimmert, als hätten sich tausende und abertausende winzig kleine Diamanten über ganz Glencoe verteilt. Wie Sternstaub, der vom Himmel gefallen ist. Es duftet nach süßen Blumen und Frühling.
Carlotta nimmt eine Bewegung in ihren Augenwinkeln war. Sie dreht sich abrupt um und schaut in zwei große gelbe Augen. Ein Steinadler sitzt nur wenige Schritte entfernt von ihr auf dem Ast eines Baumes, der aussieht als wäre er von einem Blitz gespalten worden. Seine Klauen hat er um das verkohlte Holz des Astes gekrallt. Carlotta bewegt sich nicht. Die kreisrunden Augen mit den großen schwarzen Pupillen mustern sie aufmerksam. Der Adler legt den Kopf zur Seite.
Als würde er in meine Seele blicken. Als wüsste er um meine Sorgen.
Dann spreizt er seine Flügel zu einer beachtlichen Größe und erhebt sich mit einem einzigen eleganten Sprung in den Himmel. Über Carlotta ertönt ein lauter Schrei, ehe der Vogel davon fliegt. Carlotta blickt ihm noch lange nach. Irgendwann kann sie das Tier nur noch erahnen.
Du hast es gut.
Carlotta macht sich auf den Weg durch die Glencoe Mountains. Die Sonne steigt immer höher. Der Reif, der sich auf den Halmen und Blättern der umliegenden Pflanzen gebildet hat, wird immer weniger und irgendwann ist auch der letzte Tautropfen auf den Grashalmen verdunstet. Freiheit. Dieses Gefühl hatte sie schon lange nicht mehr.