Es fällt mir erst auf, als ich die letzten Stufen zur Haustür hinaufgehe: Aus den immer noch kahlen Bäumen im Garten ertönt das morgendliche Lied einer verschlafenen Amsel.
Andächtig bleibe ich stehen und lausche. Das Piepsen ist noch leise und zaghaft, als wage das Tier es nicht, die nächtliche Stille vollständig zu durchbrechen. Und obwohl das Lied so verhalten ertönt, vorsichtig und zurückhaltend, dringt es bis tief in mein Innerstes. Wenn die Vögel zurückkehren, ist der Frühling nicht mehr fern.
Ich nehme mir einen Augenblick Zeit, um meine Umgebung bewusst wahrzunehmen. Aufgrund der Dunkelheit sehe ich im Garten noch nichts, doch ich atme tief die klare Luft und schmecke, was sie mit sich bringt. Den Geruch von feuchter, satter Erde verbinde ich schon lange mit dem Ende des Winters – dieser Duft trägt für mich das Versprechen von Wärme, Leben, Blütenpracht und meine Stimmung aufhellenden Sonnenstrahlen in sich. Frühling ist Aufbruch, Hoffnung, Freude und gute Laune! Je länger die Sonne scheint, je früher sie aufgeht und je später die Nacht hereinbricht, desto energiegeladener fühle ich mich, desto besser komme ich mit kurzen Nächten zurecht, desto motivierter gehe ich alles an, was ich mir vorgenommen habe! Wenn die Abende wieder lang sind, werde ich endlich wieder mehr draußen sein, die Natur genießen und mich meines Lebens wahrhaftig erfreuen!
Doch noch ist es nicht so weit. Wir sind erst am Ende des Winters angekommen, wie mich die Temperaturen erinnern. Fröstelnd reibe ich mir über die nackten Unterarme und flüchte mich ins warme Haus.
Auch hier ist noch alles ganz still. Es ist erst kurz nach fünf Uhr morgens, alle schlafen noch. Nur mich hat der Meldeempfänger um 4:06 Uhr aus dem Bett geworfen, mit der Information, dass im Altersheim die Brandmeldeanlage ausgelöst wurde, so eilig aus dem Haus gescheucht, dass ich nur in Jogginghose und Schlaf-T-Shirt losgelaufen bin. Hätte es wirklich gebrannt, wäre mir in der Uniform auf jeden Fall warm genug geworden.
Obwohl man sich über Fehlalarmierungen ärgern kann, bin ich gerade in diesem Fall doch froh, dass kein Ernstfall vorlag. Eine meiner größten Befürchtungen ist es, dass eines Tages doch ein Brand im Altersheim oder einer der Kliniken ausbricht. Die Evakuierung von so vielen Menschen, die teilweise auf Hilfe angewiesen sind, wäre ein wahrer Albtraum. Zweifellos würden wir jemanden nicht rechtzeitig erreichen oder gar verlieren. Noch weiß ich nicht, wie gut ich das verkraften würde, und nach jedem Einsatz bete ich im Stillen, dass ich es nie herausfinden möge.
Der Gedanke lässt mein Herz wieder schneller schlagen. So kann ich nicht zurück ins Bett, die knappe Dreiviertelstunde Schlaf, die mir noch vergönnt wäre, genießen. Ich sollte etwas Schönes mit der gewonnenen Zeit anfangen! Und ich weiß auch, was.
Leise, um meine friedlich schlummernde Partnerperson nicht zu wecken, ziehe ich mir etwas Warmes an, hole eine Taschenlampe und gehe in den Garten hinaus, um den anbrechenden Tag zu begrüßen. Ich lasse den Lichtkegel wandern und betrachte die Bäume und Büsche, das Gras und die Blumenbeete, die sich ohne erkennbare Ordnung in unserem Garten angesammelt haben.
Die Amsel im großen Sauerkirschbaum hat inzwischen einen Gesangspartner gefunden, der sie motiviert hat, ihr Lied zu intensivieren. Während die beiden Vögel ihren Gesang proben, entdecke ich immer mehr Anzeichen dafür, dass der Frühling naht: Viele der Äste, die ich betrachte, tragen bereits grünliche Knospen. Im Gras, oder besser, zwischen dem Moos, das die Erde bedeckt, sind kleine weiße Köpfchen zu erkennen, die schon bald zu den ersten Gänseblümchen herangewachsen sein werden. Ein paar wenige sind sogar geöffnet!
Ich pflücke zwei und gehe zu dem großen Verschlag hinüber, den ich letzten Herbst gebaut habe. Meine beiden Zwergkaninchen haben mich längst entdeckt und schauen mir neugierig entgegen, hoppeln aufgeregt herum, als ich die Tür öffne und mich zu ihnen begebe, um ihnen die ersten Frühlingsboten zu bringen. Bald wird es wieder Gras, Kräuter und Salat in Hülle und Fülle für sie geben! Liebevoll streichle ich über ihre Rücken, während sie das wenige, zarte Grün genießen, verteile dann noch ein paar Leckereien und gehe zurück ins Haus, um mir ein ausgiebiges Frühstück zuzubereiten.
So könnte jeder Morgen beginnen! Ich freue mich schon wieder auf den Sommer, wenn das Licht mich täglich um diese Zeit wecken wird. Doch eins nach dem anderen – die Kunst des Lebens liegt darin, in jeder Jahreszeit, in jedem Moment, das Schöne zu finden.