Der Outtake entstand im Rahmen der Sixty Minutes-Challenge, zum Prompt "Bewährungsprobe" vom 15.03.2020.
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Die Unsicherheit und Nervosität wühlte wie ein Bündel Würmer in Daniels Magen, als er nach der zweistündigen Fahrt seinen Wagen hinter dem von Marius abstellte und ausstieg. Allegro, der die ganze Zeit auf dem Rücksitz geschlafen hatte, sprang kläffend um die Beine seines Herrchens herum, froh, wieder mit den Füßen auf dem Boden zu stehen und sich frei bewegen zu können. Neugierig sah sich der dunkelhaarige Mann in der Siedlung um, in der sein Freund fast die ganzen letzten zwölf Jahre gelebt hatte. Man hatte nicht das Gefühl, direkt in Köln zu sein, denn es wirkte alles so ruhig. Doch dass sie nicht mehr auf dem Dorf waren, war trotzdem zu spüren. Der summende Verkehrslärm der Straße hinter dem nächsten Wohnblock war im Sommerwind dieses Vorabends zu hören. Etwas, das es in Lengwede nie gegeben hatte.
»Tja, das ist es also«, lachte ihm Marius zu, ließ die Verriegelung seines Autos klicken und warf seinen Rucksack über die Schulter. »Zuhause.« Er überwand die kurze Distanz zwischen sich und Daniel und griff nach dessen Hand. Das Lausbubenlächeln in Marius’ Gesicht und das Blitzen seiner blauen Augen passten nicht wirklich zu der fast scheuen Geste, als er die Finger um die des Anderen schloss, ganz so, als könne er immer noch nicht glauben, dass Daniel nun tatsächlich bei ihm war. Nach so vielen Jahren des Wartens.
»Hübsch hier«, schmunzelte der Dunkelhaarige und drückte Marius’ Hand.
»Und einen Park gibt es in der Nähe auch, wie gemacht für Allegro.« Der Dunkelblonde ließ Daniel mit einem Zwinkern los und wandte sich ab, fischte behände einen Hausschlüssel aus der Tasche seines Rucksacks und ging voran. »Kommst du?«
»Ja.«
Sie betraten ein ordentliches Wohnhaus mit weiß getünchter Fassade und gestutzten Büschen auf einer gemähten Rasenfläche. Sicher gab es in dieser Gegend mehr als einen Rentner, der sich zum Zeitvertreib um diese Grünanlage kümmerte. Oder machte das vielleicht die Stadt? Daniel bemerkte, dass er keine Ahnung hatte, wie es außerhalb seines Heimatdorfes zuging, aber eigentlich war das auch nicht wichtig. Marius würde ihm schon zeigen, wie man hier zurecht kam, denn er hatte es ja auch geschafft. Daniel entdeckte den Nachnamen seines Freundes an einem der Briefkästen und kicherte bei dem Gedanken, dass seiner auch bald dort stehen würde. Förster und Heinemann. Hatte es wirklich zwölf Jahre gedauert, bis sie endlich an diesem Punkt angekommen waren? Daniel konnte es noch immer nicht glauben, dass er alles, sein ganzes Leben, zurückgelassen hatte. Doch er bereute es nicht. Für Marius würde er bis ans Ende der Welt gehen, denn er wusste, dass dieser es auch für ihn tun würde.
»Und Allegro ist hier im Haus wirklich kein Problem? Ich möchte nicht, dass du Ärger mit dem Vermieter bekommst ...«
Marius antwortete erst, als sie die sieben Treppen überwunden hatten und er vor der Tür zur Dachgeschosswohnung stehen blieb. Sein Atem hatte sich kein bisschen verändert, während Daniel schlucken musste und nach Luft schnappte. Allein diese Stufen zu überwinden, war ein super Kardiotraining. Kein Wunder, dass Marius so fit war. Er lächelte, strich mit dem Daumen über Daniels Kinn und drückte ihm flügelzart die Lippen auf den Mund.
»Nein. Er ist nicht der erste Hund hier im Haus. Und wenn, dann würden wir beide Ärger bekommen, denn wir leben hier jetzt zusammen, okay? Am besten gehen wir am Montag gleich zur Verwaltung und sagen Bescheid, dass du eingezogen bist. Die wollen so was immer gern wissen.«
Daniel seufzte und musste sein Herz beruhigen. Es wäre gelogen, wenn er behaupten würde, er hätte keine Angst vor der Zukunft. Er wusste, er liebte Marius und er wusste ebenso, dass der es auch tat. Doch sie hatten noch niemals zusammengelebt, sie hatten immer ihre Rückzugsorte gehabt, Freiraum und der junge Mann war sich sicher, dass sie beide Macken hatten, die der andere nicht kannte und die vielleicht eine Herausforderung werden konnten.
Marius schien die Gedanken des Anderen zu erraten, denn er lächelte dieses schiefe Lächeln, das Daniel bereits in der Schule so faszinierend gefunden hatte, spöttisch, mit einem Blitzen in den Augen, frech wie ein kleiner Junge.
»Ich habe ein Arbeitszimmer«, sagte er mit einem Schmunzeln. »Für den Fall, dass wir uns mal auf den Sack gehen, kann jeder sein eigenes Zimmer haben, wenn du möchtest.«
»Nein, ich ...«
Marius schloss die Tür zu seiner Wohnung auf und zog Daniel hinein, der unwillkürlich den Duft einsog.
»Doch. Oder denkst du, ich hab nicht auch während der Fahrt die ganze Zeit darüber nachgedacht, wie verrückt das ist, was wir hier tun?«
»Also bereust du es schon?«
»Oh nein. Das könnte ich niemals! Ich will dich nirgendwo lieber haben als bei mir. Erst recht nicht in Lengwede bei Monique und deinen dich vergiftenden Eltern. Du bist hier bei mir genau richtig. Aber ... na ja, ich hab noch nie so richtig mit jemandem zusammengewohnt. Die WG während meiner Ausbildung zählt nicht, das ist was ganz anderes. Das waren Freunde, nicht mein Freund, verstehst du?«
»Ich verstehe genau.« Daniel grinste und machte ein paar Schritte. Er stellte das wenige Gepäck ab, das er aus seinem alten Leben mitgebracht hatte und sah sich um. Die Wohnung wirkte offen und hell, es gab im Wohnbereich kaum störende Wände, dafür hölzerne Stützbalken und überall Pflanzen. Es wirkte auf eine gemütliche Art chaotisch, doch bei genauerem Betrachten bemerkte der Dunkelhaarige, dass alles seinen Platz hatte. Das Ecksofa und der Fernseher an der Wand, eingerahmt von Bücherregalen und Bildern, die zweifellos Marius selbst gemalt hatte, riefen förmlich danach, sich mit ihnen von der unbequemen Autofahrt zu erholen. Die Küche war offen und lag dem Wohnzimmerbereich gegenüber, nur getrennt durch ein halbhohes Regal, auf dem bunte Gefäße voller Pflanzen und Kräuter standen, und einem runden Esstisch. Das alles wurde von einer Fensterfront erhellt, die eine ganze Seite des großen Wohnraums einnahm und sogar auf einen Balkon hinausführte. Türen im Flurbereich führten in das erwähnte Arbeitszimmer, das Schlafzimmer und ein Bad.
»Na, was sagst du? Kannst du das als dein neues Zuhause akzeptieren?«, fragte Marius mit einem Schmunzeln, der schweigend dabei zugesehen hatte, wie Daniel sich umsah.
»Ich mag es sehr.«
Der Dunkelblonde streckte die Hand nach dem Anderen aus und zog ihn an sich. »Das freut mich.«
»Du weißt genau, dass ich überall leben könnte, solange du dabei bist.«
»Trotz all der Macken, die nach und nach ans Licht kommen und dich vielleicht nerven werden?«
Daniel lachte leise. »Vielleicht nerven dich meine ja auch?«
»Wir haben zwölf Jahre gewartet, ich lasse mich von ein paar möglichen Schwierigkeiten nicht davon abhalten, endlich mein Leben mit dir zu leben, okay? Wir haben unsere Bewährungsprobe bereits gehabt und nichts kann schlimmer sein als das, was hinter uns liegt.«
Allegro bellte, als wollte er Marius’ Worte bekräftigen, was beide Männer mit einem Lachen quittierten. Ihre Liebe hatte bewiesen, wie zäh sie war und das würde sie auch weiterhin sein.