Auf leisen Katzenpfoten schlich sie durch die Nacht; kletterte über altes, bröckelndes Gemäuer und lief durch verwilderte Parkanlagen. Der Geruch von Verwesung hatte die Ruinenstadt schon längst verlassen, mit dem Wind, der von Osten kam, doch den Tod konnte sie noch immer wahrnehmen, unangenehm drängte er sich ihr auf, rief Erinnerungen an das furchtbare Gemetzel wach. Sie wollte die Gedanken vertreiben, aus ihrem Kopf verbannen, doch das war unmöglich; überall erinnerten alte Knochen, gespaltene Schädel, rostzerfressene Schwerter und Tonscherben – alles mit dunklem Blut besudelt – an die einstigen Bewohner dieser Stadt, an ihren Kampf. Und kleinere Knochen lagen zwischendrin: die Knochen von Kindern. Sie schauderte und flüchtete sich mit einem hastigen Sprung auf das überwucherte, noch halbwegs stabile Schrägdach einer kleinen Hütte. Unter ihren Pfoten knirschten die Schindeln verdächtig, hielten aber stand. Mit vorsichtigen, bedacht gesetzten Schritten überquerte sie die kritische Stelle und ließ sich am höchsten Punkt des Daches nieder. Sie wollte den Mond sehen, die Sterne. Wenigstens diese waren noch so wie einst. Sie strahlten Macht aus, aber auch Geborgenheit und Frieden. Wenn sie zu ihnen hochsah, fühlte sie sich in jene Zeit zurückversetzt, als diese Stadt noch lebte, als sie jeden Abend auf das Dach ihres Heimes kletterte, um den Nachthimmel zu sehen. Stets hatte der Kleine, der Sohn des Herrn, sie begleitet und dort oben eine fröhliche Melodie auf seiner weißen Flöte gespielt. Doch diese Tage waren vorüber …
Mit einem traurigen Blick wandte sie sich vom Nachthimmel ab und lief vorsichtig hinüber zur alten Stadtmauer. Sie sprang hinauf und setzte ihren nächtlichen Streifzug auf der Mauer fort, auf einem schmalen Grat aus bröckelndem Sandstein und niederschmetternden Erinnerungen.