Ich rannte. Immer weiter, immer weiter. Wohin, das war egal. Nur weg, weit weg. Weg von den Häusern und Straßen, den Menschen, die es nur gut mit einem meinten und einem dennoch das Leben zerstörten; weg von den Freunden, die einen im Stich ließen und für die Freundschaft ein bloßes, bedeutungsloses Wort war; weg von dem Grau nassen Betons an neblig-feuchten Regentagen. Weg von den Menschen, die mich nicht verstanden, denen ich egal war, für die ich keine Bedeutung hatte. Egal war ich ihnen! Egal! Ich schrie dieses Wort und langsam verlor sich seine Bedeutung in der Unendlichkeit. Es war für mich nur noch ein Wort, ein Wort unter vielen Wörtern ...
Ich rannte wieder schneller, immer schneller. Ich musste weg! Weg von diesem Ort! Ohne Pause rannte ich; weiter, immer weiter! Und irgendwann – die Sonne war schon lange untergegangen, der Regen hatte aufgehört, doch ein unangenehmer, schneidender Wind blies durch das Tal – konnte ich nicht mehr; ich konnte schon lange nicht mehr, doch erst jetzt hatten meine Erinnerungen aufgehört, sich im Kreise zu drehen. Ich sah mich um – kein Mensch weit und breit. Hoch über mir erklang der Schrei eines Adlers, seltsam verzerrt durch den Wind. Neben mir raschelte es in einem verdorrten Busch. Ein dürrer Vogel flog heraus, schwankend, dann stürzte er zu Boden. Leblos. Der Vogel war tot. Tot, wie alles in diesem Tal. Tot. Wenn ich auch dieses Wort sagte, hintereinander, immer öfter, dann würde es seine Bedeutung verlieren, wäre nur noch ein Wort unter vielen Wörtern. Ein Wort. Ein einfaches Wort …
Ich sah noch einmal zum Vogel. Er war verhungert. Einfach verhungert, an Hunger gestorben. Tot. Leblos. Ich würde auch verhungern in dieser grauen Weite. Hier gab es nichts. Nichts. Ich würde sterben, wie der Vogel. Dürr, ausgehungert. Ich wusste nicht, ob das das war, was ich wollte. Was wollte ich? Wollte ich so sterben wie der Vogel? An Hunger und den Grausamkeiten dieses Tales, dieser Welt? Wollte ich das? Nein, ich wollte es nicht, ich wollte leben! Richtig leben! Doch wie, wenn ich das Leben nicht mehr finden konnte? Ich hatte es aus den Augen verloren. Schon vor Jahren ... Sollte ich es wieder suchen gehen? Wie früher, als ich es noch nicht wahrhaben wollte? Ich hatte es doch nie gefunden. Jetzt würde ich es auch nicht finden. Schon gar nicht hier.
Ich ging lieber weiter, als meinen Gedanken zu antworten. Weiter, immer weiter. Weg von hier, auch von diesem Ort. Ich rannte wieder, rannte. Unter meinen Schritten wirbelte Staub auf, grau legte er sich auf meine Kleidung, wirbelte mir ins Gesicht. Mit jedem Schritt mehr. Grau wurde alles um mich herum. Ich sah nur noch grau. Nichts anderes als grauen Staub.
Als meine Schritte langsamer wurden, der Sturm in mir verstummte, blieb ich stehen. Abrupt. Ich wollte nicht mehr weiter. Zu weit war ich schon gegangen. Zu weit. Ich stand da und starrte vor mich, irgendwohin. Da war ein Wasserlauf, doch kein Wasser führte er mehr. Auch er war grau. Und über den trockenen, staubigen Graben führte eine Brücke. Aus weißem Stein war sie, leuchtete in dieser grauen Landschaft. Es war seltsam, sie hier zu sehen, doch ich wunderte mich nicht darüber. Es gab keine Wunder mehr in dieser Welt, nicht für mich. Ich starrte sie nur an. Sie passte nicht hierher. Sie zerstörte alles, die ganze Stimmung, das Gefühl. Sie wollte mich führen, hinaus aus der Finsternis, dem grauen Nebel aus Staub, der mich umgab, doch ich wollte nicht. Ich wollte nicht fort. So stand ich weiter dort, starrte die Brücke an, kam aber keinen Schritt auf sie zu. Ich wollte nicht. Ich werde es nicht tun.
Plötzlich spürte ich die Anwesenheit einer Person, einer anderen Person, eines Fremden. Ich blickte zum Fuße der Brücke. Dort war jemand. Er kam auf mich zu, mit federnden Schritten, viel zu beschwingt. Das störte mich. Niemand sollte fröhlich sein. Nicht jetzt, nicht hier.
Der Fremde war schon fast bei mir. Und er kam noch näher. Noch zwei Meter, noch einer ... Der Fremde nahm einfach meine Hand, hielt sie fest. Ich wehrte mich nicht dagegen, aber ich hätte es getan, würde mich nicht dieses seltsam angenehme Gefühl durchströmen. Ich hatte es noch nie gefühlt, aber es war mir doch auf irgendeine Weise vertraut. Der Fremde sollte nicht loslassen, nicht jetzt! Und er tat es auch nicht. Er blickte mir in die Augen. Er lächelte. Meine Mundwinkel zuckten, hoben sich. Jetzt lächelte auch ich, seit Jahren zum ersten Mal. Ich erwiderte seinen Blick, sah in seine Augen, seine Bernsteinaugen. Wie kleine Sonnen strahlten sie in diesem unendlichen Grau. Trostlos war die Landschaft hier. Wieso hatte sie mir gefallen, irgendwie? Dieses Grau? Wieso?
„Denke nicht darüber nach. Du musst einen Neubeginn wagen. Alles was wirklich zählt, ist, dass du dich abwendest von deiner Vergangenheit, deinem bisherigen Leben. Alles was wirklich zählt, ist, dass deine Welt nicht mehr grau ist. Sie soll bunt sein! Wie der Regenbogen! Und sie soll strahlen, ein Licht, das wärmt. Lass das Grau hinter dir!“ Die Stimme meines Gegenübers war warm, gutmütig. Nicht gleichgültig. Ich war nicht bedeutungslos.