Lange lag er auf seinem Bett und dachte an alles, was passiert war. Seine Hände lagen auf seinem Bauch. Eigentlich lagen sie dort nicht, sie wurden hart gegen die Bauchdecke gepresst, weil er sonst mitbekommen hätte, wie sehr sie zitterten. Es gab nichts zu tun. Niemand konnte ihn von seinen Gedanken ablenken. Nicht mehr. Seine Freundin war vor einigen Minuten verschwunden und nicht einmal als sie noch auf ihm gelegen und sich eng an ihn gedrückt hatte, waren die bösen Stimmen aus seinem Kopf verschwunden. Rein gar nichts hatte bis jetzt dabei geholfen. Kein Alkohol, keine Drogen, kein Sex, keine Musik, keine Bücher, keine Serie, kein Film, kein Witz. Als gäbe es einfach keine Lösung für das Problem. Noch nicht einmal das Essen, das seine Mutter jeden Tag in sein Zimmer brachte, half ihm in irgendeiner Art und Weise. Immer wenn er einen Bissen nehmen wollte, roch er das gute Fleisch. Oder das Fett der Pommes. Oder einfach nur die Cola und er hatte keinen Hunger mehr. Seine Hände begannen dann wieder zu zittern und er wusste einfach nicht mehr, was er tun sollte. Dann brach er in Tränen aus und legte alles wieder hin, bis seine Mutter es wieder abholte, weil sich das ganze schon über mehrer Tage zog. Manchmal aß er ein paar Pistazien oder eine Reiswaffel, von denen er immer gefühlt tausende in seinem Zimmer hatte, aber auch das rief Erinnerungen in ihm wach. Wie sie immer über ihn gewitzelt hatten, als sie sich ein Zelt oder Zimmer geteilt hatten. Ständig waren sie in seiner Nähe und ständig hatten sie sich über Dinge unterhalten. Immer wieder sprach eine Stimme zu ihm, egal um was es ging, irgendjemand hatte eine Aussage dazu getroffen. In den fünf Jahren, die er mit denselben Menschen verbracht hatte, war alles, wirklich alles einmal zur Sprache gekommen, dessen konnte man sich sicher sein. Und die Erinnerungen ließen sich nicht abschalten, er musste daran denken, weil in seinem Kopf sein Leben nur noch aus diesen Jahren bestand. Davor wusste er nichts mehr. Er hatte nicht einmal seine Mutter erkannt, als er zurück nach Hause gekommen war. Nicht einmal das. Alles war weg. Seine Freunde, seine Freundin, seine Familie, das alles gab es nicht mehr in seinem Gehirn. Nur noch seine Kameraden, wie sie alle nacheinander starben und er ihnen nicht helfen konnte. Und natürlich alles, was danach kam. Der Schmerz, als beide seiner Beine zerquetscht wurden. Die Ohnmacht, die dem Blutverlust und den Schmerzen gefolgt war. Das gleißende Licht der Krankenhauslampen. Die Gräber seiner Freunde. Die Ausdrücke auf den Gesichtern ihrer Familie. Die Enttäuschung auf denen seiner Bekannten, die er alle vergessen, verbannt hatte.
Während ihr Sohn auf seinem Bett lag und sich nur noch umbringen wollte, saß die Mutter alleine am Küchentisch und dachte an die Tage, in denen er noch ein kleiner Junge war. Als er immer seinem Vater nachgeeifert hatte und ebenfalls Soldat werden wollte. Sein Vater, der damals schon im Krieg gefallen war. Und sie hatte ihm nie davon abgeraten. Sie war stolz auf ihren Sohn gewesen. Stolz darauf, dass er für ihr Land kämpfen wollte. Und stolz darauf, dass er seinem Vater nachfolgte. Aber nicht so. Sie hatte es sich nicht so vorgestellt! Sie wollte ihn in dieser Uniform sehen. Aber sie wollte ihn sehen. Von Anfang an hatte er auf eine andere Position hingearbeitet als die anderen, sie wusste das. Aber dass er sie verlassen würde, das hatte sie nicht gewusst. Dass er alles hinter sich lassen wollte und sich einer Spezialeinheit anschließen wollte. Sogar ihr Mann hätte davon nichts gehalten! Absolut gar nicht! Damals, als er in den Krieg gezogen war hatte sein Sohn im hoch und heilig versprechen müssen, sich um seine Mutter zu kümmern! Hatte er das getan? Ja. Aber es war nicht so, als hätte es ihr wirklich geholfen. Sie hatte ihren Mann und ihren Sohn an diese Organisation, an den Krieg verloren. Und sie hatte es unterstützt. Vielleicht sogar provoziert. Nun lag er da. Auf seinem Bett in seinem Kinderzimmer und machte sich Vorwürfe, die vielleicht sogar berechtigt waren. Doch er musste sich nicht Gedanken darum machen, dass er Schuld an irgendetwas hatte. Sie war diejenige, die alles zu verantworten hatte. Er war ein Krüppel, weil sie ihn nicht von seinen blöden Ideen hatte abbringen können. Seine Freunde waren ihm überhaupt nur wichtig geworden, weil sie ihm nicht gesagt hatte, dass er bei ihr bleiben sollte. Alles hatte er aus seinen Erinnerungen verdrängt, weil sie ihn nicht festgehalten hatte. Nur an sich hatte sie gedacht und jetzt war ihr Leben, sein Leben, das Leben seiner Freunde und das Leben ihrer Familien zerstört. Das alles lag in Trümmern und existierte teilweise nicht mehr. Was hätte sie tun können? Er hätte nicht auf sie gehört! Seinen Dickschädel hatte er schon früh ausgebildet und den hatte er von seinem Vater geerbt. Sie hätte es trotzdem versuchen müssen. Dann würde sie sich jetzt keine Vorwürfe machen. Denn dann hätte es nicht in ihren Händen gelegen. Sie müsste keine Gewissensbisse haben. Denn es wäre nicht ihre Schuld gewesen.
In seinem Rollstuhl fuhr er den Gang hinunter bis zu dem großen Fenster, durch welches man auf die Straße schauen konnte. Wenn er seinen Kumpanen folgen wollte, hätte er es längst tun können. Doch Selbstmord war keine Lösung. Egal wie schlimm die Schuld war, die auf einem lastete. Er konnte seine letzte Stärke beweisen, indem er den Gewissensbissen standhielt.